Den Nazis den Weg bereitet
Der Aufstieg der AfD zur stimmenstärksten Partei in Thüringen hat in jüngerer Zeit auch das Interesse an – mehr oder weniger – vergleichbaren Episoden in der Geschichte des Landes wachgerufen, für die sich lange nur noch Fachhistoriker interessiert hatten. Als im Februar 2020 der FDP-Politiker Thomas Kemmerich mit den Stimmen der AfD zum Ministerpräsidenten gewählt wurde, wurde vielfach daran erinnert, dass Thüringen 90 Jahre zuvor das erste Land gewesen war, in dem von bürgerlichen Parteien eine Regierung mit Beteiligung der NSDAP gebildet wurde. Vor der diesjährigen Landtagswahl am 1. September hat nun die Rosa-Luxemburg-Stiftung Thüringen eine Broschüre mit mehreren Aufsätzen herausgegeben, die das Thüringer »Schicksalsjahr« 1924 in Erinnerung rufen.
Damals kippten im bis dahin »roten« Thüringen, wo im Landtag SPD, USPD und KPD die Mehrheit der Abgeordneten stellten und bis zu seinem von der Reichswehr erzwungenen Rücktritt im Herbst 1923 der linkssozialdemokratische Ministerpräsident August Frölich regierte, die politischen Verhältnisse um: Bei der Landtagswahl im Februar 1924, die unter den Bedingungen des militärischen Ausnahmezustandes stattfand, erhielt der reaktionäre Thüringer Ordnungsbund, ein Zusammenschluss bürgerlicher Parteien von der linksliberalen DDP bis zur rechtskonservativen DNVP, fast die Hälfte der Stimmen. Noch rechts von diesem Block stellte auch die faschistische Vereinige Völkische Liste, an der auch Mitglieder der verbotenen NSDAP beteiligt waren, mehrere Abgeordnete im Landtag in Weimar. Von ihr ließ sich die Ordnungsbund-Regierung tolerieren.
Mit der Wahl von 1924 und ihren Konsequenzen befasst sich Mario Hesselbarth. Er schreibt, die Regierung des Ordnungsbunds habe »Thüringen zu einem Ort des Demokratie- und Kulturabbaus« und »zu einer Hochburg der Republikfeindschaft« gemacht. Sofort begann der Ordnungsbund, die Resultate der sozialdemokratischen Reformpolitik, »die Demokratisierung der staatlichen und gesellschaftlichen Verhältnisse sowie die Modernisierung im Bildungs- und Kulturbereich« zu beseitigen. Dem Bauhaus entzog die Regierung die finanziellen Mittel. Unverzüglich hob sie das Verbot der NSDAP auf. Während Kundgebungen der Arbeiterparteien verboten oder behindert wurden, konnten die Nazis, die im Juli 1926 ihren ersten Reichsparteitag nach der Wiedergründung in Weimar abhielten, in Thüringen ungehindert agieren. Das Thema vertieft Manfred Weißbecker, der sich mit Thüringen als »Tummelplatz völkischer und faschistischer Organisationen« beschäftigt.
Judy Slivi schreibt über die Entwicklungen in der Thüringer Sozialdemokratie und den Gewerkschaften in den Jahren 1923 und 1924 und fasst zusammen: »Der Niederlage der Arbeiterparteien im Spätherbst 1923 folgte kein mobilisierendes ›Trotz alledem‹, sondern eine verbreitete Resignation und das Wiederaufleben der gegenseitigen Schuldzuweisungen.« Die Parteien des Thüringer Bürgertums lehnten weiterhin jede Zusammenarbeit mit der mehrheitlich linken Landes-SPD ab, da deren Bildungspolitik »ihren gesellschaftlichen Elitestatus« in Frage gestellt hatte. Auch die Thüringer SPD stand in der Frage der Koalitionspolitik »gegen die mehrheitlich rechte Reichs-SPD«, die auf die Zusammenarbeit mit bürgerlichen Parteien festgelegt war. (jW)
Rosa-Luxemburg-Stiftung Thüringen (Hrsg.): Das Thüringer Schicksalsjahr 1924. Der Rechtsruck in Thüringen damals und heute. Eine Textsammlung. Selbstverlag, Erfurt 2024, 87 Seiten, Bezug: kostenlos als PDF-Download über www.th.rosalux.de/texte-und-publikationen
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