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Aus: Ausgabe vom 02.09.2024, Seite 11 / Feuilleton
Kino

Die Tüte als Topos

Die Freiheit ist eine Katastrophe: Der dystopische Animationsfilm »Schirkoa: In Lies We Trust«
Von Robert Best
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Savoir-vivre in Schirkoa: Lasst uns rauchend und trinkend auf dieser Straße uniform alt werden

In »Schirkoa« tragen alle Menschen Papiertüten über dem Kopf, mit einer Kennnummer darauf und Löchern zum Gucken und Atmen. Das ist Vorschrift, so werden angeblich Konflikte vermieden. Viele haben noch nie ihr eigenes Gesicht gesehen. Wie rauchen, trinken, essen und küssen die Leute? Man weiß es nicht. Zwischendrin streicht mal eine Katze durchs Bild, ohne Tüte. Im Kino ist das ein Blickfang, falls es nicht knüppelhart zwei Stunden durchgezogen wird. Beschränkung ist gefragt wie im Stummfilm: Gestik wird wichtig, und Dialoge (statt Mimik).

»Schirkoa« ist der düster dystopische, aber auch lustig absurde Debütlangfilm des indischen Regisseurs Ishan Shukla, zwischen 2D und 3D angesiedelt, unter Nutzung der sonst bei Computerspielen zur Anwendung kommenden »Unreal Engine«. Die Tütenköpfe im Nieselregen zwischen Leuchtreklamen von Bordellen und Bars wirken wie weich konturiert animierte photorealistische Malerei. Für die Stimmen wurde ein Indiecast erster Güte zusammengestellt: (in der OV) unter anderem Golshifteh Farahani, Asia Argento, Soko, King Khan, Lav Diaz und Gaspar Noé. Zu der Idee mit den Tüten wurde Shukla nach eigener Auskunft durch die gleichförmig resignierten Gesichter in der Singapurer U-Bahn inspiriert.

Eine von amorphen Zombies bevölkerte Öffentlichkeit: ein gängiger Topos, hier mit Tüten. Aus dieser Monotonie brechen immer wieder Minirevolten aus, die von umgehend auftauchenden Robocops niedergeknüppelt werden.

Schirkoa ist der Name eines Gemeinwesens ungewissen Umfangs. Dehnt es sich über einen Subkontinent aus, über die ganze Welt? Den hauptsächlich in Hochhäusern hausenden Menschen wird an jeder Kreuzung per Bildschirm oder Lautsprecher eingetrichtert: »Gleich zu sein, ist die richtige Art zu leben.« Es handelt sich bei Schirkoa eher um eine Theokratie als um einen Rote-Khmer-Ableger. Man kann es hier schon aushalten: »Lass uns rauchend und trinkend auf diesem Balkon alt werden«, sagt der gutmütige 197A zu seiner rebellischer gestimmten Gefährtin 242F, »wir haben hier doch alles.« Die Obrigkeit lässt regelmäßig verlauten, man möge sich an die vagen Schlagworte »Sicherheit, Vernunft, Heiligkeit« halten, damit ein mysteriöser »Lord O« alle beschütze. Ein Hauch von Orwell und Kafka zieht durch den Film. Jeder soll seinem sicheren, vernünftigen, heiligen Weg nach- und den anderen aus dem Weg gehen, dann passiert auch nichts. Allerdings auch nichts Interessantes, Eigenes, Anderes, Befreiendes.

Und so suchen Individuen, die ihre Tüten eine Spur zu demonstrativ ­punkig anmalen, ihre Auswege. Selbstmord wäre einer. Ein von Gerüchten umranktes freies Land ohne Tütenzwang hinter der Grenze ein anderer. Existiert es? Wenn ja, wie kommt man dorthin? Ein Teil des Films bietet einen Einblick in eine hippieeske, bunte, indisch anarchische Welt namens Konthaqa. Im Handumdrehen wird die Optik gewendet. Von Science Fiction mit Noir-Einschlag geht es in Richtung surrealer Bildwelten à la Alejandro Jodorowsky. Ist Konthaqa mehr als eine Chimäre? Ist diese Welt so frei, wie sie sich gibt? Einmal heißt es ominös: »Wenn dich die Freiheit heimsucht, ist das eine Katastrophe.« Auf jeden Fall folgt das Leben in Kon­thaqa anderen Regeln als in Schirkoa und durchbricht dessen Gefängnis der Berechenbarkeit.

»Schirkoa« basiert auf einer Graphic Novel von 2012 und einem Kurzfilm, mit dem Shukla 2016 für Aufsehen sorgte. Die jüngste Inkarnation lässt in Sachen Figurenzeichnung und Plot zwar einige Wünsche offen. Sie entlohnt aber mit ungewohnten Bildern und einer poetischen Phantasie, der man sich zuweilen einfach hingeben kann. Etwa wenn ein Künstler mit Engelsflügeln schwerelos von der Bühne schwebt, nach den dreifach wiederholten Zeilen »Als ich Frieden gemacht hatte mit dieser Perfektion, erlosch mein Widerstand«. Das passt auf eine traumlogische Art perfekt zusammen. Falls es sich lohnt, darüber nachzudenken, kann man das getrost auf den Abspann verschieben.

»Schirkoa: In Lies We Trust«, Regie: Ishan Shukla, Indien/Frankreich/BRD 2024, 103 Min., bereits angelaufen

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