Pathos für Profite
Von Jörg KronauerJetzt aber wirklich! Sie sollen, so will es die Bundesregierung, endlich den schon so lange erhofften Schwung in die Wirtschaftsbeziehungen zwischen Deutschland und Indien bringen: die deutsch-indischen Regierungskonsultationen, die am Freitag vergangener Woche in Neu-Delhi abgehalten wurden, sowie die begleitenden Gespräche, die Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) und Wirtschaftsminister Robert Habeck (Bündnis 90/Die Grünen) in Indien führten. Alles in allem acht Kooperationsvereinbarungen wurden unterzeichnet, darunter jeweils eine zur Lieferung von Wasserstoff aus Indien nach Deutschland und zur Anwerbung indischer Fachkräfte durch die Bundesrepublik. Zudem verabschiedeten beide Seiten eine längliche Erklärung, die »gemeinsames Wachstum mit Innovation, Mobilität und Nachhaltigkeit« versprach. Es gebe »jede Menge Potential«, Handel und Investitionen »weiter auszubauen«, äußerte Scholz am Freitag auf der Asien-Pazifik-Konferenz der Deutschen Wirtschaft, die gleichzeitig in Neu-Delhi stattfand: Es geht, so lautete die Botschaft, bergauf.
Wirklich? Nun, Berlin müht sich redlich. Kurz vor den Regierungskonsultationen, am 16. Oktober, hat die Bundesregierung, wie man das im Land der Dichter und Denker halt so tut, ein längliches Strategiepapier vorgelegt, in dem sie unter dem Titel »Fokus auf Indien« in säuselnden Worten – »demokratischer Partner Deutschlands für Stabilität und Sicherheit« – den Ausbau der politischen und ökonomischen Beziehungen zu dem Land beschwört. Die Ziele sind bekannt. Zum einen geht es Berlin darum, Neu-Delhi enger an sich zu binden, um Keile in die Beziehungen zwischen ihm und Moskau zu treiben. Zum anderen soll Indien als Bollwerk gegen die Volksrepublik China ausgebaut werden. Inzwischen geht es zunehmend auch darum, den Rückgang bei den Exporten nach China auszugleichen, das immer mehr Produkte selbst herstellt und immer weniger auf Einfuhren aus Deutschland angewiesen ist. Nun soll Indien mehr deutsche Waren kaufen. Fast in Scharen fragten Leitmedien in der vergangenen Woche aufgeregt: »Wird Indien Deutschlands neues China?«
Eines steht außer Frage: Indien wächst, und es wächst rasch. Der IWF erwartet für 2024 – nach Steigerungen um sieben Prozent 2022 und 8,2 Prozent 2023 – erneut ein Plus von sieben Prozent. Damit liegt das Land klar vor seinem chinesischen Rivalen, der ein Wachstum von fünf Prozent anpeilt. Ernsthafte Probleme aber bleiben. Nicht nur, dass Indiens Wirtschaftsleistung von 3,89 Billionen US-Dollar weit hinter derjenigen Chinas zurückliegt, das auf 18,27 Billionen US-Dollar kommt. Unternehmer dämpften in der vergangenen Woche die hochfliegenden Erwartungen mit dem einen oder anderen Hinweis darauf, es gebe neben wohlklingenden Strategiepapieren und romantischen Ideen auch noch die lästige Realität. »Das Ausmaß der Bürokratie in Indien«, urteilte etwa der Asienchef des Mittelständlers EBM Pabst, »kommt dem in Deutschland schon recht nahe«; in China sei das nicht der Fall. Klagen über teils miserable Infrastruktur, Stromausfälle inklusive, kamen hinzu. Gunther Kegel, der Präsident des Verbands der Elektro- und Digitalindustrie (ZVEI), stellte fest: »Die Inder haben ihr eigenes Tempo.« Mit Chinas Geschwindigkeit sei es »nicht vergleichbar«.
Auch daran liegt es, dass die deutsche Wirtschaft in Indien nur langsam vorankommt – trotz dicker Stapel gedrechselter Erklärungen aus Berlin. Schon vor 18 Jahren etwa erklärte die Bundesregierung mit dem gebotenen Pathos, sie werde die »strategische Partnerschaft« mit Neu-Delhi »vertiefen« und den Handel steigern. Das Ergebnis? Nun ja. Zwar gelang es, den Handel von einem Volumen von 16 Milliarden Euro 2013 auf 30,5 Milliarden Euro 2023 beinahe zu verdoppeln. Doch nahm der deutsche Außenhandel insgesamt stark zu, weshalb Indien nur von Rang 24 auf Rang 23 unter Deutschlands Handelspartnern vorrückte. Die deutschen Investitionen in dem Land verharren auf dem Niveau der deutschen Investitionen etwa in Mexiko, Brasilien oder Australien; diejenigen in China sind fünfmal so hoch. Dass die EU seit mittlerweile 17 Jahren über ein Freihandelsabkommen mit Indien verhandelt, ohne dass eine Einigung erkennbar wäre, macht die Sache nicht besser. Man könne »eher in Monaten als in Jahren« das Freihandelsabkommen vollenden, tönte Scholz jetzt in Neu-Delhi. Indiens Premierminister Narendra Modi schwieg dazu.
Ob Modi den Termin für die deutsch-indischen Regierungskonsultationen gezielt auf den vergangenen Freitag gelegt hatte, ist nicht bekannt. Doch selbst wenn das nicht der Fall gewesen sein sollte: Zuweilen sprechen auch Zufälle eine deutliche Sprache. Erst am Donnerstag war Modi aus dem russischen Kasan heimgekehrt, wo er am BRICS-Gipfel teilgenommen, eine intensivere Kooperation mit Russland vorangetrieben und außerdem die Beziehungen zu China verbessert hatte. Neu-Delhi und Beijing wollen künftig wieder enger zusammenarbeiten, nicht zuletzt ökonomisch. Für die Bundesregierung war das schon vor ihren Gesprächen in Indien eine kalte Dusche. »Indien bleibt ein schwieriger Partner, weil es andere geopolitische Vorstellungen hat als Europa«, erläuterte im Handelsblatt Christian Wagner, Asienexperte der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP): Die Regierung in Neu-Delhi wolle »ein multipolares Asien, in dem neben China und Indien auch Russland eine wichtige Rolle spielt«. Und Deutschland? Eine Rolle soll es nach indischem Wunsch durchaus spielen – aber eben nur eine unter vielen. So, wie es einem kleinen Land im fernen entlegenen Europa mit kaum mehr als 80 Millionen Einwohnern gebührt.
Hintergrund: Fachkräfte aus Indien
Mit einer Strategie ist die Bundesregierung immer schnell bei der Hand – und so hat sie am 16. Oktober, pünktlich zu den deutsch-indischen Regierungskonsultationen, eigens eine »Fachkräftestrategie Indien« beschlossen, Untertitel: »Indien als starker Partner für Deutschland«. Vorbei die Zeiten, in denen CDU-Politiker mit Phrasen wie »Kinder statt Inder« zu punkten versuchten: »Deutschland braucht Fachkräfte«, heißt es in der Strategie – und zwar schnell, denn der Anteil der Senioren an der deutschen Bevölkerung, die nicht nur als Arbeitskräfte ausfallen, sondern auch Pflege benötigen, steigt rasch. Zudem gebe es weiterhin einen »Engpass an IT-Fachkräften« in der Bundesrepublik. Abhelfen könne Indien – und zwar aus mehreren Gründen. Zum einen ist das Land für seine hochqualifizierten IT-Experten bekannt. Zum anderen wird seine Jugendarbeitslosigkeit – je nach Quelle – auf gut 20 bis 40 Prozent geschätzt. Bis 2030 aber drängen, so heißt es in der »Fachkräftestrategie«, voraussichtlich rund 84 Millionen Menschen auf den Arbeitsmarkt. Sie müssen irgendwo unterkommen.
Bei den vorherigen deutsch-indischen Regierungskonsultationen im Mai 2022 in Berlin brachten beide Seiten ein »Migrations- und Mobilitätspartnerschaftsabkommen« auf den Weg, um deutsche Büros und deutsche Krankenhäuser mit indischen IT-Experten und indischen Krankenschwestern zu füllen. Und während die Bundesregierung stolz verkündet, sie habe die nächsten Flüchtlinge in die Türkei oder nach Afghanistan abgeschoben und werde damit fortfahren, verkündet sie ebenso stolz, sie habe die Zahl der Inder, die in der Bundesrepublik sozialversicherungspflichtig beschäftigt seien, bis Februar 2024 bereits auf 137.000 gesteigert, davon 44.000 Frauen. Einziger Kritikpunkt, das berichtet die Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP): Indien nimmt diejenigen Inder, für die Deutschland keine wirtschaftliche Verwendung hat und die daher abgeschoben werden sollen, nicht schnell genug zurück. (jk)
Solidarität jetzt!
Das Verwaltungsgericht Berlin hat entschieden und die Klage des Verlags 8. Mai abgewiesen. Die Bundesregierung darf die Tageszeitung junge Welt in ihren jährlichen Verfassungsschutzberichten erwähnen und beobachten. Nun muss eine höhere Instanz entscheiden.
In unseren Augen ist das Urteil eine Einschränkung der Meinungs- und Pressefreiheit in der Bundesrepublik. Aber auch umgekehrt wird Bürgerinnen und Bürgern erschwert, sich aus verschiedenen Quellen frei zu informieren.
Genau das aber ist unser Ziel: Aufklärung mit gut gemachtem Journalismus. Sie können das unterstützen. Darum: junge Welt abonnieren für die Pressefreiheit!
-
Leserbrief von Onlineabonnent/in Joachim S. aus Berlin (29. Oktober 2024 um 15:22 Uhr)Fachkräfte möchte man also aus Indien nach Deutschland holen. Die werden sich freuen, in der aufgeheizten Atmosphäre zu landen, die das dauernde »Ausländer raus!« der letzten Jahre hier geschaffen hat. Damit seien ja nur »illegale Migranten« gemeint, tönt die Politik. Bei dem allgemein hohen Bildungsstand deutscher Ausländerhasser wird es spannend zu beobachten, wie der Unterschied zwischen denen treffsicher festgestellt wird, die man freundlich in die Arme schließen wird. Und jenen, denen man in dunkler Nacht ruhig »eine überziehen« darf.
-
Leserbrief von Ullrich-Kurt Pfannschmidt (29. Oktober 2024 um 07:50 Uhr)»Als Bollwerk gegen China: Berlin hofiert Neu-Delhi. Acht Kooperationsvereinbarungen mit Indien besiegelt« – Aus dem Artikel erschließt sich mir nicht, weshalb die genannten Kooperationsvereinbarungen beim Autor Stirnrunzeln verursachen. Steht es selbständigen Staaten nicht frei, untereinander Vereinbarungen zu treffen, die beiden Seiten Vorteile, vielleicht sogar »Profite« verschaffen? Offenbar hat auch Indien nichts dagegen. – Auch andere BRICS-Mitglieder pflegen Beziehungen außerhalb von BRICS. Erst dadurch wird eine wirklich »multipolare« Welt realisiert!
Ähnliche:
- 23.10.2024
Brüssels Dilemma
- 18.09.2024
Großspurige Vorhaben
- 22.12.2020
Im Niedergang
Mehr aus: Schwerpunkt
-
Militärindustrie setzt auf Indien
vom 29.10.2024