75 Ausgaben junge Welt für 75 €
Gegründet 1947 Dienstag, 2. Juli 2024, Nr. 151
Die junge Welt wird von 2819 GenossInnen herausgegeben
75 Ausgaben junge Welt für 75 € 75 Ausgaben junge Welt für 75 €
75 Ausgaben junge Welt für 75 €
04.06.2024 19:30 Uhr

Marxismus im Visier

Die Feststellung, dass es Gesellschaftsklassen gibt, verstößt nach Ansicht des Verfassungsschutzes gegen das Grundgesetz
Von Nick Brauns
Arbeit gegen Kapital: Wer die Gesellschaft so analysiert, ist aus Sicht der Bundesregierung Verfassungsfeind (Illustration von 1930 zu Karl Marx’ »Kapital«)

Der Inlandsgeheimdienst ist seit vielen Jahren gegen die junge Welt aktiv: Sie sei zusammen mit Verlag und Genossenschaft ein »Personenzusammenschluss« zum Umsturz der gesellschaftlichen Verhältnisse, lautet die Begründung. Beweise für diese ungeheuren Beschuldigungen liefert er aber weder in den Verfassungsschutzberichten noch in den bislang eingereichten Unterlagen im Verfahren des Verlages 8. Mai GmbH gegen die Bundesrepublik. Auch in der Antwort der Bundesregierung auf eine parlamentarische Anfrage der Linksfraktion vom Frühjahr 2021 fehlen sie.

Behauptet wird, dass »einzelne Autoren und Redaktionsmitglieder« dem »linksextremistischen« Spektrum zuzuordnen seien. Einer der Belege: Der Chefredakteur der jW sei biertrinkend auf einem UZ-Pressefest gesehen worden. Zudem unterhalte die Zeitung ein »Aktionsbüro«. Das ist zwar für Abo­werbeaktionen auf Demonstrationen und Messen zuständig, wird aber als Beleg dafür gesehen, dass es umstürzlerische Absichten gäbe.

Hinzu komme, dass sich die jW »nicht ausdrücklich zur Gewaltfreiheit« bekenne. Belegt wird das unter anderem damit, dass »ausländische Terrororganisationen« wie Guerillagruppen in Lateinamerika zu »Befreiungsbewegungen« umgedeutet würden. Die junge Welt strebe zudem eine Diktatur des Proletariats an, behauptet der Geheimdienst. Auf die Entgegnung, bei der jW handelt es sich nicht um eine Organisation zum Umsturz, sondern um ein journalistisches Produkt, wird erwidert: Die Absichten ergäben sich aus der Berichterstattung zu Kuba, der Haltung zur DDR, aber auch daraus, dass die Zeitung den gescheiterten Juan Guaidó als »Möchtegernpräsidenten Venezuelas« darstelle.

Im Mittelpunkt der Vorwürfe steht allerdings wie schon im KPD-Verbotsverfahren vor rund 70 Jahren der auch der jW als Kompass dienende Marxismus als Methode zum Erkennen und Beschreiben von hiesigen wie weltweiten Vorgängen. Aus Artikeln gehe hervor, dass die Zeitung »von einem bestehenden Klassenkampf ausgehe« und die Verhältnisse für veränderbar halte. Schon die – auch von einer Vielzahl bürgerlicher Sozialwissenschaftler geteilte – Erkenntnis von der Existenz unterschiedlicher Gesellschaftsklassen verstoße gegen das Grundgesetz. »Beispielsweise widerspricht die Aufteilung einer Gesellschaft nach dem Merkmal der produktionsorientierten Klassenzugehörigkeit der Garantie der Menschenwürde. Menschen dürfen nicht zum ›bloßen Objekt‹ degradiert oder einem Kollektiv untergeordnet werden, sondern der einzelne ist stets als grundsätzlich frei zu behandeln«, behauptet die Bundesregierung auf parlamentarische Anfrage.

Selbst der von einem Journalisten bei Vorstellung des Verfassungsschutzberichts im Jahr 2021 auf diesen Unsinn angesprochene damalige Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) zeigte sich von dieser Einschätzung aus seinem Hause irritiert. »Dann wäre ich auch Verfassungsfeind!« entfuhr es ihm lachend. Er verwende zwar nicht den Begriff Klassengesellschaft, aber »die Spaltung in unserer Gesellschaft« sei ja »vollkommen unbestritten«.

Spende für den jW-Prozesskostenfonds!

junge Welt wehrt sich gegen die Beobachtung durch den Verfassungsschutz:

Kontoinhaberin: Verlag 8.Mai GmbH

IBAN: DE25 1005 0000 0190 758155

Stichwort: Prozesskosten

Siehe auch: Pressefreiheit vor Gericht von Nick Brauns