Osträtsel gelöst
Nachdem alle Deutungsversuche den Osten immer nur rätselhafter erscheinen ließen, hat der DLF am Dienstag nun endlich Wolfgang Thierse ausgegraben. »Ich bin in Thüringen aufgewachsen«, erklärte der 80jährige den Nachgeborenen. »Ich dachte, ich kenne Land und Leute gut.« Daraus ergab sich das Rollenfach, mit dem er es so weit gebracht hat in der Berliner Republik: »als Sprecher der Ostdeutschen, als einer, der das Befinden der Ostdeutschen zur Sprache bringt«, wie er am Dienstag erklärte, um konsequent einzuräumen: Das neueste Landtagswahlergebnis »fühlt sich an wie eine persönliche Niederlage«. »Tief bestürzt« über »das Ausmaß von Hass und Verachtung«, das im Osten »Demokraten« wie ihm entgegenschlägt, kann König Fusselbart das alles dennoch gut erklären: Im Osten »erwartet man von denen da oben, von der Politik, dass sie liefert, und vergisst dabei, dass man (…) selber sich in die mühseligen Prozesse der Demokratie begeben soll«. Wenn das nicht die Erklärung ist, auf die auch Thüringen so lange gewartet hat! (xre)
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Wolfgang Thierse als Ostversteher will nun das Rätsel gelöst haben. Was hat er Fundamentales herausgefunden? Nichts, gar nichts, was eine Erklärung sein könnte. Im Osten »erwartet man von denen da oben, von der Politik, dass sie liefert, und vergisst dabei, dass man (…) selber sich in die mühseligen Prozesse der Demokratie begeben soll«. Er hat also nicht mehr als eine Binsenwahrheit ausgesprochen, die uralt ist und überhaupt kein typisches Merkmal des Ostens ist. Er hat nicht mehr als einen wesentlichen Inhalt wahrer Demokratie ausgesprochen, der in West wie Ost gleichermaßen kaum ausgeprägt und entwickelt ist, in vier Jahrzehnten DDR verheißungsvolle Ansätze hatte und zumindest politisch und staatlich erwünscht waren. Davon weiß ein Thierse freilich nichts. Da liegt auch seinesgleichen Dilemma mit dem Rätsel Ost begraben. Die Thierses zahllose Bürgerbewegte bis zu den Feinden der DDR glauben bis heute für die Seelenverfassung der Mehrheit der DDR-Bevölkerung und der nachkommenden Generation im Osten sprechen zu können und dürfen. Sie glauben die Mehrheit des Ostens in ihrer Meinung zu DDR und irgendeinem Bild davon zu verkörpern. Sie können nicht begreifen, dass große Teile der Ostbevölkerung ein ganz anderes Erinnern und Empfinden zu ihrer DDR-Vergangenheit haben, selbst wenn sie gefallsüchtig und herrschaftshörig lieber das sagen, was erwünscht ist. Die Mehrheit im Osten hat nicht 40 Jahre gelitten, in Ketten gelegen, in Angst und Schrecken vor der Stasi gelebt oder auch nicht in ärmsten Verhältnissen dahinvegetiert. Das Bild der Thierses und Bürgerbewegten hat sich weitgehend abgearbeitet, ihre Vertreter merken nicht ihr von gestern sein. So können sie auch nicht begreifen, das Bild der Ostbevölkerung auf den Westen ist nicht mehr der von 1989/90. Westerfahrungen haben Bewusstsein verändert. Erinnerungen schaffen andere Bilder und Erfahrungen in Ostköpfen und somit spiegelt sich das im Wahlverhalten wider. Für die Thierses etwas ganz Unbegreifliches und Unerklärliches von ihrer Betrachtungsebene, ihrer mehr als 30 Jahre Westerfahrung und politischer Sehnsüchte.