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Aus: Ausgabe vom 19.07.2024, Seite 11 / Feuilleton
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Die Rattenflüsterin

Unfälle in Sequenzen: Théa Rojzman und Bernardo Muñoz skizzieren das Leben der Radikalfeministin Valerie Solanas
Von Barbara Eder
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Anschaffen, um abzuschaffen: Valerie Solanas reflektiert sich

»Green Disaster« ist einer von mehreren Siebdrucken, die Anfang der 60er Jahre Andy Warhols »Factory« verließen. Die Serie basiert auf fotografischen Vorlagen, die den Alptraum eines urbanen Mittelschichtmilieus bebildern: Die geplante Fahrt ins Weekend endet nicht im Grünen, sondern mit einem katastrophalen Unfall; der entspannte Nachmittag in unberührter Natur findet nicht mehr statt.

Warhol war zu diesem Zeitpunkt bereits ein etablierter Popart-Star, seine »Factory« entwickelte sich zum angesagten Treffpunkt für Künstler, Schriftsteller, Musiker und Selbstdarsteller. Sie kultivierten den kühlen Ennui einer neuen Avantgarde und experimentierten auch mit synthetischen Drogen. Im sechsten Stock des Decker Building am New Yorker Union Square probte in regelmäßigen Abständen die Band The Velvet Underground, neben deren Sängerin Nico hatte Warhol auch andere Musen. Die Schriftstellerin Valerie Solanas gehörte von Beginn an nicht dazu.

In Théa Rojzmans und Bernardo Muñoz’ Graphic Novel »Scum. Die Tragödie von Valerie Solanas« ist bereits die erste Begegnung mit Andy Warhol fatal. Dessen Assistent nennt Valerie eine »flohverseuchte Hure«, Warhol selbst wird sie später auch als seine »kleine Wildkatze« bezeichnen. Der weißhaarige Dandy mit Radical-Chic-Attitüde will die obdachlose Autorin als »vulgäres Stück Scheiße« am Präsentierteller der Arthouse-Avantgarde servieren, doch sie weigert sich – und schlägt zurück: Am 3. Juni 1968 schießt Valerie Solanas dreimal hintereinander auf Warhol und verletzte ihn schwer. Auch für sie wurde dieser Tag zum Beginn eines langen Ganges vor die Hunde. Gegenüber der Polizei gab sie vorerst an, aus Notwehr gehandelt zu haben; wenige Wochen später fand sie sich in der psychiatrischen Abteilung des Elmhurst Hospital Center wieder, die Diagnose: Paranoide Schizophrenie, gepaart mit schweren Depressionen.

Es wäre zu einfach, Solanas’ Attentat zur Folge einer Psychopathologie zu erklären. Anfangs hatte die Autorin nicht weniger im Sinn als die meisten Künstler im Umfeld der »Factory«: In ihrem narzisstischen Anspruch, groß rauszukommen und in die Geschichte einzugehen, stand sie diesen um nichts nach. Ihre Tat rückt Solanas in die Nähe zu anarchistisch motivierten Attentäterinnen. Anders als jene, die in politischer Absicht handelten, blieb die homosexuelle Autorin aus New Jersey zeitlebens jedoch eine Mandatarin ohne Auftrag. Die »Society for Cutting Up Men« (SCUM), auf die sie sich berief, hat es realiter nie gegeben. Es ist der Name eines von Valerie Solanas singulär verfassten und im Straßenverkauf vertriebenen Manifests, der Titel bedeutet auch: Dreck, Schmutz, Abschaum.

Im »SCUM-Manifest« formuliert Solanas ihre radikalfeministischen Anliegen staccatohaft im Prä-Punk-Stil. Sie schafft an, indem sie abschafft – alle weiblich konnotierten Fortpflanzungsaktivitäten zum Beispiel, die klassische Kleinfamilie und sämtliche Blue-Color-Arbeiten, die das kleine Glück in den USA der Nachkriegszeit konservierten. »Alle nichtkreativen Jobs (praktisch alle heutigen Jobs)« überantwortete sie den Maschinen – überzeugt davon, mit Hilfe von Technik das zu bewirken, was politisch bislang uneinholbar geblieben ist. Erst dann, so die utopische Erwartung, könne »jede Frau von allem, was sie will, das beste und in jeder Menge« haben – abseits patriarchaler Herrschaftsformen, die sich vor allem im Geldsystem manifestierten.

Von Warhols Ideen waren die von Solanas nicht allzu weit entfernt – Campbell’s-Suppendosen dienten beiden als ultimative Realisierung der US-amerikanischen Dream Machine. Solanas selbst wollte dennoch kein »Vatiprodukt« sein. Das erhabene Geschlecht hatte für sie einen eindeutigen Chromosomensatz – und das Fortbestehen des Lohnarbeitsregimes war nicht mehr als ein Mangel an Automation. Im Buch wirken die Bewohner von Warhols »Factory« auf sie immer wieder wie Schweine im Frack; »Sex ist das Asyl der Bewusstlosen«, heißt es dazu im SCUM-Manifest. Seine Autorin lebte lumpenproletarisch und finanzierte ihr Schreiben durch Sexarbeit und Gelegenheitsjobs. Von Freiern verlangte sie stets einen Dollar extra für SCUM, die Frauenbefreiung und das Ende des Kapitalismus – von Freundinnen nicht.

Valerie Solanas’ Geschichte ist die einer Deklassierung – und zugleich jene einer Klasse »für sich«, die noch nicht ist. Die Graphic Novel »Scum« skizziert das Drama der verfemten radikalfeministischen Revolutionärin aus unterschiedlichen Perspektiven. Anfangs ist die Psychologiestudentin Teil einer Bohème mit Hang zu Gelegenheitsverschwörung und Ladendiebstahl, im Greenwich Village haust sie zwischen Mülltonnen und begegnet Bob Dylan auf der Straße. Gegen Ende des Buches fällt sie wiederholt aus dem Bildrand und spricht zuletzt aus einem schwarzen Loch heraus. Es ist ihre Wut, die sie durch den Fußboden hat brechen lassen – und von ganz unten meldet sich das beschädigte Ich zurück. Zwischendurch verdoppelt sich die Protagonistin immer wieder – im Zeichen einer psychotischen Realitätsabwehr: Solanas, mit sich selbst versöhnt, umarmt ihr abgespaltenes Selbst. In den New Yorker Tenements ist dann einen Moment lang Ruh’.

Bernardo Muñoz’ sequentielle Szenerie erinnert stilistisch an Will Eisners frühe Mietshausgeschichten, ebenso an seine späte Oliver-Twist-Adaption »Ich bin Fagin«. Solanas wird im Buch zur Wiedergängerin, die rastlos zwischen Straße, Hörsaal und »Factory« pendelt – in Bildern grober Körperlichkeit und vom Drogenkonsum gezeichnet. Indem sie ihren Körper wegwirft, entzieht sie sich gleichermaßen der Produktion und der Reproduktion. Eine Ratte mit wechselnden Namen wird zu ihrer festen Begleiterin. Als sprechendes Tier weiß sie stets die ganze Geschichte zu erzählen – mitsamt den entscheidenden Passagen aus dem »SCUM-Manifest« und den Erfahrungen sexualisierter Gewalt. Inmitten dieser Bilder finden sich die Metatexte zu einem Unfall, der keiner war.

Théa Rojzman und Bernardo Muñoz: Scum. Die Tragödie von Valerie Solanas. Bahoe Books, Wien 2024, 120 Seiten, 26 Euro

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  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Verena B. aus Berlin (19. Juli 2024 um 17:55 Uhr)
    »SCUM« von Valerie Solanas ist eine wütende Satire, aber kein Teil von Feminismus. Radical Feminists wie Shulamith Firestone haben das noch Jahre später deutlich gemacht. Firestone ahnte wohl, dass Solanas im Sinn von »Sex and Crime zieht immer« vereinnahmt werden würde, um den Radical Feminism als absurd und lächerlich darzustellen. Nach den Schüssen auf Warhol und seine Begleiter wurde Solanas selbstverständlich von Radical Feminists solidarisch unterstützt. So von Ti-Grace Atkinson und Florynce Kennedy als Anwältin. Atkinson sagte später (Breanne Fahs, Firebrand Feminism 2018), Solanas sei Teil ihres Archivs, aber nicht ihres feministischen Archivs. Die Schüsse waren auch von Solanas nicht als feministischer Akt gedacht. Warhol hatte das einzige Manuskript eines ihrer Theaterstücke verloren und eine Gagenerhöhung für ihre Mitwirkung in einem Film abgelehnt. Einige Feministinnen begrüßten die Schüsse als Signal der berechtigten Wut der Frauen. So z. B. Roxanne Dunbar und Dana Densmore von Cell 16. (Fahs 2018) Diese Gruppe sei vor allem von Trotzkistinnen der SWP geprägt gewesen. Eine Idee, dass Schüsse ohne politische Theorie dahinter im Sinn von Befreiung wirken könnten, wäre allerdings ebenso untrotzkistisch wie unfeministisch. Die Schriftstellerin Solanas selbst wurde durch die Schüsse für alle Ewigkeit dazu verdammt, auf ein durchgeknalltes Anhängsel von Warhol reduziert zu werden. Solanas war geflüchtet vor sexualisierter Gewalt ihres Erzeugers und versuchte sich mit Prostitution und Ladendiebstahl über Wasser zu halten. Das war kein Lifestyle, das war Not. Sie wurde nicht »deklassiert«, sie war schon immer unten. Eine ernsthafte Biografie hat Breanne Fahs geschrieben. (The defiant life of the woman who wrote scum, 2014)
  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Ronald B. aus Kassel-NORD! (19. Juli 2024 um 08:21 Uhr)
    »Sie kultivierten den kühlen Ennui einer neuen Avantgarde« – ich glaube es auch – und das ohne die geringste Ahnung zu haben, was das (französische?) Wort »Ennui« denn überhaupt bedeutet …

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