Müllhaufen der Geschichte
Von Dietmar KoschmiederNatürlich sind Einschränkungen im Rahmen der Maßnahmen gegen Corona ärgerlich und lästig. Natürlich sollte man misstrauisch sein, wenn der nach Kapitalinteressen organisierte Staat Grundrechte dramatisch einschränkt. Und tatsächlich verbinden sich im Moment Wirtschaftskrise und Coronakrise zu einer Melange, bei der noch deutlicher wird, dass der Kapitalismus nicht mehr zeitgemäß ist.
Aber es gibt dieses gefährliche Coronavirus. Gerade weil eines der wichtigsten Grundrechte das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit ist (Artikel 2 Grundgesetz), sollte dem Schutz der Schwächsten und am meisten Gefährdeten die größte Sorgfalt zukommen, haben alle anderen Rücksicht zu üben. Das bedeutet, dass der bürgerlich-demokratische Staat handeln muss, wenn er wenigstens etwas von seinen Pflichten ernst nimmt und sich nicht völlig dem Kapitaldiktat unterwirft.
Diverse Kräfte nutzen die vertrackte Situation für ihre Zwecke. Unmut und Angst vieler Bürger (und Kleinbürger) können den Aufbau neuer Bewegungen befördern, ja sogar die Gründung neuer Parteien wird vorbereitet. Organisierte rechte Kreise werben für ihre Idee, dem scheinbar maroden bürgerlich-demokratischen System ihre menschenverachtende, rassistische Variante eines anderen (aber nicht weniger kapitalistischen) Staates überzustülpen. Für alle diese Erscheinungen stehen in den jeweiligen Bürger- und Kapitalfraktionen Geldgeber zur Verfügung. Bis hin zu jenen, die es vorziehen, einen neuen Faschismus zu finanzieren, bevor womöglich sozialistische Alternativen für viele attraktiv werden oder sich gar durchsetzen.
Während die augenblicklichen Wortführer der Hygienedemos, der Berliner Anselm Lenz und seine Freunde, noch immer jeden Samstag mit dem Grundgesetz wedeln (»Etwas Schlechteres woll’n wa nich«), werden sie eifrig von diversen Bloggern wie etwa Ken Jebsen und ihren Sendekanälen umschmeichelt. Jebsen (KenFM) war schon vor Jahren dem deutschnationalen Jürgen Elsässer bei der Installation seiner Ultrarechtspostille Compact zu Diensten. Ausgerechnet jener Compact-Elsässer wiederum sieht heute die große Stunde für sich nahen und wirbt für seine eigene bundesweite Demo gegen die »Coronadiktatur« und die angeblich von Bill Gates finanzierte WHO – nicht zufällig mit Argumenten, wie sie auch auf allen lokalen Hygienedemos zu hören sind. Wäre ja gelacht, wenn man aus der Angst und Wut vieler nicht ordentlich Kapital schlagen und Honig für die eigenen Ziele saugen könnte – an der notwendigen Penunze scheitern weder Lenz, Jebsen noch Elsässer. Aber auch andere selbsternannte Führer aus rechten Milieus von AfD bis NPD merken landauf, landab, dass hier noch was zu holen ist. Zwar wird in den großen bürgerlichen Medien vor allem über die Demos in Berlin oder Stuttgart berichtet, aber es gibt mittlerweile wohl keine größere Stadt mehr im Lande, in der nicht spezielle Hygienedemos stattfinden. So etwa in Ravensburg, wo der rechte Flügel der AfD den Ton angibt. Oder in Offenburg, wo laut Lokalpresse ein Unternehmer die Führung übernommen hat und am letzten Samstag rechte AfDler nur eine Randerscheinung gewesen seien. Was die anderen 300 Teilnehmenden aber auch nicht davon abgehalten hat, zum Abschluss der Kundgebung das Deutschlandlied zu singen.
Bürgerliche Medien wenden sich mit Abscheu von diesen Erscheinungen ab – und nutzen sie gleichzeitig für ihre Zwecke. Zum Beispiel, um die Mär zu verbreiten, hier würden sich Links- und Rechtsradikale zusammentun, um die bürgerliche Demokratie zu schädigen. Und immer wieder wird angedeutet, dass die junge Welt etwas mit dieser Bewegung zu tun haben könnte. Am Dienstag dieser Woche lud der ZDF-Moderator Markus Lanz unter anderem den Journalisten Olaf Sundermeyer in seine Gesprächsrunde ein, um dort mit ihm die üblichen Stanzen loszulassen. Zu Beginn der Demos seien, meint Sundermeyer, die Organisatoren Leute aus dem linksintellektuellen Milieu gewesen, »Autoren bei der Taz oder bei der jungen Welt«, wie er – ohne Namen zu nennen – betont, um dann fortzufahren, das seien »Leute, die aber unmittelbar anschlussfähig sind an das Milieu von Verschwörungstheoretikern, Russland-Verstehern, mit ’nem sehr starken antisemitischen Einschlag auch ...«, was dann von Lanz mit dem Einwurf »Ja, die Familie Rothschild und so ...« bestärkt wird. Und natürlich seien diese »Autoren« anschlussfähig auch an den »rechtsextremistischen Flügel der AfD«. Dabei haben weder Russland noch die Rothschilds bei den Demos bisher eine Rolle gespielt. Und wie so oft wird die junge Welt nur dann in den Medien erwähnt, wenn man ihr Schlechtes unterstellen will. Dass die Zusammenarbeit der jW mit dem Wortführer der Hygienies schon lange vor der Coronakrise beendet wurde und dass die junge Welt von Anfang an diese Hygienedemos scharf kritisiert hat, wird weggelassen. Damit es besser in das konstruierte Links-gleich-rechts-Schema passt.
Seriöser bürgerlicher Journalismus geht anders. Denn auch der müsste der Aufklärung und nicht der Desinformation dienen. Es sind eben nicht nur rechte Organisationen und Unbedarfte, die zur Verwirrung beitragen. Dies soll auch unter Leserinnen und Lesern der jW zu Unsicherheiten führen. junge Welt aber wird nicht locker lassen, darüber aufzuklären, wohin Faschisten, ihre Handlanger, aber auch das kapitalistische System als Ganzes gehören: auf den Müllhaufen der Geschichte!
Solidarität jetzt!
Das Verwaltungsgericht Berlin hat entschieden und die Klage des Verlags 8. Mai abgewiesen. Die Bundesregierung darf die Tageszeitung junge Welt in ihren jährlichen Verfassungsschutzberichten erwähnen und beobachten. Nun muss eine höhere Instanz entscheiden.
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Leserbriefe zu diesem Artikel:
- Stephan Jegielka: Antwort auf Leserbrief »Tote produzieren nichts« Es ist schon seltsam, dass in Teilen der Linken die Illusion besteht, dass der Staat der imperialistischen Bourgeoisie auf einmal im Interesse des Wohles der werktätigen Bevölkerung handelt. Ich will ...
- Istvan Hidy: Schäden einer Therapie Die Maßnahmen der Regierung erscheinen immer unverhältnismäßiger angesichts der enormen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Schäden, die sie verursachen. Nach monatelangem Grundrechteentzug versuc...
- Franz Anger: Ideeller Gesamtkapitalist Der bürgerlich-demokratische Staat handelt in Zeiten der Coronapandemie nicht als Garant der Humanität, sondern als ideeller Gesamtkapitalist. Um die Funktionsfähigkeit der kapitalistischen Produktion...
- Victor Grossman: Statt Chaos ein Aufruf Nicht nur am Rosa-Luxemburg-Platz in Berlin demonstrieren Wohlmeinende neben einigen Nichtwohlmeinenden, manche, die Bürgerrechte schützen wollen, neben Typen, welche den bewaffneten Trump-Anhängern ä...
- APO Pluto: Immer mehr Irrlichter Alle, die jetzt gegen die »Coronadiktatur« Sturm laufen, möchten bitte darüber nachdenken, was für einen Grund der Kapitalismus haben sollte, sich selbst lahmzulegen. Mir fällt kein anderer ein, als d...
- Ralph Petroff: Tote produzieren nichts Man muss sich doch nur mal die Frage stellen: Warum sollte die Regierung der kapitalistischen BRD, die der Bourgeoisie dient und möglichst hohe Profite garantieren muss, die Wirtschaft ohne jede Not p...
- Heinrich Hopfmüller: Von Bild lernen heißt siegen lernen Warum Hygienedemo und nicht »Hygienedemo« oder besser »sogenannte Hygienedemo«? Die Bild-Zeitung (und andere Blätter des westdeutschen Qualitätsjournalismus) haben diese diakritischen Zeichen und dies...
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Was wir uns leisten wollen
vom 09.05.2020
Womöglich auch, weil Linke, die nicht völlig auf den Kopf gefallen sind, spätestens nach der ersten Demo gemerkt haben, zu wem sie sich da gesellen und dann diesen Demos in der Folge fern blieben. Es ist tragisch, denn dadurch haben die Rechten die meisten Demos gegen die Corona-Maßnahmen, die man vernünftigerweise auch mit linken Argumenten kritisieren kann, erfolgreich gekapert.
"Seriöser bürgerlicher Journalismus geht anders. Denn auch der müsste der Aufklärung und nicht der Desinformation dienen."
Ja. Aber erwarten Sie da wirklich besseres? Ich meine klar, man sollte den Anspruch nicht aufgeben, aber gerade wer die journalistische Verarbeitung von Themen, die Russland, China, Sozialismus/Kommunismus usw. betreffen, verfolgt, weiß doch was von bürgerlichem Journalismus zu erwarten ist.
Wenn die Lebensmittelproduktion einbricht durch diese Krise, gibt es Millionen Tote auf der Welt. Das ist Krieg gegen Arme.
Und ähnlich ist es jetzt, natürlich geht es den Befürwortern von rechts bzw. "bürgerlichen" in erster Linie um den Schutz des Systems, weil wenn eine Pandemie die Bevölkerung befällt (aka Arbeitnehmer und Konsumenten), ist das halt nicht gut fürs Profite machen, daher ist man bereit das kleinere Übel (Lockdown etc.) in Kauf zu nehmen. Bis vor kurzem jedenfalls, jetzt geht ja wieder alles in die andere Richtung, was Leute wie Sie doch begrüßen müssten.
Es ist mir schleierhaft wer von den "Zwangsmaßnahmen" denn profitieren sollte.
"Wenn die Lebensmittelproduktion einbricht durch diese Krise, gibt es Millionen Tote auf der Welt."
Ja nun, eine Pandemie, die ausser Kontrolle gerät, hätte auch unabsehbare Folgen für die Versorgung (und für die direkt Betroffenen). Es sei denn natürlich man ist schon felsenfest davon überzeugt, dass Covid-19 letztlich nichts anderes als eine Grippe ist, dann fällt die Abwägung natürlich leicht.
"... sowie dem fahrlässigen An-die-Wand-Fahren der Wirtschaft mit den unabschätzbaren sozialen und ökonomischen Folgen und der im Hintergrund anlaufenden massiven Kapitalverschiebung zu Konzernen, Banken und Großkapital pauschal als »rechts« zu diffamieren."
1. Faszinierend, dass sie sich um die deutsche Wirtschaft sorgen. Dass die Maßnahmen soziale Folgen haben werden, wurde in der JW oft genug erwähnt und auch der Klassenstandpunkt deutlich vertreten, nämlich, dass es am Ende mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit die untere Hälfte der Bevölkerung sein wird, die die Zeche zahlen, so läuft dieses System halt.
2. Nirgends im Artikel wurde Kritik an den Maßnahmen pauschal als rechts diffamiert. Aber ganz gewiss ist nicht jede Kritik an den Maßnahmen gut und geboten, nur weil es gegen "das System", "den Kapitalismus", "die Regierung (aka "Merkel-Regime") geht, denn in die Richtung argumentieren auch schon immer unsere Feinde von Rechts. Nur dachte ich, würden die meisten Linken das schnallen, was man davon halten kann, wenn sich Rechte dran machen die Interessen "des Volkes" zu vertreten...
Sie sehen die JW in einem Burgfrieden mit der Regierung? Manch ein Linker scheint mir als befinde er sich in einem Burgfrieden (oder schlimmerem) mit rechten "Systemgegnern"
1. Das »Gefährlichkeits«-Narrativ, gestützt auf die Expertisen der WHO und der jeweiligen Expertengremien der Nationen.
2. »Das Grippe-Vergleich«-Narrativ, gestützt auf die Analysen und Aussagen einer ganzen Reihe namhafter Wissenschaftler.
Die jW folgt ersterem und lobt das Handeln des bürgerlich-demokratischen Staates, indem diesem als Motiv der Schutz der Schwächsten unterstellt bzw. geglaubt wird.
Meine Frage ist nun: Hat die jW die Stimmen der Wissenschaftler des zweiten Narratives zur Kenntnis genommen (Bhakdi, Wodarg, Ioannidis, Höckerts, Mölling …), und wenn ja: Aufgrund welcher Argumente (epistemologischer, theoretischer oder empirischer Art) wurden deren Einwendungen verworfen? Könntet ihr mir evtl. Quellen zur Verfügung stellen?
Übrigens: Auch der Vorgänger von Herrn Prof. Drosten widerspricht dessen politisch einflussreichen Einschätzungen:
https://de.sputniknews.com/interviews/20200425326953541-corona-gefahr-virologe/
Anmerkung: Bill Gates finanziert die WHO nicht nur »angeblich«. Die WHO wird gegenwärtig zu 80 Prozent durch zweckgebundene private Gelder finanziert. Die Bill and Melinda Gates Foundation ist mit 14 Prozent der größte Finanzier.
https://www.zeit.de/wissen/gesundheit/2017-03/who-unabhaengigkeit-bill-gates-film
Nun denn: Möge uns die zweite, dritte und 17. Welle verschonen bzw. nur in den statistikgestählten Hirnen der Regierungsvirologen stattfinden, damit wir tatkräftig als Müllentsorger an der Abwrackung des kapitalistischen Systems mitwirken können.
Rote Grüße, ein verunsicherter Leser ;)
Meine Abschätzung geht so: Der Landkreis Tirschenreuth hat 102 Coronatote und 73.000 Einwohner. Wenn ganz Deutschland (83 Millionen Einwohner) also den gleichen Durchseuchungsgrad wie Tirschenreuth erreicht, ist mit 116.000 Toten zu rechnen.
Beim jetzigen Durchseuchungsgrad des Großraums Stockholm (1.600 Tote auf 2,3 Millionen Einwohner) wären es immerhin 58.000 Tote – also mehr als doppelt so viele wie im besonders schweren Influenzajahr mit 25.000 Toten.
Bei weiteren Coronatoten in diesen beiden Regionen würde sich die Schätzung für Deutschland entsprechend nach oben korrigieren.
Wohlan.
Es sind ja tückischerweise unter den auf »alternativen Quellen« vorgebrachten Argumenten viele, für sich genommen, wahr, darunter auch solche, die in bürgerlichen Medien gerne beschwiegen werden. Eine wirksame und kostengünstige Gesunderhaltung der Bevölkerung steht z. B. natürlich in systematischem Gegensatz zu den Profitinteressen mächtiger privatwirtschaftlicher Pharmakonzerne, deren Kapitalmacht zu unheilvollem Einfluss auf Gesundheitspolitik geradezu einlädt. Dieser Gegensatz ist ohne Verstaatlichung der Pharmaforschung auch nicht zu beseitigen.
Leider ist die aus den Argumenten gezogene Schlussfolgerung, das Coronavirus sei relativ harmlos, eben trotzdem falsch. Während dies am Anfang vielleicht noch nicht so klar war, zeigt doch mittlerweile ein Blick auf andere Länder dies sehr deutlich. Nur ein national auf Deutschland verengter Blick kann einen noch an die Harmlosigkeit von Covid-19 glauben lassen.
Vielleicht könntet ihr daher auch mal Interviews bringen mit z. B. Pflegenden aus international besonders betroffenen Regionen, die ihre persönlichen Erfahrungen schildern? So was findet man natürlich in bürgerlichen Medien, aber in jW hätte es aufgrund eurer Unabhängigkeit von Kapitalinteressen mehr Gewicht.