Eine Geschichte der Widersprüche
Von Nico PoppManchmal werden aus der Not heraus ganze Staaten gegründet. Die DDR gab es, weil die westlichen Siegermächte des Zweiten Weltkrieges 1948/49 entschieden hatten, ihre drei Besatzungszonen in Deutschland zu einem Separatstaat zusammenzulegen. Die Sowjetunion, die davor (und auch noch Jahre danach) am Ziel eines einheitlichen, neutralen und entmilitarisierten Deutschlands festgehalten hatte, zog nach, um mit ihrer Deutschland-Politik nicht vollends in die Defensive zu geraten.
Aus dem – von Moskau mehrmals und final 1989/90 zur Disposition gestellten – Provisorium wurde aber mehr: Ein Land, dessen Aufbaugeneration sich daranmachte, zunächst – und noch mit der Orientierung auf Gesamtdeutschland – eine antifaschistisch-demokratische und sodann eine sozialistische Ordnung im Osten Deutschlands zu errichten. Dass in der DDR, die 1949 nicht als sozialistisches Projekt in die Weltgeschichte eintrat, dennoch dieser Weg eingeschlagen wurde, war zwingender als die Gründung des Staates selbst. In der ersten Reihe standen durchweg Männer und Frauen, die aus der 1933 zerschlagenen sozialistischen Arbeiterbewegung kamen, und eine auch nur kurzfristige Koexistenz von zwei nichtsozialistischen Staaten auf deutschem Territorium war nun einmal ein Ding der Unmöglichkeit – auch das hat die Dynamik der Ereignisse von 1989 und 1990 bewiesen.
Die Geschichte der DDR war auf allen Ebenen eine Geschichte der Widersprüche. Freie Entfaltung und administrierende Apparate; Aufbau und Verfall; Ermunterung zur Kritik und Belohnung von Anpassung; breite Förderung von Talenten aus der Arbeiterklasse und eine auffallende Präsenz mittelmäßiger Karrieristen auf den Entscheidungsebenen; eine immer wieder befeuerte Masseninitiative und eine anerzogene Passivität (gerade innerhalb der SED); stürmische Entwicklung und lähmende Stagnation; Internationalismus und Provinzialität; kulturelle Produktivität und politische Interventionen in die künstlerische Produktion – das gab es alles nebeneinander.
Ein solider Begriff von der DDR setzt voraus, sich ihr weder im Modus der Attacke noch dem der Verteidigung zu nähern. Sie ist, im Kleinen wie im Großen, zu erklären, und das macht erforderlich, sich mit dem historischen Material vertraut zu machen. Darum steht es, 35 Jahre nach der Zerstörung des sozialistischen deutschen Staates, nicht sonderlich gut. In den Archiven hat sich nach 1990 vor allem das Personal der staatlich alimentierten »Aufarbeitung« herumgetrieben – ein paar Regalmeter Abrechnungsliteratur sind da entstanden. Die ist nur deshalb konkurrenzlos, weil die kommunistische Linke in Deutschland um 1990 nicht nur organisatorisch, sondern auch intellektuell zusammengebrochen ist – für eine eigenständige und kontinuierliche Bearbeitung des historischen Stoffes fehlen ihr vorläufig die Ressourcen. Und zum Gesamtbild gehört auch, dass die ansonsten verbliebene politische Linke in Deutschland überwiegend antikommunistisch ist und an der DDR gar kein Interesse hat.
All das hat aber nicht verhindert, dass die längst verschwundene DDR 75 Jahre nach ihrer Gründung weiter Gegenstand von Debatten ist. Die sind nicht immer sehr gehaltvoll, zeigen aber, dass das untergegangene Land im Leben von Millionen Menschen Spuren hinterlassen hat. 2023 haben die Autoren einer Leipziger Studie festgestellt, dass die »Herabsetzung und Entwertung des Lebens in der DDR« im politisch-medialen Raum von gerade einmal sieben Prozent der Befragten goutiert wird, die mindestens zehn Jahre in der DDR gelebt haben. Daraus sollte man nicht umstandslos eine politische Sympathie ableiten – auch wenn in derselben Studie bei zwei Dritteln der Befragten eine »Sehnsucht nach der DDR« festgestellt wird. Wohl aber lässt sich daraus schließen, dass eine kritisch-solidarische Befassung mit der DDR ein Publikum vorfindet. Diese kritische Hinwendung zu dem reichen Material, das die DDR hinterlassen hat, bleibt eine politische und historiographische Aufgabe für die kommenden Jahre und Jahrzehnte.
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