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Aus: Ausgabe vom 22.07.2024, Seite 4 / Inland
Rüstungsspirale

Baerbock kontert Bedenken

Außenministerin betont angebliche Notwendigkeit für Langstreckenraketen in der BRD. SPD-Fraktionschef Mützenich warnt vor Eskalation
Von Kristian Stemmler
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Die »Tomahawk«-Marschflugkörper werden von Kriegsschiffen wie der »USS Gravely« abgefeuert (3.2.2024)

In der Ampelkoalition sind die Rollen klar verteilt. Nachdem Verteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) die geplante Stationierung von Langstreckenwaffen der USA in Deutschland für unverzichtbar erklärt hatte, hat der SPD-Fraktionsvorsitzende Rolf Mützenich Bedenken geäußert. In einem am Sonnabend veröffentlichten Interview mit den Zeitungen der Funke-Mediengruppe warnte Mützenich davor, dass die Pläne zu einer militärischen Eskalation führen könnten. Außenministerin Annalena Baerbock (Bündnis 90/Die Grünen) betonte dagegen am Sonntag die angebliche Notwendigkeit des Vorhabens.

Gut eine Woche zuvor hatten am Rande des NATO-Gipfels in Washington die US-Regierung und die Ampelkoalition von SPD, Grünen und FDP publik gemacht, dass die USA von 2026 an in Deutschland wieder Waffensysteme stationieren wollen, deren Reichweite Angriffe bis weit in russisches Territorium hinein erlaubt, darunter Marschflugkörper vom Typ »Tomahawk«. Diese können auch ­nuklear bestückt werden.

Gegen die Rüstungspolitik der Bundesregierung hat Mützenich keine grundsätzlichen Einwände. So stellte er nicht in Zweifel, dass die Verteidigungsfähigkeit »angesichts des russischen Überfalls auf die Ukraine« verbessert werden müsse. Nur dürften »die Risiken einer Stationierung« nicht ausgeblendet werden. Die Raketen hätten »eine sehr kurze Vorwarnzeit« und eröffneten »neue technologische Fähigkeiten«. Die Gefahr einer unbeabsichtigten militärischen Eskalation sei »beträchtlich«.

Die russische Regierung hatte am Donnerstag gewarnt, es gebe »eine breite Palette von Optionen«, um »die effektivste Methode zu finden, um auf die sich verändernden Herausforderungen zu reagieren«, wie Russlands Außenminister Sergej Rjabkow laut Nachrichtenagentur TASS erklärte. Man schließe auch nicht die Stationierung von Atomraketen aus. Vielleicht war es diese Ansage aus Moskau, die Mützenich zu seiner medialen Intervention motivierte.

Auch ohne die neuen Systeme verfüge die NATO über »eine umfassende, abgestufte Abschreckungsfähigkeit«, argumentierte der Fraktionschef. Ihm erschließe sich auch nicht, »warum allein Deutschland derartige Systeme stationieren soll«. Mützenich wünsche sich, »dass die Bundesregierung ihre Entscheidung einbettet in Angebote zur Rüstungskontrolle« und bekräftigte seine Forderung, perspektivisch die in der BRD lagernden US-Atomsprengköpfe abzuziehen. Dies sei in der NATO aber »gegenwärtig nicht mehrheitsfähig«.

Der russische Präsident Wladimir Putin habe »das Arsenal, mit dem er unsere Freiheit in Europa bedroht, kontinuierlich ausgebaut«, konterte Baerbock am Sonntag ebenfalls gegenüber der Funke-Mediengruppe. Dagegen müssten sich die BRD und »unsere baltischen Partner« schützen, auch durch »verstärkte Abschreckung und zusätzliche Abstandswaffen«. Alles andere wäre »nicht nur verantwortungslos, sondern auch naiv gegenüber einem eiskalt kalkulierenden Kreml«, sagte die Außenministerin.

Ungeachtet der Tatsache, dass die USA 2002 aus dem die Aufrüstung begrenzenden ABM-Vertrag ausstiegen, behauptete die Grünen-Politikerin, Russland habe schon vor Jahren mit Abrüstungsverträgen und der gemeinsamen europäischen Friedensarchitektur gebrochen. Putin wolle »uns damit Angst machen, unter Druck setzen und unsere Gesellschaften spalten«. Man wolle eine andere Beziehung zu Russland, aber die »traurige Wahrheit« sei, dass Russland »derzeit die größte Sicherheitsgefahr für uns und unseren Frieden in Europa« darstelle.

Dies findet sich auch in einem Schreiben von Auswärtigem Amt und Verteidigungsministerium an den Auswärtigen Ausschuss des Bundestages wieder, aus dem der Spiegel am Freitag zitiert hatte. Darin wird die geplante Stationierung mit dem Argument begründet, Russland habe »in den vergangenen Jahren massiv im Bereich weitreichender Raketen und Marschflugkörper aufgerüstet«. Russland bedrohe mit seinen Waffen die Länder Europas, auch verbal würden aus dem Kreml immer wieder Drohungen folgen. Vor dem Hintergrund dieser Bedrohungslage wolle die Bundesregierung die »europäische Luftverteidigung« verstärken. Bevor eigene Waffen entwickelt werden, sollten nun phasenweise weitreichende US-Waffensysteme in Deutschland stationiert werden. Das diene »der Abschreckung und Verteidigung« gegenüber der »von Russland ausgehenden Bedrohung«.

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  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Manfred P. aus Hamburg (23. Juli 2024 um 19:40 Uhr)
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    • Leserbrief von Reinhard Hopp aus Berlin (25. Juli 2024 um 16:46 Uhr)
      1917 gab es noch keine UdSSR. Sie wurde erst am 30. Dezember 1922 gegründet und endete am 21. Dezember 1991.

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