Doppelte Standards
Seit 2004 beobachtet der deutsche Inlandsgeheimdienst die Tageszeitung junge Welt. Seither wird das Blatt in den Jahresberichten des Bundesamtes für Verfassungsschutz als einzige Tageszeitung mit einem eigenen Eintrag bedacht. Auf die nachteiligen, nicht zuletzt wettbewerbsrechtlichen Folgen dieser regelmäßigen Nennung haben Redaktion und Verlag in einem offenen Brief an die Fraktionen des Bundestages hingewiesen und sie um eine Stellungnahme gebeten. Die Fraktion Die Linke hat daraufhin mit Datum vom 29. März eine kleine Anfrage an die Bundesregierung gestellt (veröffentlicht auf der Website des Bundestages am 23. April mit der Drucksachennummer 19/28956). Darin wird um Auskunft vor allem zu folgenden Fragen gebeten: Warum wird die junge Welt im Verfassungsschutzbericht als »verfassungsfeindlich« eingestuft? Warum wird sie als »extremistische Gruppierung« eingestuft? Inwieweit und unter welchen Voraussetzungen rechtfertigt ein marxistisches Selbstverständnis einer Publikation deren Überwachung durch den Verfassungsschutz und ihre Nennung als linksextremistische Bestrebungen im Verfassungsschutzbericht? Darf eine staatliche Behörde die politische Haltung einer Tageszeitung bewerten und so Einfluss auf deren Geschäftstätigkeit nehmen?
Die zuständige Behörde, das Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat, antwortete am 5. Mai in Person des Parlamentarischen Staatssekretärs Günter Krings. Die erteilten Antworten sind mit Blick auf das von der Bundesregierung präsentierte Verständnis von Meinungs-, Presse- und Gewerbefreiheit sehr aufschlussreich.
»Gesichert extremistisch«
Auf die Frage, warum junge Welt, Verlag 8. Mai und Genossenschaft im Verfassungsschutzbericht genannt werden, antwortet die Bundesregierung, sie »verfolgen Bestrebungen gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung« bzw. »gesichert extremistische Bestrebungen«. Dieser Einstufung liegen die folgenden »Erwägungen« zugrunde: »Bei der jW handelt es sich um eine eindeutig kommunistisch ausgerichtete Tageszeitung. Ihre marxistische Grundüberzeugung enthält als wesentliches Ziel, die freiheitliche Demokratie durch eine sozialistische/kommunistische Gesellschaftsordnung zu ersetzen.« Für die Bundesregierung ist der Marxismus ein generelles Problem: »Revolutionäre marxistische Grundüberzeugungen basieren auf verschiedenen Aspekten, die sich gegen Grundprinzipien der freiheitlichen demokratischen Grundordnung richten.«
Welche Aspekte richten sich gegen welche Grundprinzipien? Auskunft der Bundesregierung: »Beispielsweise widerspricht die Aufteilung einer Gesellschaft nach dem Merkmal der produktionsorientierten Klassenzugehörigkeit der Garantie der Menschenwürde. Menschen dürfen nicht zum ›bloßen Objekt‹ degradiert oder einem Kollektiv untergeordnet werden, sondern der einzelne ist stets als grundsätzlich frei zu behandeln.«
Abgesehen davon, dass die Bundesregierung hier jeden Nachweis schuldig bleibt, wann und auf welche Weise die junge Welt Menschen zum »›bloßen Objekt‹ degradiert« haben soll, ist das, gelinde gesagt, eine gewagte Argumentation: Nach Ansicht der Bundesregierung verstößt offenbar schon die Feststellung, dass wir in einer Klassengesellschaft leben, gegen die »freiheitliche demokratische Grundordnung«. Gemäß dieser Logik träte jeder Soziologe, der die Position der Menschen innerhalb der Gesellschaft nach objektiven Kriterien (z. B. die Stellung im Produktionsprozess) zu ordnen versucht, die Menschenwürde mit Füßen. Und wenn die Existenz von Klassen gegen die grundgesetzliche Garantie der Menschenwürde verstößt, dann wäre das Eintreten für die klassenlose Gesellschaft, das der jungen Welt an anderer Stelle von der Bundesregierung doch gerade vorgeworfen wird, ganz im Sinne des Grundgesetzes.
»Die marxistische Ausrichtung der jW« sieht die Bundesregierung zudem dadurch belegt, »dass die Zeitung sich mit Ideologien von Klassikern des Marxismus-Leninismus als Grundlage für ihre eigenen Bestrebungen befasst« und »positiv Bezug« nimmt »auf die kommunistischen Vordenker (vor allem Wladimir I. Lenin, Rosa Luxemburg, Karl Liebknecht, Karl Marx und Friedrich Engels).«
Verdächtig macht sich junge Welt nach Auffassung der Bundesregierung auch deshalb, weil ihre »Themenauswahl und Intensität der Berichterstattung« auf die »Darstellung ›linker‹ und linksextremistischer Politikvorstellungen« zielten und sich »am Selbstverständnis der jW als marxistische Tageszeitung« orientierten. Die Schlussfolgerung: »Demzufolge spiegelt die jW auch kein breites Spektrum von verschiedenen Meinungen und Ansichten wider; Gegenstimmen und konträre Meinungen sind in der jW eher selten vertreten. Die Zeitung verbreitet ihre eigene subjektive Wahrheit und will insofern ›Gegenöffentlichkeit‹ schaffen.« Der schwerwiegende Vorwurf: »Die Auswahl der Artikel und Meinungsäußerungen lässt eine bestimmte inhaltliche Linie erkennen.«
Allen Ernstes gerät hier zum Problem, das die Beobachtung durch den Verfassungsschutz rechtfertigt, dass eine Tageszeitung eine »bestimmte inhaltliche Linie erkennen« lasse und kein »breites Spektrum von verschiedenen Meinungen und Ansichten« widerspiegele. Hat man je den Vorwurf vernommen, dass sich die FAZ in ihrem Wirtschaftsteil immerzu auf Vordenker des Neoliberalismus beruft und kaum je auf marxistische Ökonomen? Kommt hinzu, dass die tatsächliche Breite linker Anschauungen, die in jW durch Artikel, Interviews, Kommentare zu finden ist (von linken Sozialdemokraten und Linkspartei über DKP bis Anarchisten, Pazifisten, Humanisten, nationalen Befreiungsbewegungen), aus Sicht der Bundesregierung alles das gleiche ist. Da gibt es nur den einen monolithischen, homogenen »Linksextremismus« ohne jegliche Abstufungen. In der Nacht sind alle Katzen grau.
Die argumentative Logik der Bundesregierung ist bestechend: Die junge Welt ist verfassungsfeindlich, weil sie marxistisch ist. Der Marxismus ist ein Verstoß gegen die »freiheitlich demokratische Grundordnung«, weil er von einer in Klassen gespaltenen Gesellschaft ausgeht, und eine solche Annahme verstößt gegen die Menschenwürde. »Marxisten«, heißt es in der Antwort der Bundesregierung, »haben ein vitales Interesse daran, die Meinungsbildung der Bevölkerung im Sinne der eigenen ideologischen Leitsätze zu fördern, da ein entsprechendes Bewusstsein grundlegende Voraussetzung für die Entwicklung des revolutionären Prozesses, für die ›Formierung des Widerstands‹, ist.« Der erste Teil des Satzes ist eine Binse. Alle politischen Organisationen, Gruppen und Strömungen haben ein Interesse daran, »die Meinungsbildung der Bevölkerung« zu beeinflussen. Doch die hier präsentierte Auffassung riecht nach dem Antikommunismus der bleiernen Adenauer-Ära, und vor allem greift sie weit über den Kasus junge Welt hinaus. Hiermit geraten alle Organisationen, Publikationen etc., die sich auf die eine oder andere Weise auf den Marxismus berufen, unter einen drohenden Generalverdacht der Bundesregierung.
»Ausdrücklich aktionsorientiert«
Nicht nur die inhaltliche Ausrichtung der Zeitung rechtfertigt nach Einschätzung der Bundesregierung ihre Beobachtung durch den Verfassungsschutz, sondern auch der Umstand, dass sie auch für »Aktionen mobilisieren und den Widerstand formieren« wolle: »Die jW informiert nicht nur über Aktivitäten des linksextremistischen Spektrums, sondern sie mobilisiert auch dafür, indem sie gemeinsam mit anderen Linksextremisten Veranstaltungen durchführt, sich an Aktivitäten beteiligt oder dafür wirbt. (…) Die Zeitung bietet damit Linksextremisten nicht nur ein Forum sowie eine Informationsplattform, sondern beteiligt sich selbst aktiv unterstützend an zahlreichen Aktivitäten.« Der Nachweis: »Erstmals bekannte sich die jW 2018 ausdrücklich dazu, dass sie neben ihrer primären journalistischen Arbeit auch ausdrücklich aktionsorientiert handeln will.« (Immerhin wird hier die »primäre journalistische Arbeit« anerkannt.) Was meinen die Antwortgeber damit? Sie berufen sich auf eine Aktionsseite 16 der jW vom 22. September 2018. Darin geht es jedoch unmissverständlich um die Verteilung von Zeitungsexemplaren auf Großveranstaltungen – also um Marketing.
Zur inkriminierten Aktionsorientierung zählt die Bundesregierung auch die von junge Welt jährlich veranstaltete »Internationale Rosa-Luxemburg-Konferenz«, »an der sich überwiegend Linksextremisten aus dem In- und Ausland beteiligen« bzw. die »von zahlreichen linksextremistischen Organisationen und Publikationen unterstützt wird«. Die weitere »Beantwortung zu etwaigen dem linksextremistisch oder linksextremistisch beeinflussten Spektrum zugeordneten Personen« könne »aus Gründen des Staatswohls nicht erfolgen«.
»Unkritische Darstellung von Gewalt«
Im Verfassungsschutzbericht des Jahres 2019 stand zu lesen, die »junge Welt bekennt sich (…) nicht ausdrücklich zur Gewaltfreiheit. Vielmehr bietet sie immer wieder eine öffentliche Plattform für Personen, die politisch motivierte Straftaten gutheißen«. Die Bundesregierung bestätigt in ihrer Antwort auf die kleine Anfrage diese Behauptung: »Die jW veröffentlicht regelmäßig Beiträge, in denen das Thema Gewalt als Mittel im politischen Kampf thematisiert wird. Wiederholt finden sich Rechtfertigungen der Anwendung von Gewalt oder zumindest unkritische Darstellungen. Personen, die politisch motivierte Straftaten befürworten, erhalten eine öffentliche Plattform.« Zum Beispiel gebe es Interviews und Beiträge von Vertretern gewaltbereiter Gruppierungen (ehemaligen Mitgliedern der RAF, kolumbianischen Guerillakommandanten). Die Schlussfolgerung: »Insofern erweckt die jW nachhaltig den Eindruck, eine mögliche Gewaltanwendung durch solche Personen oder Gruppierungen zu tolerieren. Diesem so vermittelten Eindruck tritt sie weder durch eine deutliche Distanzierung noch durch ein Bekenntnis zur Gewaltfreiheit entgegen.« Damit werden an die junge Welt Extrastandards angelegt. Es gibt wohl kaum eine Zeitung, die sich explizit zur Gewaltfreiheit bekennt – schon weil das nicht Aufgabe einer Tageszeitung ist, die nämlich informiert und nicht Steine schmeißt oder schießt. Von keiner bürgerlichen Zeitung wird etwa verlangt, dass sie sich von steineschmeißenden Hongkonger Demonstranten oder bewaffneten syrischen »Rebellen« oder gar vom NATO-Sprecher distanziert, der im Zeitungsinterview für den Krieg plädiert.
Kommt hinzu, dass Beiträge in jW darauf abzielten, »Terrororganisationen als ›Befreiungsbewegungen‹ zu verharmlosen, um Gewalt als legitimes Mittel darzustellen«. Die Bezeichnung »Befreiungsbewegungen« sei »mithin nicht objektiv, sondern tendenziös«. Welche Organisationen wann so bezeichnet wurden, wird nicht erwähnt. Offenbar sucht die Bundesregierung unter Androhung der Nennung im Bericht des Verfassungsschutzes die Übernahme ihrer eigenen Sichtweise auf bewaffnete Widerstandsbewegungen im Ausland zu erzwingen. Zeitungen wie junge Welt sollen angehalten werden, sich diese Wertung zu eigen zu machen, da sie ansonsten als extremistisch gebrandmarkt werden – mit allen sich daraus ergebenden negativen Konsequenzen.
Zusätzliches Indiz für die »extremistischen Bestrebungen« der Zeitung ist nach Auffassung der Bundesregierung die »Art der unkritischen Solidarität mit sozialistischen Ländern autoritärer bzw. diktatorischer Prägung«. In ihrer »fundamentalen Kapitalismuskritik« lehne jW die politische und gesellschaftliche Ordnung der Bundesrepublik »grundsätzlich« ab, »demgegenüber« allerdings »werden sozialistische Staatsordnungen, beispielsweise von Kuba, verherrlichend dargestellt und als politisch und moralisch überlegen«.
»Linksextremistisches Spektrum«
Auf die Frage, wer genau der verfassungsfeindlichen Gruppierung in Form von junge Welt, Verlag 8. Mai und Genossenschaft LPG angehört (Redakteure, Genossenschaftsmitglieder, Abonnenten?), bleibt die Bundesregierung in ihrer Antwort vage: »Für einen Personenzusammenschluss (gemeint ist die junge Welt als verfassungsfeindliches Konstrukt) handelt (und ist damit Verfassungsfeind)« laut Verfassungsschutzgesetz, »wer ihn in seinen Bestrebungen nachdrücklich unterstützt. Eine Zurechnung erfolgt daher nicht abstrakt anhand der Eigenschaft als Redakteur, Mitarbeiter, Genossenschaftsmitglied, Abonnent oder freier Autor, sondern anhand der jeweiligen Unterstützungshandlung.« Genauer ausgeführt wird das nicht.
Und inwieweit geht die Bundesregierung davon aus, dass jW, Verlag und Genossenschaft sich Positionen Dritter zu eigen machen, die Interviews geben, Gastbeiträge oder Leserbriefe schreiben, deren Aufrufe dokumentiert oder Bücher rezensiert werden? Die Antwort: »Die jW versteht sich selbst ausdrücklich als marxistisch orientierte Tageszeitung, was eine klare Zielstellung hinsichtlich der öffentlichen Meinungs- und Bewusstseinsbildung impliziert. Marxisten beabsichtigen nicht nur zu informieren, sondern eine ›Denkweise‹ herauszubilden, um bei den Bevölkerungsgruppen, die sie als Unterdrückte oder Ausgebeutete identifizieren, Verständnis und die Bereitschaft zum Widerstand hervorzurufen.« Belegt und ergänzt wird diese Einschätzung zusätzlich dadurch, dass »einzelne Redaktionsmitglieder, Stamm- und Gastautoren dem linksextremistischen Spektrum zuzuordnen« seien, junge Welt »hinsichtlich der Mobilisierungspolitik mit dem linksextremistischen Spektrum vernetzt« sei, sowie durch »die in verschiedenen Artikeln verbreiteten linksextremistischen Positionen«. Wiederum wird indirekt verlangt, was bei anderen Zeitungen kein Maßstab sein dürfte: »Aufgrund der redaktionellen Auswahlentscheidung in Bezug auf die Autoren und die veröffentlichten Artikel muss sich die jW bzw. deren Redaktion diese Inhalte zurechnen lassen – zumal sich die Zeitung nicht ausdrücklich von diesen Inhalten distanziert.«
»Den weiteren Nährboden entziehen«
Die Fraktion die Linke wollte in ihrer kleinen Anfrage von der Bundesregierung wissen, ob ihr bewusst sei, dass die Nennung im Verfassungsschutzbericht für ein Unternehmen, einen Verlag, eine Zeitung zu wettbewerbsrechtlichen Behinderungen und Einschränkungen der Gewerbefreiheit führen kann und inwieweit dies zulässig ist. Es steht also die Frage im Raum, ob eine staatliche Behörde die politische Haltung einer Zeitung bewerten und so gezielt Einfluss auf deren Geschäftstätigkeit nehmen darf. Die Bundesregierung findet: eindeutig ja! Die Nennung diene dem Zweck, »Verfassungsschutz durch Aufklärung der Öffentlichkeit zu betreiben«. Und kurz darauf: »Stuft das BfV einen Personenzusammenschluss als gesichert extremistische Bestrebung ein und entfaltet diese für einen nicht unerheblichen Teil der Bevölkerung Relevanz und damit eine Wirkmächtigkeit, ist die Öffentlichkeit hierüber zu informieren.« Diese Relevanz und Wirkmächtigkeit hatte die Bundesregierung der jungen Welt zuvor bereits attestiert: »Durch eine der ideologischen Agenda entsprechende Auswahl der Themen und die einseitige Berichterstattung wirkt die jW als Multiplikator von linksextremistischen Positionen. Mit einer nach eigenen Angaben aktuellen Druckauflage von 23.400 Exemplaren (samstags 27.000 Exemplare) erreicht die jW einen großen Adressatenkreis, in dem sie ihre verfassungsfeindlichen Positionen verbreiten kann.«
Potentiell negative wirtschaftliche Konsequenzen werden unumwunden eingeräumt, die wettbewerbsrechtlichen Behinderungen sind letztlich Absicht: »Mögliche Folgen für die hiervon betroffenen extremistischen Personenzusammenschlüsse oder Einzelpersonen hatte der Gesetzgeber dabei im Blick. Es ist gerade das Ziel dieser Norm, die Öffentlichkeit über verfassungsfeindliche Bestrebungen zu informieren, um diesen damit den weiteren Nährboden entziehen zu können.« Indem ein demokratisch nicht kontrollierter Geheimdienst einer Zeitung (oder einer sonstigen Gruppierung) ohne Gerichtsurteil den Stempel »Extremist« verpasst, wird sie zur gesellschaftlichen Ächtung freigegeben.
Kein »Markt der Meinungen«
Im Jahr 2005 urteilte das Bundesverfassungsgericht, dass die Nennung der weit rechtsstehenden Wochenzeitung Junge Freiheit im Verfassungsschutzbericht die Zeitung in ihrem Grundrecht auf Pressefreiheit aus Artikel 5 Absatz 1 Satz 2 Grundgesetz verletzte, denn dieses Grundrecht sichere die Freiheit der Herstellung und Verbreitung von Druckerzeugnissen und damit das Kommunikationsmedium Presse. Durch den Verfassungsschutzbericht würde die Zeitung in ihren Wirkungsmöglichkeiten nachteilig beeinflusst. Potentielle Leser könnten so davon abgehalten werden, die Zeitung zu erwerben und zu lesen. Zudem sei es nicht unwahrscheinlich, dass etwa Inserenten, Journalisten oder Leserbriefschreiber die Erwähnung im Verfassungsschutzbericht zum Anlass nehmen, sich von der Zeitung abzuwenden oder diese zu boykottieren. »Eine solche mittelbare Wirkung der Verfassungsschutzberichte kommt einem Eingriff in das Kommunikationsgrundrecht gleich«, so das Gericht damals.
Die Bundesregierung vertritt die Auffassung, das Urteil sei nicht auf die junge Welt übertragbar. Die beiden Sachverhalte unterschieden sich dahingehend, dass die Junge Freiheit nur als »rechtsextremer Verdachtsfall« durch den Verfassungsschutz in Nordrhein-Westfalen eingestuft worden sei, während die junge Welt aufgrund ihrer »erwiesenen Verfassungsfeindlichkeit als gesichert extremistische Bestrebung« im Verfassungsschutzbericht des Bundes genannt werde. Die Beobachtung durch den Inlandsgeheimdienst stütze sich »gerade nicht allein auf die in der jungen Welt erscheinenden Artikel, sondern vor allem auch auf ihr verfassungsfeindliches Selbstverständnis sowie die Beteiligung bzw. Autorenschaft von extremistischen Einzelpersonen, die für den Personenzusammenschluss handeln.« Bleibt anzumerken, dass die Frage, ob ein Verdachtsfall vorliegt oder das Prädikat »erwiesen extremistisch« ausgestellt wurde, im Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Jungen Freiheit keine entscheidende Rolle spielte.
Der extrem rechten Jungen Freiheit wurde in dem Urteil zugestanden, als »Markt der Meinungen« ein Spektrum von rechtskonservativ bis völkisch-faschistisch abzubilden; diese Auffassungen könnten daher nicht alle der Redaktion untergeschoben werden, auch wenn diese sich nicht davon distanziere. Genau das will die Bundesregierung der jungen Welt nicht einräumen: »Sie versteht sich gerade nicht als ›Markt der Meinungen‹, sondern die Auswahl der Artikel und Meinungsäußerungen lässt eine bestimmte inhaltliche Linie linksextremistischer Natur erkennen«, heißt es gleich an zwei Stellen. Alle in der Zeitung vertretenen Auffassungen werden unter den Oberbegriff »Marxismus« bzw. »Linksextremismus« subsumiert. Wieder einmal das Messen mit zweierlei Maß.
Vorbereitung zur Gesinnungsjustiz
Die Antwort der Bundesregierung sollte wachrütteln. Sie vertritt darin eine Position, den Marxismus pauschal und so eindeutig unter Generalverdacht zu stellen, wie das in der Geschichte der Bundesrepublik noch nicht vorgekommen ist. Die dort präsentierte Haltung könnte dereinst als Material für eine Gesinnungsjustiz dienen, die nicht nur die junge Welt betreffen würde, sondern gleich alle Publikationen und Organisationen, die sich, auf welche Weise auch immer, auf den Marxismus berufen. An die junge Welt als linke Zeitung werden von der Bundesregierung andere Maßstäbe angelegt als an bürgerliche, religiöse, rechtsextreme etc. Medien, was die Distanzierung von Gewalt oder von Auffassungen ihrer Autoren und Interviewpartner angeht.
Die Bundesregierung und ihr Geheimdienst verdächtigen gleich alle, Verfassungsfeinde zu sein: Die Mitarbeiter von Verlag und Redaktion der jungen Welt, die Genossenschaftsmitglieder, Besucher und Gäste der Rosa-Luxemburg-Konferenz, die Autoren der Zeitung und selbst die Leserinnen und Leser, die Abonnentinnen und Abonnenten. Denn wer die junge Welt als verfassungsfeindliches Konstrukt in ihren Bestrebungen nachdrücklich unterstützt, macht sich selbst zum Verfassungsfeind: Die Zurechnung erfolge dabei nicht abstrakt, sondern konkret anhand der jeweiligen Unterstützungshandlung des Redakteurs, des Mitarbeiters, des Genossenschaftsmitglieds, des Lesers, des Unterstützers, des Abonnenten oder des freien Autors. Die Antworten der Bundesregierung auf die kleine Anfrage der Partei Die Linke demonstrieren eindrucksvoll, was die Bundesregierung tatsächlich von Presse- und Meinungsfreiheit hält.
Appell für Presse- und Meinungsfreiheit
In großer Sorge um die Pressefreiheit in diesem Land wenden sich Verlag, Redaktion und Genossenschaft der in Berlin erscheinenden Tageszeitung junge Welt an die deutsche und internationale Öffentlichkeit. Als einzige Tageszeitung in der Bundesrepublik steht die junge Welt unter Dauerbeobachtung durch den Inlandsgeheimdienst. Seit dem Jahr 2004 wird sie regelmäßig im Verfassungsschutzbericht des Bundes im Kapitel »Linksextremismus« aufgeführt und dort als »Gruppierung« eingestuft, die angeblich »verfassungsfeindliche Ziele« verfolgt. Nun handelt es sich bei der jungen Welt nicht um eine politische Organisation, sondern um ein journalistisches Produkt. Wir sehen einen handfesten politischen Skandal darin, dass eine staatliche Behörde sich anmaßt, eine unabhängige Zeitung in dieser Weise an den Pranger zu stellen, weil ihr bestimmte Inhalte nicht gefallen.
In einem offenen Brief an alle Bundestagsfraktionen hatten Redaktion, Verlag und Genossenschaft Mitte März 2021 diesen drastischen Eingriff in die Presse- und Meinungsfreiheit beklagt. Sie wiesen zudem auf »erhebliche Nachteile im Wettbewerb« hin, die der jungen Welt aus der Nennung im VS-Bericht erwachsen. So verweigern die Deutsche Bahn und verschiedene Kommunen und Radiosender unter Verweis auf den Verfassungsschutz-Eintrag das Anmieten von Werbeplätzen, Bibliotheken sperren den Onlinezugang zur Zeitung, und eine Druckerei weigerte sich, eine andere Druckschrift mit einer Anzeige der jungen Welt herzustellen. In Reaktion auf unser Schreiben wandte sich die Bundestagsfraktion der Partei Die Linke mit einer kleinen Anfrage (BT-Drucksache 19/28956) an die Bundesregierung, um sich im Detail nach den Gründen für die geheimdienstliche Beobachtung der jungen Welt und deren Nennung im VS-Bericht zu erkundigen.
Die Antwort der von Union und SPD geführten Regierung vom 5. Mai 2021 muss beunruhigen, liefert sie doch Argumente für eine sehr weitgehende Einschränkung bürgerlicher Freiheitsrechte, die alle fortschrittlichen Kräfte in diesem Land betreffen. Die Bundesregierung rechtfertigt ihre Eingriffe mit der »verfassungsfeindlichen« weltanschaulichen Orientierung der jungen Welt: »Themenauswahl und Intensität der Berichterstattung zielen auf Darstellung ›linker‹ und linksextremistischer Politikvorstellungen und orientieren sich am Selbstverständnis der jW als marxistische Tageszeitung.« Weiter heißt es, »die Aufteilung einer Gesellschaft nach dem Merkmal der produktionsorientierten Klassenzugehörigkeit (widerspreche) der Garantie der Menschenwürde«. In klaren Worten führt die Bundesregierung aus, dass es ihr darum geht, Relevanz und »Wirkmächtigkeit« der jungen Welt einzuschränken. Das Stigma der Nennung in den VS-Berichten diene auch dem Zweck, »verfassungsfeindlichen Bestrebungen (…) den weiteren Nährboden entziehen zu können«. Um die Reichweite der Zeitung einzuschränken, werden ihre ökonomischen Grundlagen also bewusst angegriffen. Die Bundesregierung kriminalisiert eine Weltanschauung in einer Weise, die an Gesinnungsterror und damit an finsterste Zeiten des Kalten Krieges erinnert. Während sie vermeintliche oder tatsächliche Einschränkungen bürgerlicher Freiheitsrechte in Staaten wie Russland, China oder Kuba wortreich beklagt, werden hierzulande unverschleiert vordemokratische Standards etabliert.
Wir appellieren an die kritische Öffentlichkeit, sich dieser von obrigkeitsstaatlichem Denken geleiteten Einschränkung demokratischer Grundrechte zu widersetzen. Wir bitten Sie: Studieren Sie gründlich die Antwort der Bundesregierung! Fordern Sie Ihre demokratisch gewählten Bundestagsabgeordneten auf, dazu Stellung zu nehmen! Zeigen Sie sich solidarisch mit der Tageszeitung junge Welt – auch im eigenen Interesse! Verlag, Redaktion und Genossenschaft werden sich nicht einschüchtern lassen und auch weiterhin alles dafür tun, dass eine relevante linke Tageszeitung auf dem Markt verfügbar bleibt.
Berlin, 7. Mai 2021
Die komplette Antwort der Bundesregierung auf die kleine Anfrage der Bundestagsfraktion der Partei Die Linke (BT-Drucksache 19/28956) lässt sich hier einsehen: https://www.jungewelt.de/downloads/antwort_br_anfrage_linke.pdf