Rosa-Luxemburg-Konferenz am 11.01.2025
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Aus: Ausgabe vom 11.07.2009, Seite 18 / Aktion

Neu erfunden

Die junge Welt behauptet sich nicht nur, sie legt noch zu
Von Arnold Schölzel
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Ächzen gehört zum Journalistenhandwerk – der Verleger bezahlt schlecht, der Chefredakteur ist unausstehlich, und Leser, Hörer, Zuschauer sind es nicht wert, etwas mitgeteilt zu bekommen. Derzeit kommt zum notorischen Branchenjammer Zähneklappern hinzu. Angeblich stehen die Tageszeitungen vor dem baldigen Aus, die Wirtschaftskrise vernichtet den Anzeigenmarkt, und das Internet raubt dem Zeitungsmann den Beruf, weil den angeblich die Blogger erledigen.

Für all das gilt: tiefer hängen. An allem ist etwas dran, im einzelnen ist es aber nicht wahr, und für die Medienbranche als Ganzes gilt, daß vom Kapitalismus seit den Anfängen des Journalismus kein gut bezahlter unabhängiger Journalismus erwartet werden durfte, schon gar nicht, wenn die Zunft über sich selbst berichtet. Es geht wie überall im Kapitalismus um Rendite, Rendite, Rendite, manchmal auch um Wahrhaftigkeit, sehr selten um Wahrheit. Nur wenn beides miteinander vereinbar ist, gibt es auch beides, wenn nicht, hat der Gelderwerb Vorrang. Das Problem derzeit scheint zu sein: In den Nachkriegsjahrzehnten haben Zeitungen in der Bundesrepublik ihre Besitzer auf spielende Weise reicher gemacht. Tageszeitungen mit ganzseitigen ALDI-Annoncen in konstantem Rhythmus waren eine Lizenz zum Gelddrucken. Das Zusatzgeschenk, das den westdeutschen Medienkonzernen mit den DDR-Zeitungen in den Schoß fiel, war ein nicht unbeachtliches, aber insgesamt kleines Zubrot. Die Pläne waren größer: Heute haben die meisten Staaten Osteuropas kaum eigene Zeitungen. Die sind in der Hand bundesdeutscher Verlegerdynastien.

Nach dem großen Reibach 1990 ließ die Geschwindigkeit des Reicherwerdens aber nach. Das führt zu beachtlicher Unruhe bei den Eigentümern von Medienkonzernen und ihren leitenden Redakteuren. Die Frankfurter Rundschau mußte vor ein paar Jahren von Roland Koch und der SPD gemeinsam gerettet werden, bevor sie als saftiges Geschenk an Dumont aus Köln ging.

Sind solche Voraussetzungen des hiesigen Journalismus geklärt, lohnt es sich, dem Phänomen junge Welt einige Überlegungen zu widmen. Die Zeitung ist die Ausnahme. Sie stellt sich dem Markt, aber nicht, um für irgend jemand Profit zu erwirtschaften. Sie ist journalistisch faktisch als einzige Tageszeitung von Parteien und Konzernen unabhängig, ist aber nicht beliebig. Sie steht keiner bestimmten Partei nahe, ist aber politisch eindeutig zuzuordnen – antikapitalistisch, marxistisch, antimilitaristisch, antifaschistisch, um die wichtigsten Stichworte zu nennen. Umgekehrt sprechen auch die schmückenden Beiworte, mit denen sie von ihren Gegnern bedacht wird, von politischer Klarheit und Hilflosigkeit im Umgang mit ihr. Sie reichen von »traditionskommunistisch« (Verfassungsschutz), »stalinistisch« (Die Welt), »antisemitisch« (konkret und Die Welt) bis »Obdachlosenzeitung« (taz). Die Adjektive drücken die Mischung von Grusel und Empörung aus, die den deutschen Durchschnittsschreiber befällt, wenn er ahnt, daß die Macher dieser Zeitung ein illusionsloses Verhältnis zu der Gesellschaft haben, in der sie leben, und mit dazu beitragen wollen, Illusionen über die gesellschaftlichen Verhältnisse, vor allem über die von Macht und Eigentum, zu durchlöchern. Eine Zeitung, die sich den sozialen Katastrophen widmet, den mühsamen Versuchen, sich gegen die zu wehren, sich zu organisieren oder sogar Widerstand zu leisten, kann aus dieser Sicht nur kommunistisch sein. Das aber ist verboten, grundsätzlich, von BND-wegen und weil Friede Springer und Hans-Olaf Henkel, Marianne Birthler und Hubertus Knabe, Angela Merkel und Frank-Walter Steinmeier öfter deutlich machen, was mit aufklärerischer Publizistik oder Kommunisten zu passieren hat: Sie sind mindestens des Terrorismus zu verdächtigen.

In der gegenwärtigen Krise wirkt solche Propaganda noch weniger überzeugend als gewöhnlich. Es kommen zwangsläufig soviel unschöne Dinge über den kapitalistischen Bank- und Industrieverkehr zur Sprache, daß das Publikum an Enthüllung großes Interesse hat, schließlich geht es um vielleicht Millionen Existenzen. Die Diskrepanz zwischen gepredigter und praktizierter Moral ist mal wieder besonders groß. Das hat noch nie direkt zu einer Revolution geführt, aber es ist ein Anstoß zum Nachdenken. Der Schriftsteller Dietmar Dath schreibt in »Maschinenwinter« über die moralische Lage der Nation: »Selbstverständlich ist eine Gesellschaft unanständig, in der jemand mehr Wohnraum besitzen als bewohnen kann und Behausungen also leerstehen, damit beim Finanzamt Verluste angegeben werden können, in deren Schatten anderswo, im Warmen, Feuchten und Unsichtbaren, große Gewinne gedeihen. Selbstverständlich ist eine Gesellschaft schweinisch, die einerseits für ihre Spitzensportler Laufschuhe mit eingebauten Dämpfungscomputern bereitstellt, andererseits aber alten Frauen mit Glasknochen die Zuzahlung zum sicheren Rollstuhl verweigert und einen Pflegenotstand erträgt, für den sich tollwütige Affenhorden schämen würden. Selbstverständlich ist eine Gesellschaft obszön, in der Zahlungsmittelengpässe, Liquiditätskrisen und Bankenbeben vorkommen, weil, wie im Sommer und Winter 2007 geschehen, plötzlich deutlich wird, daß Kredite, die man armen Amerikanern aufgeschwatzt hat, damit sie sich Eigenheime kaufen, die sie sich unmöglich leisten können, tatsächlich nicht zurückgezahlt werden. Selbstverständlich ist eine Gesellschaft widerlich, die all diese Dinge sogar in ihren leidlich gepolsterten Gewinnergegenden zuläßt; vom Elend der sogenannten Peripherie, den ›darker nations‹ (Vijay Prashad), den ›trüben Völkern‹ (Hegel), will man eh nichts mehr hören.«


Das alles besagt, daß der Kapitalismus eine Zumutung geworden ist, die für die Mehrheit der Menschheit eine Frage von Leben und Tod ist. Der Hintergrund und die Grundlage dieser Entwicklung sind nicht wenigen klar: Es ist eine ungeheure Produktivitätsentwicklung, die sich in den Händen des Kapitals in erster Linie in Waffen, in Destruktionswerkzeuge für Natur, Menschen und soziale Gemeinschaften verwandelt. Sie führt in einem industriellen Kernland wie der Bundesr publik nicht etwa zur Arbeitszeitverkürzung, zu Mehrbeschäftigung, sondern zur Erhöhung der Arbeitshetze für Beschäftigte und zur faktischen Ausgrenzung von derzeit mehr als 20 Millionen Menschen mangels Einkommen aus dem gesellschaftlichen Leben.

Hier haben die Mainstreammedien ihre Aufgabe. Die Reallöhne sinken in der Bundesrepublik seit Jahrzehnten, da aber von der Bewußtseinsindustrie der Schein aufrechterhalten wird, daß sie steigen, wird verbreitet, daß die Deutschen aus Angst sparen, geizig sind, weil es geil sei, aber im übrigen als Konsumenten dauernd optimistisch in die Zukunft sehen. Weil der nächste Aufschwung kommt. Weil die Bundesregierung eine Abwrackprämie für Autos verteilt, was jüngst ein Fachmann mit dem Verteilen von Benzin fürs Häuserabfackeln verglich, womit die Bauindustrie gestützt werden solle. Weil alle in einer neuen »Volksgemeinschaft« zusammenhalten. Weil die Ursache der Krise lediglich die Gier einiger Manager war etc.

Die Dinge aufzählen, heißt, die täglichen Grotesken der Scheinwelt, die inszeniert wird, benennen. In dieser Welt kommen Hartz-IV-Betroffene als Elendsgestalten oder individuelle Versager vor, nicht als Facharbeiter beim pleitegegangenen Fahrzeugbauer Karmann, die nach 25 Jahren Betriebszugehörigkeit in einer Transfergesellschaft landen, nach vier Monaten ins Arbeitslosengeld I sacken und in einem Jahr Arbeitslosengeld-II-Bezieher werden. In dieser Welt führt die Bundeswehr keinen Krieg in Afghanistan, sondern geht dort einem Stabilisierungsauftrag nach. In dieser Welt sind Syrien, Ägypten, Marokko etc. Folterstaaten, aber nicht die USA, nicht die Bundesrepublik, deren Sicherheitsbehörden gern von Foltergeständnissen profitieren – wie von Amnesty International im Mai 2009 bescheinigt.

In dieser Welt, in der laut Medien alles im großen und ganzen in Ordnung ist, in der es keine soziale Frage gibt und keinen Klassenkampf, nur Umverteilung von oben nach unten, aber nie von unten nach oben, in dieser Welt sinken also die Auflagen der Zeitungen, laufen die Anzeigenkunden weg und nehmen die Blogger den Journalisten die Arbeit weg?

Da ließe sich – sozusagen unternehmensberaterisch – sagen: Leute, versucht es doch einmal mit einer anderen Geschäftsidee. Schreibt in euren Zeitungen, was »unten, wo das Leben konkret ist«, passiert und weniger über Dieter Bohlen, Verona Pooth, die Kostüme der Bundeskanzlerin und Hubertus Knabes plastiniertes DDR-Leichenbild. Rückt einfach die Anzeigenabteilung etwas weiter weg vom Nachrichtentisch, um David Montgomerys Leitsatz für modernen Journalismus nicht nur in der Berliner Zeitung zu verwenden. Schafft euch ein Weltbild an, das auf Bildung und nicht auf Propaganda beruht. Solche Vorschläge machen, heißt einsehen, daß sie undurchführbar sind. Ihre Verwirklichung setzt die Abschaffung des Kapitalismus voraus.

Diese Vorschläge machen, heißt aber auch, das Geschäftsmodell, mit dem sich die junge Welt behauptet, erläutern. Diese Zeitung existiert auf ihrer Grundlage schon vor der Abschaffung des Kapitalismus. Das ist paradox, hängt aber damit zusammen, daß in dieser Zeitung eine illusionslose Haltung vorherrscht: So nötig der Kommunismus erscheint, so wenig realisierbar erscheint er in absehbarer Zeit. Praktisch bedeutet das, sich den Realitäten des Zeitungsmarktes zu stellen: Die langsam sich der Zahl 20 000 nähernden Exemplare der jungen Welt sind unter den etwa 20 Millionen Tageszeitungsexemplaren in der Bundesrepublik eine sehr kleine Größe. Allerdings: 1990 waren es 27 Millionen Exemplare, und die junge Welt hatte zwischendurch eine erheblich niedrigere Auflage. Sie ist kein gallisches Dorf, das auf schrumpfendem Gelände kämpft, sondern ein Informationsorgan für engagierte Linke, das Schritt für Schritt, viel zu langsam, an Auflage und Lesern zulegt. Ihre Stellung unter den Medien bedingt, daß sie sich jeden Tag neu erfinden muß. Schließlich muß der Journalismus neu erfunden werden, nachdem er derart gründlich ruiniert wurde. In jW geht es nicht um verwirrte Darstellung, sondern um Darstellung von Verwirrung (Brecht), um Lustmachen auf Veränderung, um Auseinandersetzung mit Irrationalismus und Antikommunismus. Wer so etwas macht, darf als Tageszeitung eigentlich nicht existieren. Macht das aber – mit guten Aussichten auf Erfolg.

Der Beitrag stammt aus unserer aktuellen Broschüre »Unsere Zeitung. Unsere Kultur. Unsere Genossenschaft«.

Solidarität jetzt!

Das Verwaltungsgericht Berlin hat entschieden und die Klage des Verlags 8. Mai abgewiesen. Die Bundesregierung darf die Tageszeitung junge Welt in ihren jährlichen Verfassungsschutzberichten erwähnen und beobachten. Nun muss eine höhere Instanz entscheiden.

In unseren Augen ist das Urteil eine Einschränkung der Meinungs- und Pressefreiheit in der Bundesrepublik. Aber auch umgekehrt wird Bürgerinnen und Bürgern erschwert, sich aus verschiedenen Quellen frei zu informieren.

Genau das aber ist unser Ziel: Aufklärung mit gut gemachtem Journalismus. Sie können das unterstützen. Darum: junge Welt abonnieren für die Pressefreiheit!

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