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Aus: Ausgabe vom 02.08.2024, Seite 10 / Feuilleton
Literatur

Schöne Augen

Eine Reise ohne Ziel, die es in sich hat: Maya Binyams Debütroman »Galgenmann«
Von Patrick Hönig
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Der Held dieses schmalen Debüts ist namenlos. Jemand hat ihn am Morgen angerufen und gesagt, er möge einen Flug nehmen. Alles ist fertig gepackt und ein Auto kommt, um ihn zu holen. Man weiß gleich, dass diese Reise nicht an ihren Ursprungsort zurückführt. Noch bevor wir die erste Seite umgeschlagen haben, sind wir in eine Parallelwelt abgebogen. Das Radio meldet einen Stau, aber als das Auto die besagte Stelle passiert, läuft der Verkehr flüssig. Beim Aussteigen reicht man dem Passagier seine Jacke, in der Brusttasche steckt das Ticket.

Es wird eine Reise voller Begegnungen ohne erkennbares Ziel, in eine Welt, die von absurden Begebenheiten strotzt. Der Schlüssel zu allem ist die Sprache. Kaffee oder Tee? fragt die Flugbegleiterin, und der Fluggast weiß nicht recht. Die Flugbegleiterin wechselt die Sprache, und jetzt merkt der Fluggast, dass er Kaffee möchte. Zucker dazu? Nein, sagt er, aber die Flugbegleiterin hat wieder die Sprache gewechselt und gibt ihm trotzdem Zucker. Eine alltägliche Szene, möchte man meinen, aber sie verrät viel über die kognitive Disposition der Sprechenden, über die Macht der Bilder, die man von den Dingen hat, über die man spricht.

Mit jedem Gespräch, das der Reisende führt, erfährt man mehr über die Welt, in die er eintaucht. Die Mitarbeiterin einer Entwicklungshilfe­organisation erzählt, dass sie ein Baby adoptiert hat, dessen Mutter bei der Geburt gestorben und dessen Vater bei dem Versuch gescheitert ist, den Folgen der Klimakrise zu trotzen. Die Ernte ist vertrocknet, das Vieh verdurstet. Jetzt ist sie auf dem Weg zurück ins Dorf, sagt sie, um weiter »an gegenseitigem Verständnis« zu arbeiten. Zwei Studierende streiten über das »Wesen von Geschichte«. Der eine meint, dass sich auch progressive Gesellschaften dem »zyklischen Wesen menschlichen Verhaltens« nicht entziehen können und Geschichte dazu verdammt ist, sich zu wiederholen. Der andere widerspricht. Er glaubt, dass unterdrückte Menschen sich zusammenschließen und Strategien ausdenken, um zu überleben. Diese Strategien kratzen mit der Zeit an dem globalen Narrativ, das den Regierten Machtlosigkeit zuschreibt und den Regierenden politische Stärke. Geschichte, sagt er, ist definiert über die »kreativen Lösungen gewöhnlicher Menschen«.

Endlich bietet eine Frau mit »gelben Haaren« dem Reisenden »Erlösung« an. Sie führt ihn zu einem Bungalow, der, wie er feststellt, früher ihm gehört hat. Ein Mann, der sich per Blickkontakt bei allen im Raum versichert, für sie sprechen zu dürfen, behauptet, in einem Land geboren zu sein, in dem sich »alles Wichtige« befindet, »zum Beispiel der Garten Eden«. Dann fragt er, ob der Besucher das Angebot der Erlösung annehmen will, aber bevor es dazu kommt, nimmt die Handlung eine unerwartete Wendung. Als der Reisende wieder aufbricht, zeigt sich die Frau mit den gelben Haaren brüskiert. »Schließlich waren Religion und Sex doch dasselbe: Irgendjemand wollte immer mehr.«

Die Erzähltechnik, der sich die Autorin Maya Binyam in ihrem Roman »Galgenmann« bedient, ist so raffiniert wie verstörend. Mit jeder Begegnung erfahren wir nicht nur mehr über das Land, das der Protagonist bereist, sondern auch über die biographischen Linien, die zerschnitten sind, seit er es als junger Mann verlassen hat. Von sich selbst sagt er, dass die traumatischen Dinge, die er erlebt hat, hinter ihm liegen, aber das Ich, das erzählt, kommt ohne Namen aus und lässt Gefühle nicht zu. Binyam, geschult in diversen US-amerikanischen Schreibwerkstätten und inspiriert von einer Reise, die sie, wie sie in einem Podcast erzählt, mit ihrem Vater nach Äthiopien gemacht hat, setzt Sätze wie ein Maurer Ziegeln setzt, einen nach dem anderen, Reihe für Reihe. Am Ende des Textes steht eine Mauer, die alles Licht nimmt. Den Titel – »Hangman« im englischen Original – verdankt der Roman vielleicht nicht zufällig einem Spiel, in dem es darum geht, aus einzelnen Buchstaben ein Wort zu erraten. Bei jedem Fehlversuch gibt es auf dem Blatt Papier einen Strich, bis da, Strich für Strich, ein Galgen Form annimmt, an dem der Mitspieler, wenn er sich mit dem Raten zu oft vertan hat, am Ende baumelt.

Das Wenige, das der Protagonist dieser Geschichte auf seiner Reise mit sich führt, geht nach und nach verloren – der Koffer, das Geld, der Pass, schließlich die Kleider, die er am Leibe trägt. Am Ende trägt er Plastik­latschen, dazu ein rosa Hemd und eine braune Hose, die man ihm aus dem Wäscheberg der Altkleidersammlung gereicht hat. Die losen Fäden fügen sich zu einem Gesamtbild, der Leser versteht, was passiert ist. Man sieht die Bilder vor sich, die im Mai 2020 von Minneapolis aus in die ganze Welt gingen, ein am Boden liegender schwarzer Mann, dem ein weißer Polizist die Luft abdrückt, bis er erstickt. »Ich kriege keine Luft mehr«, sind seine letzten Worte.

Das Umschlagmotiv der deutschen Ausgabe ist ein Ausschnitt aus einem der bekanntesten Werke der kubanischen Künstlerin Belkis Ayón: »La Cena«, das letzte Abendmahl. Wie passend, dass die Figuren Augen haben, um zu sehen, was um sie herum passiert, aber keinen Mund, um zu sprechen.

Maya Binyam: Galgenmann. Aus dem amerikanischen Englisch von Eva Kemper. Aufbau-Verlag, Berlin 2023, 220 Seiten, 22 Euro

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