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Aus: Ausgabe vom 17.06.2024, Seite 2 / Inland
Einführung von Proteststimme

»Es hätte eine Signalwirkung«

Gegen Rechtsruck: Initiative fordert Einführung von »Proteststimme« auf Wahlzettel. Ein Gespräch mit Ralf-Uwe Beck
Interview: Fabian Linder
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Hier ein Kreuz als »Proteststimme« machen

Im Nachgang der Wahlen zum EU-Parlament forderte Ihr Verband die Einführung einer »Proteststimme«. Was soll das sein?

Bei Wahlen in Deutschland gibt es bisher keine Stimmenthaltung. Enthaltungen werden als ungültige Stimmen gewertet. Hier könnten wir zu einer anderen Qualität kommen, indem man die Stimmenthaltung auf dem Stimmzettel aktiv anbietet, statt das Kreuz bei Parteien und Kandidaten zu machen.

Eine Variante, die wir für Kommunalwahlen bereits vorgeschlagen haben, war, drei Kästchen vorzusehen, wo die Leute angeben können, weshalb sie sich enthalten. Etwa, dass man unter den Parteien oder Kandidierenden niemanden findet. Einfacher wäre lediglich ein Kästchen zu machen, das mit »Proteststimme« benannt ist.

Welche Vorteile versprechen Sie sich davon?

Manche Menschen sind so unzufrieden, dass sie entweder gar nicht wählen gehen oder ihr Kreuz dort machen, wo sie das Gefühl haben, sie können damit ein Signal an die Politik senden, und zwar dort, wo sie die größte Aufregung und Verunsicherung erzeugen können. Das sind in der Regel nicht etwa die Grünen oder die Sozialdemokraten, sondern extreme Parteien.

Dieser Anteil, denken wir an die AfD-Wählerschaft, wird regelmäßig ermittelt. Der Anteil der Protestwähler unter der AfD-Wählerschaft sinkt zwar seit Jahren. Lag er vor einigen Jahren noch bei ungefähr 65 Prozent, so ist jetzt davon auszugehen, dass dieser Anteil nur noch bei unter 40 Prozent liegt. Aber es ist immer noch eine nennenswerte Gruppe, die die AfD wählt, um pauschalen Protest auszudrücken. Wir haben das bei der Berichterstattung nach der EU-Wahl gesehen, wo Fernsehsender nach Ostsachsen gefahren sind und dort in Dörfern Leute befragt haben. Viele äußern ihre Unzufriedenheit mit der Politik. Für diese Menschen wäre es ein Angebot. Und für die anderen Parteien wäre es ein Signal, welches einem Hilferuf der Wähler gleicht, die sich nicht wahrgenommen fühlen.

Sie schlagen eine Stimme vor, die praktisch keine Auswirkung hat.

Es hätte lediglich eine Signalwirkung. Eine »Proteststimme« hätte keinen Einfluss auf die Zusammensetzung der politischen Vertretung. Darüber hinaus würde es insgesamt nur funktionieren, wenn die »Proteststimmen« ausgezählt und am Wahlabend auch bekanntgegeben werden.

Man müsste diese Menschen aber natürlich ernst nehmen, damit daraus ein Signal für die Parteienlandschaft wird. Ein Beispiel aus den Präsidentschaftswahlen in den USA zeigt, wie das funktionieren kann. Bei der Vorwahl in Michigan gab es bei den Demokraten einen sehr hohen Anteil von Menschen, die sich enthalten haben. Das ging weltweit durch die Medien und war so signifikant, dass Joe Biden bei der nächsten Rede zur Lage der Nation auf diese Wählerklientel einging.

Gibt es die Möglichkeit einer qualifizierten Enthaltung nicht, bleibt den Unzufriedenen nur, extrem zu wählen. Dabei müssen sich die Protestwähler klarmachen, dass sie damit auf eine völlig andere Gesellschaft setzen. Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung hatte bereits auf das Paradox aufmerksam gemacht, dass die AfD von Leuten gewählt wird, deren Lebenssituation sich verschlechtern würde, wenn die AfD an die Macht kommt.

Neben einer niedrigen Wahlbeteiligung könnte auch ein hoher Anteil von »Proteststimmen« zur Delegitimierung von Wahlergebnissen führen. Hat man am Ende nicht weniger Demokratie?

Das würde ich der »Proteststimme« nicht andichten. Ursprünglich geht die Idee darauf zurück, die Wahlbeteiligung zu steigern. Die ist allerdings nicht mehr so gering, wie noch vor einigen Jahren beklagt wurde. Die »Proteststimme« würde jedenfalls nicht auf Kosten der Wahlbeteiligung gehen. Es ist für die Menschen gedacht, die sagen, ich bin so sehr Demokrat, ich möchte mein Wahlrecht nutzen. Wenn sie dann niemanden finden, dem sie ihre Stimme geben wollen, dann hätten sie das Angebot einer »Proteststimme«, anstatt aus Verlegenheit oder Trotz die zu wählen, wo die Verunsicherung am größten ist.

Sehen Sie Alternativen, um Wählerschaft und Parteien zusammenzubringen?

Eine Möglichkeit wäre, ins Kommunalwahlrecht eine Experimentierklausel einzubauen, die den Kommunen die Möglichkeit gibt, das ein oder andere Instrument bei Wahlen auszuprobieren.

Ralf-Uwe Beck ist Bundesvorstandssprecher von Mehr Demokratie e. V.

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  • Leserbrief von Roland Winkler aus Aue (20. Juni 2024 um 10:56 Uhr)
    Aktionismus zeigt nur die Hilf- und Ratlosigkeit der Regierenden. Ihre Demokratie geht mehr und mehr den Bach runter, offenbart ihren wirklichen Charakter, der mit Demokratie nichts zu tun hat.
    Ihr angeblich überraschendes Entsetzen zum Wahlverhalten kann nur als Verlogenheit, Dummheit, Heuchelei oder reine Unkenntnis der Stimmungen und Meinungen der Bevölkerung gesehen werden. Osten durchgängig blau und AfD überall vertreten, auf Kurs Macht und das in dem Lande, das sich dem Antifaschismus und Antisemitismus verschrieben haben will. Gegen wen eigentlich?
    Nun die übliche Ursachensuche im Osten, wo DDR wohl nicht fehlen darf. Die begreifen gar nicht, dass die arbeitende Klasse im Osten zumindest das zunehmende Gespür, Instinkt entwickelt, dass sie beschissen wurden, nicht von der arbeitenden Klasse im Western, aber von den dort wie jetzt im Osten Herrschenden. Kapital, Klasse usw. sagt den wenigsten etwas, aber genau das reflektieren sie instinktiv. Es ändert sich auch nichts daran, dass die ostdeutsche Wählerschaft eben alternativ gewählt hat gegen das eigne Klasseninteresse. Auch da ein Stück Dialektik, wenn die eigne Klasse kein klassenmäßiges Konzept, Ziel und Alternative zu bieten hat, angekommen ist bei den Falschen, dann schlägt die Stimmung eben dahin aus, was Volk am ehesten versteht mit primitiven, platten, Losungen. Die heiligen und sich feiernden Demokraten im Lande werden sich bald fragen müssen, was sie von jeder Diktatur noch unterscheidet. Sie sind auf bestem Wege, dialektisch eben. Wenn die da oben nicht mehr demokratisch regieren können, dann greifen sie nach Diktatur – Beispiele lesen wir tagtäglich. Was soll Erfassung der Proteststimmen? Stück Diktatur? Reicht es nicht, wenn knapp die Hälfte der Bevölkerung der Demokratie fernbleibt?
  • Leserbrief von Andreas Kubenka aus Berlin (17. Juni 2024 um 16:51 Uhr)
    Herrn Becks Ansatz scheint mir doch sehr verschwurbelt. Einem Kreuzchen bei der »Proteststimme« sehe ich den Grund für den Protest so wenig an wie dem Nichtwählen. Den Nutzen solcher »Stimmen« hätte letztlich nur die Parteienoligarchie der Herrschenden. Wie diese will Beck offenbar – wie er es nennt – »extreme« Parteien bekämpfen. »Extremismus« ist bekanntlich ein politischer Polizeibegriff, den die Herrschenden gern gegen alle Missliebigen und Unbequemen – nicht nur Parteien – kehren. Auch jW dürfte das gut kennen.

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