Raus aus der Defensive
Von Felix BartelsSeit 2004 beobachtet der deutsche Inlandsgeheimdienst die marxistische Tageszeitung junge Welt. Seither wird das Blatt in den Jahresberichten des Bundesamtes für Verfassungsschutz als einzige Tageszeitung mit einem eigenen Eintrag bedacht. Auf die nachteiligen, nicht zuletzt wettbewerbsrechtlichen Folgen dieser regelmäßigen Nennung haben Redaktion und Verlag in einem offenen Brief an die Fraktionen des Bundestages hingewiesen und sie um eine Stellungnahme gebeten. Die Fraktion Die Linke hat daraufhin mit Datum vom 29. März eine kleine Anfrage an die Bundesregierung gestellt. Die zuständige Behörde, das Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat, antwortete am 5. Mai in Person des Parlamentarischen Staatssekretärs Günter Krings. Die erteilten Antworten lassen ein sehr spezielles Verständnis von Meinungs-, Presse- und Gewerbefreiheit erkennen.
Diese Zeitung hat in der Folge umfassend über die Angelegenheit berichtet. Das warf auch grundsätzliche Fragen auf, etwa zum Verhältnis von Marxismus und Verfassungsfeindlichkeit beziehungsweise: Wie halten es Marxisten in diesem Land mit dem Grundgesetz? Zum Jahrestag der am 23. Mai 1949 erlassenen Verfassung der Bundesrepublik Deutschland diskutieren dazu an dieser Stelle Felix Bartels und Martin Kutscha. (jW)
Eine Tageszeitung, die es mit dem Marxismus und seinen politischen Zielen hält, wird von einem Staat, dessen Einrichtung diesen Zielen unvermeidlich im Weg steht, als feindlich eingestuft. Das Amt für Verfassungsschutz observiert. Die Zeitung protestiert. Ich verstehe das. Sie hat die Pflicht, auch morgen noch da zu sein und sich also gegen wirtschaftliche und politische Schädigung zu schützen. Und natürlich bleibt sie eine Zeitung, eine Einrichtung also, die vermittels Worten kämpft. Doch was bedeutet das denn eigentlich, Verfassungsfeindlichkeit?
Vielleicht ist es ein Fehler, aber ich bringe nicht fertig, einem politischen Feind zu verübeln, dass er nach Maßgabe seiner Zwecke handelt. Ich verüble ihm die Zwecke selbst. Doch dass er sie klar erkennt und befolgt, hat Ordnung. Ich möchte einfach nicht darüber jammern, dass er mich bekämpft. Ich täte an seiner Stelle dasselbe. Unsere Feindschaft ist objektiv. Das macht einen Grund zu kämpfen, nicht zu klagen. Ich lege so viel Gewicht auf diese Nuance, weil ich sie in der Berichterstattung der jungen Welt etwas vermisst habe.
Sicher kann man das Kalkül zerpflücken, dessen das Bundesministerium sich zur Rechtfertigung seiner Einstufung bedient. Das ist auf den Thema-Seiten auch ausführlich passiert (»Doppelte Standards«, jW vom 8. Mai 2021), etwa in der trefflichen Bemerkung der Autoren, dass nach Auffassung der Behörde die Feststellung, dass wir in einer Klassengesellschaft leben, die Menschenwürde verletzt, die Tatsache, dass wir darin leben, aber nicht.
Sinnvoll in solchen Lagen auch: das Ausnutzen doppelter Standards. Man zeigt, dass die Ideale, die der politische Gegner sich selbst aus Gründen der Distinktion und Propaganda zuschreibt, ungefähr so haltbar sind wie ein Joghurt in der Sonne. Stefan Huth weist darauf hin, dass dieselbe Regierung, die die junge Welt an der Ausübung ihrer Tätigkeit hindert, im Fall von China, Russland und Kuba »großzügig Kritik und gute Ratschläge« erteilt, wie das mit der Pressefreiheit so zu handhaben sei (»Der Staat gegen junge Welt«, jW vom 8. Mai 2021). Jener liberale Spielraum, den Länder wie die Bundesrepublik sich leisten, ist keine genuine oder idealtypische Eigenschaft der Gesellschaften mit kapitalistischer Produktionsweise, sondern lediglich der wenigen Staaten, die auf deren Sonnenseite liegen. Der Hinweis, dass die kategorischen Imperative der bürgerlichen Gesellschaft gar keine sind, erweist sich als wichtig, weil man hierzulande auf diesen Idealen die Überzeugung sittlicher Überlegenheit gegen Autokratien und andere Staatsformen aufbaut.
Gleichwohl bleibt mir das alles zu sehr mit der Wand im Rücken gesprochen. Wir leben nicht mehr in den Neunzigern. Zbigniew Brzezinski hat sein großes Schachspiel verloren, Francis Fukuyamas Ende der Geschichte ist zu Ende. Man muss raus aus der Defensive. Erst recht vor dem Hintergrund, dass es in der Linken letzthin schwer in Mode kam, auch ein wenig Opfer zu sein. Opfer sein aber macht noch kein sittliches Zeugnis, mithin keine Leistung.
Ich finde es seltsam, den Vorwurf zu lesen, das Ministerium stelle mit seiner Auskunft »den Marxismus pauschal und so eindeutig unter Generalverdacht (…), wie das in der Geschichte der Bundesrepublik noch nicht vorgekommen ist« (»Doppelte Standards«, jW vom 8. Mai 2021). Wer Marx sagt, sagt Kommunismus, wer Kommunismus sagt, muss Sozialismus sagen.
Vergesellschaftung der Produktion also, Volkseigentum, das nie anders denn in Form des Staatseigentums realisiert werden kann. Sozialismus ist ohne Bodenreform und umfassende Enteignung der gegenwärtig besitzenden Klasse nicht denkbar. Diese Akte müssen in einer Verfassung verankert werden. In welcher Form auch immer eine Beseitigung des Kapitalismus passieren wird, sie ist ohne eine gründliche Überarbeitung der Verfassung nicht möglich. So hätte zum Beispiel der Artikel 15 des Grundgesetzes die Vergesellschaftung von Grund und Boden, Naturschätzen und Produktionsmitteln nicht lediglich zu erlauben (wie gegenwärtig), sondern ausdrücklich vorzuschreiben.
Und auch über die rahmengebenden Artikel 14 und 15 hinaus machte eine sozialistische Gesellschaft den Umbau der Verfassung nötig. Dass die Wohnung unverletzlich ist (Art. 13), muss auch bedeuten, dass sie dem Bewohner nicht genommen werden und keiner anderen Privatperson gehören darf. Ehe und Familie (Art. 6) müssen getrennt behandelt und definiert werden. Bei den Eigenschaften, nach denen kein Mensch bevorzugt oder benachteiligt werden soll (Art. 3), müsste neben Rasse, Religion, Geschlecht usf. auch finanzielles Vermögen stehen. Und diese Art Umbau des Grundgesetzes würde sich zwangsläufig auch auf alle anderen Gesetzestexte sowie den Bau und die Abläufe des Staates auswirken.
Hier ist nicht der Ort, das im einzelnen zu diskutieren, auch wenn sich damit ein Meer von offenen Fragen auftut. Für heute will es mir bloß darum gehen: Marxisten sind zwangsläufig Gegner des bestehenden Grundgesetzes. Nicht jedes einzelnen seiner Artikel, nicht einmal von deren Mehrzahl. Aber das Grundgesetz muss erweitert werden um Elemente, die den sozialistischen Systemcharakter bestimmen bzw. absichern. Es muss befreit werden von alten Elementen, die den Neuerungen widersprechen und den Charakter der kapitalistischen Formation tragen. Und manches muss einfach auf den kulturellen Stand unserer Zeit gebracht werden.
Der politische Betrieb der Bundesrepublik profitiert davon, im Ausdruck »Verfassungsfeinde« den Unterschied zwischen dem Abbau von Grundrechten und ihrem Ausbau zu verwischen. Jede Abweichung vom gegebenen Stand gilt ihm gleich. Marxistische Organe oder Personen, die sich dem Anwurf der Verfassungsfeindlichkeit ausgesetzt sehen, scheinen mir besser beraten, diese Differenz in den Abweichungen herauszustellen, als damit, den Vorwurf, man wolle die Verfassung ändern, zurückzuweisen.
Felix Bartels ist Publizist. An dieser Stelle schrieb er zuletzt am 11. November 2020 über die letzten Tage der präsidialen Amtszeit von Donald Trump: »The Sound of Silence«