Neues aus der Grauzone
Von Arnold SchölzelIn den 70er Jahren definierte der Jurist Jürgen Seifert die Bundesrepublik als einen »Rechtsstaat mit Grauzonen«. Gemeint war: Es gebe eine Tendenz zur »Nebenverfassung« dadurch, »dass Einrichtungen der Exekutive in immer größerem Ausmaß sich Befugnisse anmaßen oder kraft Gesetz Befugnisse erhalten, Sonderbehandlungen oder Maßregelungen durchzuführen, die die Grundrechte in ihrer Substanz bedrohen«. Das Grundgesetz bleibe dabei formal unangetastet, seine Freiheitsrechte würden »als Schutzwälle« gefeiert, während Regierung und Apparat sie durchlöcherten.
Das Urteil des Berliner Verwaltungsgerichts, die Tageszeitung junge Welt habe die Nennung in Berichten des Bundesamtes für Verfassungsschutz (VS) hinzunehmen, stammt aus jener »Grauzone des Rechts«, in der VS und Richter mit Begriffen hantieren, für die es keine Legaldefinition, keine durch ein Gesetz gegebene Begriffsbestimmung, gibt, also letztlich Willkür herrscht. Das betrifft »Extremismus« ebenso wie »Freiheitliche demokratische Grundordnung«, die zum Beispiel 2021 im »Handwörterbuch des politischen Systems« als Begriff »von bedauerlicher Unschärfe geprägt« bezeichnet wird.
In der staatlichen Praxis resultierte aus der ungeschriebenen Nebenverfassung immer wieder ein »vorverlegter Staatsschutz«, der mit Rechtsstaatlichkeit nichts zu tun hat. Das betrifft Gummiparagraphen wie den 129 im Strafgesetzbuch, der von1871 bis 1945 in erster Linie gegen die Arbeiterbewegung und deren Presse durch Kriminalisierung als »staatsfeindliche Verbindungen« eingesetzt wurde. Bereits 1949 beschloss die Bundesregierung, die KPD verbieten zu lassen und schuf sich bis zum Antrag 1951 ein passendes juristisches Instrumentarium. Die Gründung des VS – einer im Vergleich mit anderen westlichen Ländern formal einmaligen, für »hoheitlichen Verruf« (Jürgen Seifert) zuständigen Behörde – gehörte ebenso dazu wie das sogenannte »Blitzgesetz« von 1951, das aus dem »Landesverratsgesetz« von 1934 abgeschrieben war, und bis 1958 zu 200.000 Ermittlungsverfahren und rund 10.000 Urteilen vorwiegend gegen Kommunisten und Friedensaktivisten führte. Das jetzige Urteil knüpft daran an.
Auch in anderer Hinsicht. Dem Verbot der KPD 1956 ging 1952 das Verbot der nazistischen, von VS-Leuten durchsetzten SRP voraus. Im Verbotsurteil berief sich das Bundesverfassungsgericht erstmals auf die »Freiheitliche demokratische Grundordnung« – Vorstufe und Feigenblatt fürs KPD-Verbot. Zwei Tage vor dem Urteil gegen jW wurden die Unternehmen des Faschisten Jürgen Elsässer, die zu politischen Organisationen umdefiniert wurden, unter Berufung aufs Vereinsrecht verboten. Um ähnliche Umdefinition bemüht sich der VS auch im Fall jW. Elsässer hatte es übrigens 1997 im Jungle-World-Putsch fast geschafft, jW zu beseitigen. Seit seinem Scheitern taucht die Zeitung im VS-Bericht auf. Eine Grauzone.