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Aus: Ausgabe vom 05.07.2024, Seite 5 / Inland
Pädagogische Qualität

Streik gegen Aufbewahrung

Sie passen auf, dass die Kinder sich nicht die Köppe einhauen. Mehr ist nicht drin. Im Erzieheralltag. Bericht von der Streikdemo in Berlin
Von Susanne Knütter
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Protestzug der Dompteurinnen für die kleinen Racker am Donnerstag in der Berliner Innenstadt

Entwicklung dokumentieren, Förderpläne schreiben, Elternberatung, Schautafeln erstellen, Küche, Wäsche, Garten, Reinigung. Im Arbeitsalltag der Erzieherinnen, die am Donnerstag vormittag mit Hunderten Kolleginnen und wenigen Kollegen durch Berlins Mitte demonstrieren, geht es viel um Schreibkram und Basales. Dass ihnen dafür ein Computer zur Verfügung steht oder Internet – ist auch im Jahr 2024 offenbar keine Selbstverständlichkeit. Zunächst wenig geht es um Kinderbetreuung in den Gesprächen am Rande des Protestzugs; nur nebenbei – so wie im Alltag der Erzieherinnen auch. »Wir passen auf, dass die Kinder sich nicht die Köppe einschlagen«, sagt eine Kollegin, die in einer Kita der Berliner Kindertagesstätten Süd-West in Lichterfelde arbeitet und in der Regel allein auf 16 Drei- bis sechsjährige aufpasst. Die meisten Erzieherinnen erzählen an diesem Tag, dass sie oft allein auf 15 bis 19 zwei- bis sechsjährige Kinder achten müssen, bisweilen sogar auf acht unter Dreijährige.

Die Ansprüche aber sind im Laufe der Jahre gestiegen. »Wir sind wie Packesel«, sagt eine Kollegin aus Tempelhof. Einerseits weil beispielsweise Wirtschaftskräfte, die früher die Reinigung übernommen haben, eingespart worden seien. Andererseits weil es viel mehr Kinder mit besonderem Förderbedarf gibt. Damit verbunden sind neue Aufgaben mit neuen Instrumenten (etwa Sprachlerntagebücher, »Beokiz«), mit denen die Kinder »am besten beobachtet« und ihr »Entwicklungsstand eingeschätzt« werden kann, um dann daraus die »richtige Förderung« abzuleiten. Die Anforderungen allein sind nicht das Problem. Da sind sich die Gesprächspartner einig. Die Umsetzung ist es, die dank Personalmangels und schlechter Personalschlüssel nicht möglich ist. »Es gibt keine Zeit für Beobachtung, um herauszufinden, was ein Kind besonders mag, was es vielleicht braucht«, kritisiert eine Erzieherin einer Integrationskita in Pankow. »Ein Kind braucht Hilfe beim Toilettengang, ein anderes braucht ein Taschentuch, zwei streiten, das fünfte möchte gern den Drachen mit dir zu Ende bauen. Dann hat eine Mutter noch eine Frage. Der Leitung fehlt noch irgendein Papier. Ach und rausgehen wollten wir ja auch noch.«

Ein anderes Beispiel: Die 60seitigen Förderpläne für »Integrationskinder«, also Kinder mit besonderen Bedarfen, etwa weil sie »Sprachbarrieren« oder »Verständnisschwierigkeiten« oder Probleme im emotionalen Bereich haben, müssen halbjährlich gecheckt werden, erklärt eine junge Kollegin einer Kita in Tempelhof-Schöneberg. Darin werden hehre Ziele festgehalten, wie Kinder, die zum Beispiel viel allein spielen, besser in die Gruppe integriert werden können. Etwa durch kleinere Gruppen. Oder Feinmotorik stärken, in dem mit dem Kind gepuzzelt oder geknetet wird. Das bleibt alles nur Theorie, selbst wenn keine Kollegin wegen Krankheit ausfällt.

Die Kollegin aus Tempelhof resümiert: »Für die High-class-Familien wird es schon alles in Ordnung kommen. Aber die Mittel- und Unterschichtkinder – wo die bleiben, ist egal.« In Sachen Integration habe sich in den vergangenen 40 Jahren, als sie selbst nach Deutschland kam, wenig geändert. Dabei bräuchte es heutzutage in jeder Kindergartengruppe eine Integrationserzieherin – extra zum Personalschlüssel dazu.

Aus Sicht des Berliner Senats vermutlich Extrawünsche. Der verweigert bereits seit mehr als zwei Monaten Verdi und GEW Tarifverhandlungen für pädagogische Qualität und Entlastung und schiebt formale Argumente vor. Die Tarifgemeinschaft der Länder sei für Tarifverhandlungen zuständig. Aber dass Entlastungsvereinbarungen auf Landesebene möglich sind, haben die Kolleginnen in den Krankenhäusern gezeigt. Im Bildungsbereich sind sie nur eine Frage der Zeit. Am Donnerstag beteiligten sich nach Gewerkschaftsangaben 3.000 Erzieherinnen der Berliner Eigenbetriebe an dem Ausstand. Für nächste Woche haben die Gewerkschaften bereits fünf Tage Streik angekündigt.

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