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22.07.2024 14:46 Uhr

Reaktionen auf das Urteil im jW-Prozess

Politiker und Kommentatoren verschiedener Zeitungen besorgt um Pressefreiheit
Von Nick Brauns

Der Inlandsgeheimdienst darf die Tageszeitung junge Welt in seinen Verfassungsschutzberichten als linksextremistisch benennen – mit den damit verbundenen Einschränkungen der Presse- und Gewerbefreiheit. Das hat das Verwaltungsgericht Berlin am Donnerstag im Verfahren Verlag 8. Mai GmbH gegen Bundesrepublik Deutschland aufgrund der marxistischen Orientierung der Zeitung geurteilt. Der Prozess rief eine Reihe von kritischen Reaktionen in Politik und Medien hervor.

»Ich sehe nicht, dass die Erwähnung eines Publikationsorgans in einem Verfassungsschutzbericht irgendeinen Sinn ergibt«, hatte Bundestagsvizepräsident Wolfgang Kubicki noch vor Urteilsverkündigung gegenüber der Berliner Zeitung deutlich gemacht. Mündige Bürger benötigten keine amtliche Interpretation von öffentlich zugänglichen Texten. »Der exekutive Tenor ›Lest das nicht, das ist extremistisch‹ passt nicht in einen freiheitlichen Rechtsstaat«, so der FDP-Politiker. Das Urteil leiste Pressefreiheit und Demokratie einen Bärendienst, erklärte die außenpolitische Sprecherin der BSW-Gruppe im Bundestag, Sevim Dagdelen, kritische Berichterstattung über Krieg und Kapitalismus müsste zur politischen Willensbildung verteidigt werden. Von einem »schweren Eingriff in die Pressefreiheit« sprach der Parlamentarische Geschäftsführer der Linke-Fraktion im Berliner Abgeordnetenhaus, Niklas Schrader, auf Nachfrage gegenüber der Berliner Zeitung. »Publikationen wie die junge Welt mag man radikal oder skurril finden, eine Gefahr für unsere Demokratie sind sie nicht.« Weitere Reaktionen aus der Linkspartei und ihrer Bundestagsgruppe sind bislang nicht bekannt geworden.

Wenn eine Zeitung strafrechtlich relevante Inhalte verbreite, sei dies ein Fall für die Justiz, im regelmäßigen Fall sei auch eine Einstufung als kriminelle Vereinigung zu prüfen, kommentierte der parlamentarische Geschäftsführer der Berliner AfD-Fraktion, Ronald Gläser, am Freitag das Urteil. Dass aber alleine die regelmäßige Veröffentlichung von »marxistischem Blödsinn« den Verfassungsschutz auf den Plan rufe, zeige, »wie sehr dieser Geheimdienst seinen eigentlichen Auftrag mittlerweile ausgedehnt hat«. In keiner anderen westlichen Demokratie gebe es einen Inlandsgeheimdienst, der Medienerzeugnisse bewerte und beobachte. Der Rechtsaußenpolitiker forderte eine Zurechtstutzung des Verfassungsschutzes auf seine Kernaufgabe oder seine Abschaffung.

Ähnlich argumentierte Deniz Yücel in der Welt. »Zur Freiheit des Wortes gehört auch die Freiheit des dummen Wortes«, so der Korrespondent, der in außenpolitischen Standpunkten der jungen Welt und der am Dienstag vom Bundesinnenministerium verbotenen faschistischen Zeitschrift Compact bezüglich Israel, den USA und Russland Parallelen zu erkennen glaubte. Pressefreiheit gelte aber auch für »abwegige, verstörende und – ja, auch das – radikale Ansichten«. Grundsätzliche Kritik am Kapitalismus sei dabei nicht nur legitim, sondern auch durch das Grundgesetz geschützt. Im Falle von Volksverhetzung oder Gewaltaufrufen gebe es rechtliche Mittel, und sollten sich solche systematisch häufen, bliebe als letztes Mittel ein Verbot. »Aber solange dies bei der jungen Welt so wenig der Fall ist wie bei Compact, muss die Demokratie diese Publikationen aushalten.« Ronen Steinke, der sich nach einem Besuch der jW-Redaktion vor einer Woche zwar irritiert über die antiimperialistische Ausrichtung der Zeitung und Bilder von Fidel Castro in den Redaktionsräumen gezeigt hatte, aber auf die Pressefreiheit auch für die junge Welt gepocht hatte, wollte die linke Tageszeitung nicht in eine Reihe mit der am Dienstag vom Bundesinnenministerium verbotenen faschistischen Zeitschrift stellen. »Ähnliche Beispiele von Gewaltverherrlichung, Desinformation oder Hetze gegen Minderheiten, wie sie aus Sicht des Ministeriums dem Magazin Compact schon nach kurzer Zeit nachweisbar waren, werden der jungen Welt allerdings auch nach nunmehr 26 Jahren der Beobachtung durch den Verfassungsschutz nicht vorgeworfen«, merkte der Jurist am Freitag in der SZ an.

Im Ausland griffen vor allem linke Zeitungen wie die Solidaire der belgischen Partei der Arbeit, die französische kommunistische L’Humanité und die Zeitung vum Lëtzebuerger Vollek, linke Nachrichtenseiten in Spanien und Frankreich, aber auch der schwedische Rundfunk den Fall auf.

Werner Siebler von der Bundesarbeitsgemeinschaft der Initiativen gegen Berufsverbote und für die Verteidigung der demokratischen Grundrechte sieht sich in einer Solidaritätsbotschaft des Verbandes bei der Urteilsbegründung an Formulierungen aus seiner Entlassungsakte als Briefträger vor 40 Jahren erinnert. Dies zeige, dass Verwaltungsgerichte »bis heute nach den Prinzipien des Kalten Krieges urteilen und bis heute nicht von ihrer reaktionären Rechtsprechung abrücken wollen«. Das Gericht hatte Bestrebungen der jungen Welt gegen die sogenannte Freiheitlich-demokratische Grundordnung unter anderem aufgrund von Sympathien für Lenin, dessen Bild auf der Leserbriefseite zu sehen ist, zu erkennen geglaubt.