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Aus: Ausgabe vom 20.06.2024, Seite 11 / Feuilleton
Kino

Mythos der Straße

Dokumentieren und glorifizieren. Von der historischen Fotoreportage zum Spielfilm: Jeff Nichols’ Rockerfilm »The Bikeriders«
Von Holger Römers
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Im Schatten der Motorräder: Tom Hardy und Austin Butler

»The Bikeriders« basiert auf dem gleichnamigen Buch, das 1968 in den USA veröffentlicht wurde und Fotos von Motorradfreaks aus Chicago und Umgebung mit Auszügen aus Interviews kombiniert, die der Fotograf Danny Lyon mit einigen Abgebildeten geführt hatte. Genauer gesagt: Diesem Spielfilm liegt eine veränderte Neuauflage jenes Klassikers der dokumentarischen Fotografie zugrunde, denn seine Handlung greift eine Information auf, die sich erst im 2003 erschienenen neuen Vorwort findet, in dem Lyon Nachrichten aus zweiter Hand zum weiteren Schicksal der porträtierten Rocker übermittelt. Ebenso treffend wäre es aber wohl, diesen Film als späten Gegenentwurf zu einem Song zu betrachten, der Textpassagen aus besagtem Buch paraphrasiert. Das Lied, das Jeff Nichols am Schluss seines sechsten Spielfilms einspielt, ist 2005 von Lucero, der Alternative-Rock-Band seines Bruders Benjamin, aufgenommen worden, der offenbar den Filmemacher just in jener Zeit für Lyons Werk begeisterte.

Kurzum, die Herleitung dieses Spielfilms aus einer dokumentarischen Quelle ist mehrfach vermittelt. Und diese indirekte Bezugnahme spiegelt wiederum das vielschichtige Spannungsverhältnis zwischen Subjektivität und Objektivität, das bereits die ungewöhnliche Form von Lyons Buch prägte. Der 1942 geborene Fotograf war als passionierter Motorradfahrer nämlich selbst Mitglied des Rockerklubs der »Outlaws« (die im Film nun »Vandals« heißen) geworden – jedoch in der Absicht, Material für sein erstes Buch zu bekommen, dessen Mischung aus Bildern und transkribierten Selbstbeschreibungen er als Antwort auf die Defizite des zeitgenössischen Fotojournalismus verstand.

Der 1978 geborene Jeff Nichols, der auch das Drehbuch zu diesem Film verfasst hat, stellt nun beiläufig eine der Alltagssituationen nach, in denen Lyon die »Objekte« seiner Kamera vor dem Mikrofon zu Wort kommen – und mithin zu Subjekten werden ließ. So erklärt sich zugleich der Kommentar der Protagonistin Kathy (Jodie Comer), der hier aus dem Off fast durchgehend das Geschehen begleitet, dessen Hintergründe andeutet und interpretierende Akzente setzt. Dabei stellt sich bei einem Blick in das historische Fotobuch heraus, dass nicht nur die meisten Episoden der Filmhandlung mindestens mittelbar auf den dort abgedruckten (mehr oder minder vertrauenswürdigen) Selbstauskünften beruhen, sondern dass neben vielen Sätzen Kathys auch mancher Dialog von Nebenfiguren fast wortgleich die dokumentarische Vorlage wiedergibt. Deshalb mag man dem Regisseur gern die in Interviews wiederholte Beteuerung glauben, dass seine britische Hauptdarstellerin im Bemühen, den Chicagoer Akzent des realen Vorbildes zu treffen, ihren gesamten Dialogtext anhand der originalen Tonbandaufnahmen mit Betonungszeichen markiert habe. Kameramann Adam Stone ahmt indes mindestens eins der alten Fotos nahezu 1:1 nach.

Dass Lyons Buch ausgeschnittene Programmhinweise auf eine zeitgenössische TV-Ausstrahlung von »The Wild One« (Laslo Benedek, 1953) abbildet, bietet Nichols wiederum den Anknüpfungspunkt für eine fiktive Gründungsgeschichte der Vandals: In einer kurzen Rückblende ist Klubpräsident Johnny (Tom Hardy) zu sehen, wie er vorm heimischen Fernseher vom Bild Marlon Brandos als Hauptdarsteller in jenem Hollywoodklassiker hingerissen wird. Reine Erfindung dürfte dagegen eine kurze Szene sein, in der ein anderer Rocker sich später von einem Kino engagieren lässt, um als Werbefigur für die lokale Aufführung von »Easy Rider« (Dennis Hopper, 1969) zu dienen.

Das wirft die Frage auf, inwieweit das Phänomen der Rocker stets einem Stereotyp entsprach oder irgendwann zu einem solchen gerann, wobei der Film freilich seinerseits das Spektrum der ursprünglich vielfältigen Kleidungsstile im Vergleich zu Lyons Bildern einengt. Indem Nichols die Handlung über die von Lyon dokumentierte Zeitspanne hinausgreifen und das Alter ego des Fotografen einige Jahre später noch einmal kurz auf ­Kathy treffen lässt, reflektiert er aber in jedem Fall, dass sich das Rockerstereotyp selbst gewandelt hat. Bei der Erstveröffentlichung des Fotobuches war noch nicht zu ahnen, dass aus dem Chicagoer Klub dereinst ein Global Player der organisierten Kriminalität werden würde. Da erscheint es durchaus konsequent, dass Nichols in Interviews die von ihm gewählte Erzählstruktur mit »Goodfellas« (1990) vergleicht. An Martin Scorseses Mafiauper erinnert jedenfalls die schwungvolle Aneinanderreihung pointierter Anekdoten, aus der sich erst allmählich ein dramatischer Kern herausschält. Der ergibt sich aus einer Dreieckskonstellation, die die unglückliche Kathy um die Zukunft ihres Ehemannes Benny (Austin Butler) ringen lässt, den Johnny als seinen Nachfolger gewinnen will.

Gemessen an der von Lyon im ersten Vorwort bekundeten Absicht, seinen Gegenstand »zu dokumentieren und zu glorifizieren« (»to record and glorify«) – eine Absicht, die Scorsese hinsichtlich der historischen Gangster wohl teilte – scheint Nichols zwar moralisch beklommen, aber er verkneift sich keineswegs eine lustvolle Verklärung, die hier vor allem der Zeichnung von Benny gilt. Dessen reales Vorbild ist in dem Fotobuch zweimal abgebildet, sein Gesicht indessen bleibt bezeichnenderweise unsichtbar. Umso willkürlicher lassen Regie und Montage also das Charisma (oder nennen wir es einfach: Sexappeal) von Butler wirken, der nach seiner Hauptrolle in Baz Luhrmanns »Elvis« den wortkargen, arbeitslosen Motorradfreak wie einen Zwilling des Kings of Rock ’n’ Roll aussehen lässt.

Da ist es vielleicht passend, dass der Filmschluss sich als bewusst biedere Alternative zu zwei Popphantasien auffassen lässt, in denen die legendäre Girlgroup The Shangri-Las zwei gegensätzliche Szenarien einer tragischen Mädchenschwärmerei ausmalte. Der eine Song, »Out in the Streets« (1965), wird in diesem Film auch tatsächlich eingespielt. Den anderen, »Leader of the Pack« (1964) natürlich, meint man wegen seines thematischen Bezugs zu halsbrecherischem Motorradfahren indes unweigerlich im eigenen inneren Ohr zu hören.

»The Bikeriders«, Regie: Jeff Nichols, USA 2023, 116 Min., Kinostart: heute

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