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Aus: Ausgabe vom 31.08.2024, Seite 11 / Feuilleton
Literatur

Die Welt am Eingang der Pubertät

Ende der Ordnung. Patricia Hempels Roman »Verlassene Nester«
Von Ken Merten
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Liest vor: Patricia Hempel

Man möchte meinen, die DDR sei nur geschaffen, gewesen und untergegangen, um hinterher mit ordentlich viel Stasikitsch das Kinopublikum zu belästigen und großbundesdeutsche Bücherregale zu verstopfen. Die Sieger foltern munter fort.

Soll jedoch nicht heißen, dass dabei grundsätzlich nur Kolportagen entstehen müssen, in der Kommunisten als Nazis aus der Hölle zur Einrichtung ebenjener auf Erden auftreten, packt man den Realsozialismus an. Charlotte Gneuß’ vieldiskutiertes Debüt »Gittersee« aus dem vergangenen Jahr war so übel nicht, bekam der Jugendroman von Ingo Schulze auch Rüffel wegen Authentizitätslöchern. Aber manche davon halfen dabei, das auszuleuchten, was Coming-of-Age-Literatur als Genre ausmacht. Und andererseits kam Gneuß mit ihrer Figur des Offiziellen Mitarbeiters als ambivalentem Kümmerer der Realität weit näher als andere, die nach der Recherche tunlichst vermeiden würden, eine ihrer eindimensionalen Figuren in die ekle Elbe springen oder »Plastik« sprechen zu lassen.

Auch Patricia Hempels Roman »Verlassene Nester« spielt an der Elbe, aber etwas später und von Dresden aus weiter flussabwärts, dort, wo der Grenzfluss die Systeme voneinander trennte. Das war einmal, und überhaupt arbeitet Hempel in ihrem zweiten Roman (2017 erschien ihr minnepopliterarischer Erstling »Metrofolklore«, ein großartiges Werk) mit Gewesenem wie Niegewesenem, also Märchen: »Im Tausch gegen meine Mutter hatte ich mehrere Väter bekommen«, sagt die am Anfang ihrer Pubertät stehende Hauptfigur Pilly. »Einer zündete Laternen an und erzählte die besten Geschichten. Früher hatte ich an einen Mottengeist geglaubt, der immer dann in meinem Zimmer spukte, wenn ich nicht ordentlich staubwischte. Er ließ Glühbirnen flackern, konnte Zimmerpflanzen verrücken oder sogar Bücher im Raum schweben lassen. Ich hatte nie herausgefunden, wie mein Papa diese Kunststücke hinbekam.« Der einzige Geist, den Pillys Papa nunmehr beschwört, ist der aus der Flasche.

Der andere Papa, das Alter Ego mit zunehmender Spielzeit: Aus einem Vielschlucker, der vermutet, man habe ihm ein Kuckuckskind untergeschoben, ist ein hemmungsloser Säufer geworden, der die Alleinerziehung Pillys nur durch Beihilfe der pensionierten Lehrerin und meteorologisch-ornithologischen Autorität Hedwig Klinge schafft, »die schrullige Parteihexe«, wie andere sie nennen, die sich von ihr strukturell verpfiffen fühlen. Das abwertende Agitpropschema von Tätern, deren Helfern und Opfern aber wird hier nicht bedient: Beim Stammtisch gehen die Meinungen wild durcheinander, mal wird weniger mit dem, was die Treuhand bringt, gehadert, mal mehr die Illusion geschürt, dass das mit dem Sozialismus noch nicht ganz abgewickelt ist. Auch die Fremdenfeindlichkeit – in Hoyerswerda und Rostock-Lichtenhagen blutiger Ernst geworden – wird an der Elbe wieder sukzessive zur materiellen Gewalt, weil sich entlassene vietnamesische Vertragsarbeiterinnen und -arbeiter in den Gärten niederlassen, die die meisten ihrer Besitzer der Verwahrlosung übereignet hatten und deshalb wiederhaben wollen, um sie zu verscherbeln und gen Westen abzuhauen. Eine ökonomisch bedingte Migration, die den »Fidschis« und »Jugos« rassistisch vorgeworfen wird, wie Katjas Vater anmerkt: »Genauso denken die Wessis, wenn die Leute von hier nach drüben gehen. Manche hätten gerne den Vorhang wieder, das glaub mal.«

Pilly hat mit den Debatten um abgerissene Vorhänge und schließende Fabriken wenig zu tun, schließlich ist sie beschäftigt, weil schwer verschossen in Klassenkameradin Katja, ohne das genauer fassen zu können. Zur Irritation darüber, wie Liebe und sexuelle Attraktion überhaupt einzuordnen sind, kommt die, dass es außerhalb dessen ist, was allgemein vorgelebt wird, wenn ein Mädchen auf ein Mädchen steht. Naja, Pillys Tante Katharina (»Tante Fuchs«) lebt mit Tante Eli zusammen. Gelabelt ist die Wohngemeinschaft aber natürlich nicht als Beziehung, sondern so, wie man heute noch lesbische Beziehungen nicht nur in Rosamunde-Pilcher-Filmen übertüncht: Da hausen zwei enge Freundinnen zusammen, »die welken Jungfern«, die selbstredend »keinen abbekommen hatten«.

Hempel verzahnt nicht nur Coming-of mit ersten Flugversuchen hin zum Coming-out, sondern Konflikte um Schuld im Familien- wie im Gesellschaftskreis. Wirklich unschuldig ist da niemand; spitzelnde bzw. egomane Arschlöcher aus Selbstzweck gibt es jedoch auch keine.

In »Verlassene Nester« steht nichts als Selbstzweck da, nicht einmal die Eisenbahn, die Pillys Vater manisch als Heileminiweltersatz gebastelt hat, ein getreuer Nachbau Mitteldeutschlands und seiner Schienenwege. Modellhaftes Residuum dessen, was unweigerlich verlorengegangen ist: »die unbestreitbare Ordnung«, die in der Größe 1:1 nur noch arg lädiert und in Rudimenten vorhanden bleibt. Darüber schwebt der Schatten der einst des Schleusens verdächtigen und republikflüchtigen Rabenmutter, die zum Totschlag ausholende Treuhand und der eigenwillige Kopf von Sommercrush Katja. Hacks verzeih, aber die Liebe und der Niedergang sind so mitsammen darstellbar: Wenn der Niedergang gar keiner ist, sondern nur die Welt am Eingang der Pubertät.

Patricia Hempel: Verlassene Nester, Tropen-Verlag, Stuttgart 2024, 304 Seiten, 24 Euro

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