Überleben im Widerstand
Von Dieter ReinischUnter französischen Schülern ist Melanie Berger, die in Frankreich in einem Altenheim lebt, bekannter als in ihrer ehemaligen Heimat Österreich. Jahrzehntelang ist die heute 102jährige als Referentin unterwegs gewesen. Zunächst mit ihrem Mann, der in der Résistance aktiv war. Nach seinem Tod sprang sie eher unwillig ein. Berger war im österreichischen, dann belgischen und schließlich französischen Widerstand keine zentrale Figur, in Geschichtsbüchern kommen sie und ihre kleine Gruppe kaum vor. Für ihren Biographen Nils Klawitter gehört sie zum »Fußvolk des Widerstands«. Klawitter hat Berger im Altersheim besucht und ist mit ihr an Schauplätze ihrer Jugend, Flucht und des Widerstands gegangen.
Ihr Weg begann im Umfeld von Jugendorganisationen der linksreformistischen österreichischen Sozialdemokratie. Bei den Februarkämpfen 1934 hat die damals 12jährige kämpfende Arbeiter mit Brot versorgt. Bei den im Untergrund agierenden Revolutionären Sozialisten war Berger dabei. Später gerät sie in das Umfeld trotzkistischer Kleingruppen, die nach dem »Anschluss« die Flucht planen. Über Aachen geht es nach Belgien. Später nach Paris und dann weiter in den Süden. Das kleine Städtchen Montauban hatte noch einen sozialistischen Bürgermeister und wurde zum Anziehungspunkt von geflüchteten Antifaschisten aller Couleur. Auch für die kleine Gruppe von Berger. Der versuchte Erwerb einer Schreibmaschine für ein internes Bulletin wird ihr zum Verhängnis. Die Gruppe fliegt auf, Berger kommt nach Folter, von der sie sich nie erholt hat, ins Frauengefängnis in Toulouse.
Es ist eine wichtige und spannende Geschichte, die Klawitter über den Widerstand und das Überleben von Berger in Haft erzählt. Und es ist eine hochpolitische Geschichte, die Einblicke in eine isolierte Widerstandsgruppe gibt. Daher wäre eine fundiertere Analyse und Darstellung der Entwicklungen in und um die Gruppe wünschenswert gewesen. Man erfährt nicht, wieso sich Berger ausgerechnet der trotzkistischen Gruppe »Revolutionäre Kommunisten Österreichs« anschloss. Was die Gruppe von anderen unterschied, wird nicht dargelegt. Es heißt lapidar, sie seien »für die Weltrevolution« gewesen, ihre Mitglieder hätten die kommunistische Partei verlassen, weil »sie Stalin nicht leiden können«. Welche Teile des Buchs auf Archivmaterial und welche Teile auf Auskünften Bergers basieren, wird nicht ausgewiesen. Einzelbelege fehlen, und das Problem der Einflüsse auf die Erinnerung an Ereignisse nach vielen Jahrzehnten wird kaum diskutiert. Melanie Bergers Leben hätte eine politisch fundierte Darlegung verdient. Geworden ist es ein spannendes Buch, das dem komplexen Gegenstand des Widerstands aber nicht gänzlich gerecht wird.
Nils Klawitter: Die kleine Sache Widerstand. Wie Melanie Berger den Nazis entkam. Czernin, Wien 2024, 160 Seiten, 22 Euro
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