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Aus: Ausgabe vom 28.09.2024, Seite 6 (Beilage) / Wochenendbeilage

Brett im Kopf

Sensationell und spektakulär: Faszination Blindschach. Teil eins von zwei
Von Sören Bär
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Aljechin in Action: Der damalige Weltmeister Alexander Aljechin beim Simultanschach (1935)

Es ist ein faszinierendes Schauspiel, eine Schachpartie zu verfolgen, die ein Meister ohne Ansicht des Brettes bestreitet. Viele Menschen, die nicht aktiv Schach spielen, haben vermutlich über Stefan Zweigs 1942 erschienenen Roman »Die Schachnovelle« oder dessen 1960 und 2021 in die Kinos gekommenen Filmadaptionen erstmals Zugang zum Blindschach erhalten. Der intelligente und kultivierte Anwalt Dr. B. wird 1938 von den Nazis im Hotel »Metropol« in Wien in Isolationshaft gehalten. Während er auf ein weiteres Verhör wartet, kann er in einem unbemerkten Moment ein Buch aus einem Militärmantel an sich nehmen, welches sich jedoch zu seiner großen Enttäuschung nicht als anregende Belletristik, sondern als Sammlung hochklassiger Schachpartien erweist. Um überhaupt irgendeine Beschäftigung zu haben, beginnt Dr. B. damit, die Partien aus dem Buch nachzuspielen. Das tut er zunächst auf einem karierten Betttuch. Nach einigen Monaten gelingt es ihm jedoch, alle Partien auswendig zu beherrschen und ihre Verläufe komplett vor seinem geistigen Auge zu sehen. Als neue Anforderung spielt er fortan blind Partien gegen sich selbst und erleidet dadurch eine verhängnisvolle Persönlichkeitsspaltung …

Als ein wiederkehrendes Motiv in der äußerst erfolgreichen Netflix-Verfilmung des Romans »The Queen’s Gambit« von Walter Tevis aus dem Jahr 1983 imaginiert die Hauptfigur Elizabeth Harmon Partiestellungen, wobei diese jeweils eindrucksvoll an die Zimmerdecke projiziert werden. Die Serie begeisterte auch viele Schachlaien, die dieses Stilmittel für einen puren inszenatorischen Trick hielten. Doch tatsächlich besitzen alle starken Schachspieler und Schachspielerinnen die Fähigkeit, sich ganze Partien im Geiste vorzustellen, ohne dafür ein physisches Brett und Schachfiguren aus Holz zu benötigen.

Von Buzzecca bis Kasparow

Die Anfänge des Blindspiels reichen vermutlich bis ins achte und neunte Jahrhundert zurück, als es von arabischen Spielern betrieben wurde. Im europäischen Raum wurde es durch den Sarazenen Buzzecca bekannt, der 1266 im Palazzo del Popolo (heute Palazzo Vecchio) in Florenz gegen drei starke Gegner zwei Partien blind und eine mit Ansicht des Brettes spielte. Der französische Komponist François-André Danican Philidor galt im 18. Jahrhundert als weltbester Schachspieler und förderte durch seine öffentlichen Vorstellungen einen Popularitätsschub des Blindspiels. Mit drei gleichzeitig geführten Partien übertraf er die Leistung von Buzzecca und sorgte für eine Sensation. Wenn ein Schachweltmeister eine Reihe von Blindpartien gegen »sehende Gegner« simultan absolviert, erhält eine derartige Show einen sensationellen Anstrich. Garri Kasparow faszinierte, als er am 7. Juni 1985 in Hamburg einen Uhrenblindsimultanwettkampf gegen zehn respektable Gegner mit 9:1 gewann, wobei er nur zwei Remisen gestattete. Seine Widersacher erhielten eineinhalb Stunden Bedenkzeit für 40 Züge, Kasparow jeweils zusätzliche 30 Minuten zum Ausgleich des durch die Zugübermittlung über einen Boten entstehenden Zeitverlustes. Der Effekt wird zuweilen noch dadurch verstärkt, dass die Simultanspieler eine schwarze Augenbinde erhalten, um zu demonstrieren, dass sie wirklich nichts sehen. So geschah es auch bei einer Blindsimultanvorstellung von Magnus Carlsen 2013 an der Harvard University, als der Norweger zehn Anwälte schlug.

Die langjährige deutsche Nummer eins Robert Hübner bestach durch drei Uhrenblindsimultanmatches gegen Mannschaften aus der ersten und zweiten Bundesliga. 1982 besiegte er sechs Spieler des Hamburger SK aus der ersten Bundesliga mit 5:1 durch vier Siege und zwei Remisen. 1997 schlug er ein Team aus sechs Spielern der Kölner Schachfreunde aus der zweiten Bundesliga gar 5,5:0,5. Nur einer seiner sehenden Gegner schaffte ein Remis. Noch spektakulärer verlief sein Match am 25. September 1999 in Berlin gegen eine komplette Mannschaft des SC Kreuzberg aus der zweiten Bundes­liga, die eine mittlere ELO-Zahl von 2.300 an die acht Bretter brachte. Der 50jährige Hübner siegte bei seinem formidablen 6,5:1,5-Erfolg in fünf Partien, drei Begegnungen gingen unentschieden aus.

Jagd nach dem Rekord

Der Weltrekord im Blindsimultan wurde nach Philidor immer weiter verbessert. Der als stärkster Spieler des 19. Jahrhunderts geltende legendäre US-Amerikaner Paul Morphy spielte während seiner berühmten Europareise 1858 in Birmingham und im Café de la Régence acht Blindpartien gegen die stärksten Einheimischen simultan. Louis Paulsen (15 Bretter, 1859), Joseph Blackburne und Johannes Zukertort (jeweils 16 Opponenten im Jahr 1876) pulverisierten diese Marke, füllten das Teilnehmerfeld allerdings mit schwächeren Gegnern auf, wodurch einige Partien weniger als 25 Züge dauerten. Im 20. Jahrhundert trugen sich Harry Nelson Pillsbury (22 Bretter, 1902) und Gyula Breyer (25 Widersacher, 1921) in die Annalen ein. Als stärkster Blindsimultanspieler gilt jedoch der russisch-französische vierte Weltmeister der Schachgeschichte Alexander Aljechin, geboren am 31. Oktober 1892, der auch als einziger Champion den Titel mit ins Grab nahm, als er am 24. März 1946 in Estoril (Portugal) im Alter von 53 Jahren unter ungeklärten Umständen starb.

Im Frühjahr 1924 bestritt Aljechin eine Rekordsimultanvorstellung in New York gegen 26 Gegner, die zum Teil eine sehr hohe Spielstärke besaßen. Er gewann 16 Partien, remisierte mit fünf Gegnern und verlor lediglich fünf Begegnungen. Kurz darauf überbot er diesen Weltrekord selbst: Am 1. Februar 1925 maß sich Aljechin in Paris gleichzeitig mit 28 Gegnern. Nachdem jedoch der Tscheche Richard Réti und der US-Amerikaner George Koltanowski diese Anzahl zwischenzeitlich übertroffen hatten, stellte Aljechin, der seit seinem Sieg im WM-Kampf 1927 gegen den Kubaner José Raúl Capablanca den Weltmeistertitel trug, 1933 in Chicago erneut einen Rekord auf. Er bestritt 32 Partien, von denen er 19 siegreich beendete und neun unentschieden gestaltete. Nur in vier Partien musste er Niederlagen hinnehmen. 1937 zog Koltanowski in Edinburgh nach, als er gleichzeitig an 34 Brettern spielte und bei 24 Siegen und zehn Remisen ohne Niederlage blieb.

Schreiben und spielen

Der belgisch-amerikanische Großmeister George Koltanowski – geboren als Georges Koltanowski 1903 in Antwerpen – war eine bemerkenswerte Persönlichkeit, die sich auf vielfältige Weise für die Popularisierung des königlichen Spiels engagierte. Nach seiner Emigration in die USA 1940 verfasste er 52 Jahre lang die tägliche Schachecke des San Francisco Chronicle. Mit den im Laufe der Jahre mehr als 19.000 publizierten Artikeln ist er wohl auch Weltrekordhalter als produktivster Schachkolumnist aller Zeiten.

Der polnisch-argentinische Großmeister Miguel Najdorf, 1910 als Mieczysław Najdorf in Grodzisk Mazowiecki geboren, bestritt für Polen die Schacholympiade 1939 in Buenos Aires und blieb anschließend nach Ausbruch des Zweiten Weltkriegs wie viele andere starke jüdische Schachspieler in Argentinien, was zu einem enormen Aufschwung des Schachs in dem südamerikanischen Land führte. Najdorf wollte in seiner neuen Heimat schnell Renommee gewinnen. Er organisierte schon 1940 eine Blindsimultanséance an 40 Brettern und erhöhte seinen eigenen Rekord 1947 sogar auf 45 Bretter. Jene Session dauerte fast 24 Stunden, doch 34 Partien konnte er bereits vor dem 30. Zug abschließen, was eine erhebliche Vereinfachung bedeutete. Die mentalen Anforderungen dieser Inszenierung der Leistungsfähigkeit des menschlichen Intellekts waren dennoch exorbitant. Najdorf äußerte, dass er danach nächtelang nicht schlafen konnte und fast den Verstand verloren habe. Die Vermeidung von Geisteskrankheiten war auch der Grund, warum die Sowjetunion das Blindsimultanspiel 1930 verbot und somit als Schachland Nummer eins nicht in der Weltrekordliste vertreten ist. Najdorfs Bestmarke hatte sagenhafte 64 Jahre Bestand, denn der Rekord des ungarischen Großmeisters János Flesch mit 52 Blindpartien, den er 1960 in Budapest aufstellte, wurde stark angezweifelt. Zum einen bewältigte er die Mammutaufgabe innerhalb von lediglich zwölf Stunden, zum anderen verloren etwa 20 seiner Opponenten schon zwischen dem 10. und 15. Zug.

Der deutsche FIDE-Meister Marc Lang überbot Najdorfs Rekord erst im neuen Jahrtausend in einer Sensationsvorstellung an 46 Brettern am 26./27. November 2011 in Sontheim an der Brenz. Lang gewann 25 Partien, gestattete 19 Remisen und unterlag nur zweimal. Die Ratingzahlen seiner Gegnerschaft lagen im arithmetischen Mittel mit ca. 1.550 etwas unter denen durchschnittlicher Vereinsspieler.

Die letzte Großleistung

Nur fünf Jahre später torpedierte allerdings der in Taschkent (Usbekistan) geborene Großmeister Timur Garejew am 4. Dezember 2016 in der University of Nevada in Las Vegas den Weltrekord, als er gegen 48 Gegner spielte – eine Herausforderung, auf die sich Garejew monatelang vorbereitet hatte. Das Spektakel begann schon am Sonnabend nachmittag mitteleuropäischer Zeit, dauerte jedoch bis zum darauffolgenden Sonntag mittag an. Garejew plazierte sich mit verbundenen Augen auf einem Hometrainer und totalisierte während des folgenden Marathons 35 Siege und sieben Remisen. Lediglich sechs Partien musste er aufgeben. Garejew totalisierte also beeindruckende 80,21 Prozent der Punkte – und das, obwohl er in mehreren Partien mit Schwarz spielte, was beim Blindsimultan unüblich ist. Damit ein Weltrekord im klassischen »sehenden« Simultanschach Anerkennung im »Guinness-Buch der Rekorde« findet, muss der Simultangeber mindestens 80 Prozent der möglichen Punkte erreichen. Garejew schaffte das somit sogar »blind«. Zuvor galten im Blindsimultan 70 Prozent der Punkte als Schwelle zur Anerkennung als Rekord. Einträge ins »Guinness-Buch« sind allerdings nicht bekannt. Unter Garejews Opponenten befanden sich zahlreiche Akteure mit einer Ratingzahl von deutlich über 1.800. Durchschnittsspieler haben Wertungszahlen von 1.600. Um den historischen Kreis zu schließen, befand sich mit dem 92jährigen Luciano de Nilo Andrade sogar der letzte Überlebende von Najdorfs Rekord im Jahre 1947 unter den Teilnehmern. Andrade spielte online und trotzte Garejew ein Remis nach 36 Zügen ab! Garejew gelang es allerdings, seinen stärksten Gegner, den FIDE-Meister Thomas Brownscombe, der mit einer Ratingzahl von 2149, mit den schwarzen Steinen in nur 18 Zügen spektakulär zu bezwingen.

Thomas Brownscombe (2149) – Timur Garejew (2619), Weltrekord-Blindsimultanvorstellung, Las Vegas, 3./4. Dezember 2016, Spanisch

1.e4 e5 2.Sf3 Sc6 2.Lb5 a6 4.La4 Sf6 5.0-0 Lc5 6.Te1?! (Üblich sind die Fortsetzungen 6.c3 und 6.Sxe5 Sxe5 7.d4 b5 8.Lb3 Lxd4 9.Dxd4 d6.) 6…Sg4 7.Te2 0-0 8.c3 d5! 9.exd5?? (Das ist bereits der entscheidende Fehler. 9.d4! war Pflicht.) 9…e4! 10.dxc6 (10.Se1 Dh4! 11.h3 Lxf2+ 12.Kh1 Dg3!, und das Matt ist unabwendbar.) 10…exf3 11.gxf3 Sxh2! 12.Te5 Df6! 13.Txc5 Sxf3+ 14.Kg2 Lh3+! (14…Dg6+! 15.Kxf3 Dg4+ 16.Ke3 Te8+ 17.Te5 Txe5+ 18.Kd3 De4# führte sogar noch schneller zum Matt.) 15.Kxh3 Dh4+ 16.Kg2 Dg4+ 17.Kf1 (17.Kh1 Dh3#) 17…Sh2+ 18.Ke1 Tfe8+ 0:1 (19.Te5 Txe5+ 20.De2 Dxe2#).

Garejews Leistung blieb seither unangetastet. Eine kurze Dokumentation seines Blindsimultans am 25. Dezember 2017 gegen elf indische Kinder in Bhopal verdeutlicht den Ablauf einer solchen Vorstellung: https://www.youtube.com/watch?v=FjRKObVLFl0

Sören Bär ist Marketingexperte und Associate Researcher an der Universität Bayreuth. Er beschäftigt sich in seiner Forschung vorwiegend mit Branding, Sport-, Event- und Tourismusmanagement sowie Musik und Handel. Im Schach war er 2008 und 2009 Stadtmeister von Leipzig und Sächsischer Vizemeister im Jahr 2011. Auf der größten Onlineplattform chess.com zählt er zu den 80 besten deutschen Spielern im Schnellschach.

Kommende Woche erscheint an dieser Stelle der zweite Teil »Die rätselhafte Hundertjährige. Alexander Aljechins große Tat«.

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