Geschichte
Von Klaus FischerAm 7. Oktober 1995 schien im Berliner Stadtteil Treptow die Sonne. In der vierten Etage eines schmuddeligen Fabrikbaues am Treptower Park war davon nicht viel zu merken. Dennoch waren die paar Leute, die um einen Holztisch auf dem Redaktionsflur der Tageszeitung junge Welt hockten, guter Stimmung. Soeben hatten sie ihre Unterschriften unter ein knappes Dokument gesetzt – die Gründungsurkunde einer Genossenschaft.
Ein halbes Jahr zuvor war die Zeitung mit dem traditionsreichen Namen am Ende gewesen. Der Verlag pleite, die Beschäftigten entlassen und auf dem Weg zu neuen Ufern, zum Arbeitsamt oder zu beiden. Ein Teil der Belegschaft hatte ein solches Ende nicht akzeptieren wollen. Mit viel Mühe, Überzeugungskraft, Verhandlungsgeschick und Enthusiasmus gelang, was keiner erwartet hatte: Die junge Welt erschien genau sieben Tage nach dem verkündeten Bankrott wieder. Zwar abgespeckt, hergestellt unter teilweise haarsträubenden materiellen Bedingungen, aber sie war wieder da. Der durch zwei Redakteure in rekordverdächtigem Tempo als GmbH gegründete Verlag 8. Mai fungierte als neue Firma, die die Zeitung produzierte. Zudem konnten sie die Titel- und Belieferungsrechte vom Alteigentümer kaufen.
jW-Basislager
Den meisten am Neustart Beteiligten war jedoch bewusst: Die Produktion einer Tageszeitung verlangt nach einer stabileren materiellen Grundlage, als sie eine GmbH mit 50.000 DM Stammkapital bieten konnte. Für einen linken Tendenzbetrieb, einem Projekt unter maßgeblicher Mitarbeiterbeteiligung, schien die Gründung einer Aktiengesellschaft oder die Bildung einer GmbH-und-Co.-Konstruktion nicht angemessen. Deshalb verfiel man auf die Genossenschaftsidee. Das mochte der angemessene Weg sein, »Kapital« zu sammeln, Sympathisanten und Leser in das Projekt einzubinden und gleichzeitig die redaktionelle Unabhängigkeit der Zeitung zu erhalten.
An jenem Oktobertag 1995 jedoch war den neun Unterzeichnern am Redaktionstisch in Berlin-Treptow nicht klar, was sie sich vorgenommen hatten. Gut, sie hatten die Linke Presse Verlags-, Förderungs- und Beteiligungsgenossenschaft junge Welt e.G. aus der Taufe gehoben, und aus dem offiziellen Namen wurde im Tagesgebrauch schlicht »LPG junge Welt eG«. Doch allein das offizielle Namensmonster lässt ahnen, welch bürokratische Exzesse notwendig waren, eine Kapitalgesellschaft dieser Art auf die Beine zu stellen. Zwei weitere Jahre sollten vom Gründungsakt bis zur Eintragung ins amtliche Genossenschaftsregister Berlins vergehen. Knapp drei Jahre, eine existenzbedrohende und mehrere mittlere Krisen später war es dann so weit: Aus der Kopfgeburt vom 7. Oktober 1995 war Realität geworden. Im Februar 1998 übernahm die LPG die Mehrheit an der GmbH und wurde Haupteigner des Verlages. Es war die Mühen wert.
Diese »freundliche« Übernahme stabilisierte das Gesamtprojekt erheblich. Schnell entwickelte sich die Genossenschaft vom arbeitsaufwendigen Anhängsel zum publizistischen Basislager für die junge Welt. Jedes neugewonnene Mitglied trug und trägt mit seinen eingezahlten Genossenschaftsanteilen (ein Anteil zunächst zu 1.000 DM, heute zu 500 Euro) – zur finanziellen Absicherung der linken Unternehmung bei. Den finanziell dabei engagierten Leserinnen und Lesern war stets klar: Wir sind Kapitalgeber für ein linkes Projekt. Direkte Renditen in Cent und Euro sind nicht zu erwarten, wohl aber die Sicherung einer progressiven Zeitung. Insofern betrachten viele Genossenschaftsmitlieder ihr eingezahltes Geld auch nicht als »venture capital« – also Wagniskapital, wie es unter Börsenzockern genannt wird. Eher schon ist es »adventure capital«, Abenteuerkapital.
Unmöglich, aber real
Denn abenteuerlich ist alles, was mit der jungen Welt zu tun hat, geblieben. Trotz wirtschaftlicher Konsolidierung, systematischer Verbesserung des Hauptproduktes Tageszeitung, eines frühzeitigen Internetauftritts, Stärkung der publizistischen Kompetenz und der Akzeptanz in weiten Kreisen der Linken und darüber hinaus dürfte die Zeitung eigentlich nicht existieren: Keine Partei steht hinter dem Projekt, kein Großverlag, keine Gewerkschaft, kein linker Mäzen und keine andere finanzstarke Gruppierung. Die junge Welt ist das Produkt seiner Leserinnen und Leser, seiner Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter und seiner Genossenschaft.
Deren Rolle hat sich dann auch seit 1998 deutlich verändert. Als gesellschaftsrechtliche Holding übt sie eine Kontrollfunktion über die Geschäfte des Verlages aus. Mit ihrer Mehrheit in der Gesellschafterversammlung der GmbH ist sie letztinstanzliches Entscheidungsorgan für die wichtigsten wirtschaftlichen Prozesse. Von der LPG erhält der Verlag Kredite für notwendige Investitionen und zur Sicherung seiner Liquidität über das gesamte Geschäftsjahr. Daraus folgt zwingend: Je mehr Mitglieder die Genossenschaft hat, um so höher sind deren Einlagen. Während sich der Tagesbetrieb des Verlages mittlerweile im wesentlichen aus dem laufenden Geschäft finanzieren lässt, sind größere Investitionen nur mit Hilfe der Genossenschaft möglich. Kredite zu annehmbaren Bedingungen bekommt der Verlag nicht. Das liegt nicht nur daran, dass die Eigenkapitalbasis der GmbH schmal ist. Die meisten BRD-Banken stellen sich auch bei Darlehen für Genossenschaften bockbeinig. Durch deren »komplizierte Entscheidungsstrukturen« sei eine »einheitliche und zeitnahe Unternehmensführung« erschwert, argumentiert man bei den professionellen Geldverleihern.
Kurz, die Genossenschaft ist für die junge Welt überlebenswichtig. Je mehr sich entschließen, Mitglied der LPG zu werden, desto besser und desto wahrscheinlicher ist nicht nur ein Überleben der jungen Welt, sondern auch deren weiteres Gedeihen. Das knappe Dutzend Unentwegter, die im Oktober 1995 ihre Unterschrift auf die Gründungsurkunde setzten, hätten jedenfalls Grund, ein bisschen stolz zu sein.