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Seehofer jetzt Verdachtsfall?

Brachialrhetorik gegen links, Zurückhaltung gegen rechts: Bundesamt für Verfassungsschutz stellt Bericht vor. Der Innenminister verheddert sich
Von Michael Merz
»Dann wäre ich auch Verfassungsfeind!« entfährt es Horst Seehofer (CSU), BfV-Präsident Thomas Haldenwang hilft ihm aus der Patsche (Berlin, 15. Juni)

Am Dienstag wurde der deutschen Staatsarithmetik mit ihren angeblich gleichmäßig verteilten Gefährdungslagen rechts und links erneut Geltung verschafft: Die imaginierte »bürgerliche Mitte« bekam vom Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) dessen Bericht für das Jahr 2020 serviert. Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) konnte zunächst nicht umhin, »Rechtsextremismus und Antisemitismus« als größte Bedrohung für die Sicherheit zu bezeichnen. Diese habe sich durch die Coronapandemie weiter verstärkt. Nach dem rassistischen Attentat von Hanau habe die Bundesregierung entschlossen reagiert, so Seehofer, er habe drei »rechtsextremistische« Vereine verboten. Die »neue Rechte« gebe zudem Neonazis einen »pseudointellektuellen Anstrich« – im Bericht sind Publikationen wie Compact und Organisationen wie »Identitäre« oder »Ein Prozent« aufgeführt, allerdings nur als »Verdachtsfall«. Martina ­Renner, Sprecherin für Antifaschismus der Fraktion Die Linke im Bundestag, kommentierte nach der Vorstellung des Berichts: »Mehr als zwanzig Jahre nach Gründung des neurechten ›Instituts für Staatspolitik‹ hat auch das BfV dessen Rolle für die extreme Rechte erkannt.« Wenn so dessen »Wellenbrecherfunktion« aussehe, dann »wundere ich mich nicht über den seit Jahren anhaltenden Aufschwung der extremen Rechten«, so Renner weiter.

Der Präsident des BfV, Thomas Haldenwang, ergänzte Seehofers Aussage, dass Neurechte »zusammen mit einer Partei, deren Namen ich hier nicht nennen möchte«, agierten. Er meinte die AfD. Bezüglich der »Gesamtpartei« sei aber ein Rechtsstreit anhängig – »das Verwaltungsgericht verpflichtet mich zum Stillschweigen«, so Haldenwang. Der Vorgänger des jetzigen Präsidenten, Hans-Georg Maaßen, längst in stramm rechten Gefilden unterwegs, wurde von Seehofer gegen Kritik in Schutz genommen. Haldenwang gab sich erneut verschlossen: »Über Einzelpersonen rede ich heute nicht.«

Umso auskunftsfreudiger wurde der BfV-Präsident beim »Linksextremismus«. Hier nannte er einen Namen – Lina E.; gegen die Studentin aus Leipzig wurde im Mai Anklage erhoben. Sie wird verdächtigt, Anführerin einer Gruppe zu sein, die Neonazis angegriffen habe. Überhaupt, der »Linksextremismus«: Es habe 2020 fünf versuchte Tötungsdelikte gegeben, »erneut angestiegene Brutalität und Gewaltbereitschaft«, 34 Prozent mehr Gewalttaten. Detailverliebt ging Haldenwang auf den Überfall durch bisher Unbekannte auf einen Neonazi ein; dessen »schwere Verletzungen« seien ein »immer wiederkehrendes Muster«. Auch Umweltschützer wie die Besetzer des Dannenröder Forsts werden im selben Atemzug genannt – »nur durch einen beherzten Sprung« hätten sich Polizisten vor einem fallenden Baum retten können.

Zur Beobachtung der jungen Welt, der auch im aktuellen BfV-Bericht wieder eine ganze Seite gewidmet ist, entspann sich am Dienstag ein aufschlussreicher Dialog. Der Journalist Hans Jessen fragte danach und bezog sich auf die kürzlich durch das Innenministerium beantwortete Anfrage der Bundestagsfraktion von Die Linke. Aus Sicht des Ressorts (und damit der Regierung) sei jW verfassungsfeindlich, weil sie von der Existenz von Klassen ausgehe. Seehofer, sichtlich überrascht von der Antwort seines Ministeriums, entfuhr es lachend: »Dann wäre ich auch Verfassungsfeind!« Er verwende zwar nicht den Begriff Klassengesellschaft, aber »die Spaltung in unserer Gesellschaft« sei ja »vollkommen unbestritten«. Haldenwang half ihm aus der Patsche, jW trete für die »Errichtung einer sozialistischen, kommunistischen Gesellschaft ein«, das sei »im Kern der Grund für die Einstufung«. Auf die Nachfrage, warum die Verteilung von Zeitungen als »aktionistische Form« gelte, wiegelte Seehofer ab: »Damit wir uns nicht verheddern«, müsse der »Gesamtkontext« betrachtet werden.

Zu den immer wieder öffentlich gewordenen Fällen neonazistischer Umtriebe in Polizeien der Länder und in der Bundeswehr kam bei der Präsentation in Berlin auffällig wenig. Es handele sich um eine »sehr, sehr kleine Teilmenge der Beschäftigten im öffentlichen Dienst«, so Haldenwang.

Wie eifrig allerdings das Bedrohungsszenario durch progressive Projekte zelebriert wird, lässt sich praktisch ab Mittwoch wieder in Berlin-Friedrichshain erleben. Dort wird für zwei Tage der Ausnahmezustand ausgerufen, um einer Londoner Briefkastenfirma eine »Brandschutzbegehung« im von Linken bewohnten Haus »Rigaer 94« (R 94) zu ermöglichen. Hunderte Polizisten sperren die Straßen, patrouillieren mit schwerem Gerät und in Kampfmontur. In einer Mitteilung an Eltern warnte die Leiterin einer Grundschule am Montag vor bevorstehenden Polizeieinsätzen, bei Kindern könne es auf dem Schulweg zu Angsterlebnissen kommen. Dass es bei dem wiederholten Polizeiaufmarsch nicht um Brandschutz geht, damit hält selbst der verfassungsschutzpolitische Sprecher der Berliner SPD, Tom Schreiber, nicht hinterm Berg: Die »Räumung der R 94« müsse vorbereitet werden, kündigte er Ende vergangener Woche in Springers B.Z. an, dann werde es »Ruhe im Kiez« geben. Der Feind steht eben links.

Mehr zur Beobachtung der jungen Welt durch den Verfassungschutz erfahren sie hier: https://www.jungewelt.de/pressefreiheit/

Seit 2004 beobachtet der deutsche Inlandsgeheimdienst die marxistische Tageszeitung junge Welt. Seither wird das Blatt in den Jahresberichten des Bundesamtes für Verfassungsschutz als einzige Tageszeitung mit einem eigenen Eintrag bedacht. Auf die nachteiligen, nicht zuletzt wettbewerbsrechtlichen Folgen dieser regelmäßigen Nennung haben Redaktion und Verlag in einem offenen Brief an die Fraktionen des Bundestages hingewiesen und sie um eine Stellungnahme gebeten. Die Fraktion Die Linke hat daraufhin mit Datum vom 29. März eine kleine Anfrage an die Bundesregierung gestellt. Die zuständige Behörde, das Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat, antwortete am 5. Mai in Person des Parlamentarischen Staatssekretärs Günter Krings. Die erteilten Antworten lassen ein sehr spezielles Verständnis von Meinungs-, Presse- und Gewerbefreiheit erkennen.

Mehr auf: https://www.jungewelt.de/keinmarxistillegal/