Durchblick in beängstigender Lage
Von Eva PeterIhr Name allein schon ist ein Markenzeichen: Daniela Dahn ist eine Publizistin der Extraklasse. So polemisch wie präzise. Wer ihre früheren Bücher kennt – dieses ist, habe ich richtig gezählt, schon ihr fünfzehntes –, kann wissen, wo sie steht. So werden wohl vor allem diejenigen zu ihrem neuen Band greifen, die ihre Standpunkte teilen und kluge Argumente suchen. Nach »Im Krieg verlieren auch die Sieger« und »Tamtam und Tabu. Meinungsmanipulation von der Wendezeit bis zur Zeitenwende« mit Rainer Mausfeld (beide 2022) habe ich schon auf etwas Neues gewartet. Denn inzwischen ist doch so vieles geschehen, wozu ich ihre Meinung wissen will: weitere Eskalation im Ukraine-Krieg, Lieferung immer schwererer westlicher Waffen, Vereinbarung zur Stationierung von US-Mittelstreckenraketen am Bundestag vorbei, wirtschaftliche Rezession in Deutschland, Krieg in Nahost, der die ganze Region zum Pulverfass macht und weitere Migrationsbewegungen anstößt, was sich auch auf die europäische Politik auswirkt. Und nicht zuletzt wurden die Parteien der Ampelkoalition durch die Ergebnisse dreier Landtagswahlen im Osten abgestraft.
Aus dem Ruder
»Stehen hinter dem neuen Rechtsruck mächtige Interessen? Oder ist es umgekehrt so, dass allen demokratisch genannten Parteien und den sie tragenden Kreisen gerade etwas aus dem Ruder läuft, das ihren Interessen widerspricht, aber kaum noch unter Kontrolle zu bringen ist?« Kann das Bündnis Sahra Wagenknecht noch irgendwie das Ruder herumreißen, damit sich Deutschland nicht als Kriegspartei positioniert und dadurch in Gefahr bringt?
»Aus der Bedrohung der ukrainischen Staatlichkeit in ihren bisherigen Grenzen die existentielle Bedrohung der NATO-Länder herzuleiten, ist eine Angstdrohne, die auf Willensbeugung zielt. Auf Zustimmung zum Sozialabbau. Und so wieder Extremismus befördert.« Dialektisches Durchdenken schwieriger Zusammenhänge in griffige Formulierungen zu bringen, ist Daniela Dahns Talent. Keine taktischen Stilübungen, um nicht anzuecken, sondern die klare eigene Meinung. Dazu die Ergebnisse aufwendiger Recherchen, die ihre Schlussfolgerungen stützen. Da ist das Kapitel zum Ukraine-Krieg wirklich spannend. Dass sie in ihrer Sorge um den Weltfrieden – denn um nichts Geringeres geht es ja – bei George Beebe, dem jahrelangen Chef der Russland-Analyse der CIA, Berater von Vizepräsident Dick Cheney und heutigen Direktor für Großstrategie am Quincy Institute for Responsible Statecraft, Unterstützung finden würde, hat sie wohl selbst erstaunt. In seinem 2019 geschriebenen Buch »Die russische Falle. Wie unser Schattenkrieg mit Russland sich zu einer nuklearen Katastrophe steigern könnte« wird als Hauptverantwortlicher der Westen klar benannt. »Der Plan war, Russlands militärische Macht durch die Bewaffnung der Ukraine zu schwächen. Russland sollte in einen Kampf verwickelt werden, der einen Regimewechsel herbeiführen sollte«, so wird Michael Hudson, US-Finanzanalyst und Spiritus rector der Occupy-Wall-Street-Bewegung zitiert. »Wäre das der Fall, könnten sie Wladimir Putin durch einen Kandidaten ersetzen, der bereit ist, eine neoliberale USA-freundliche Politik zu verfolgen, wie es das Jelzin-Regime getan hatte. Das Gegenteil trat ein.«
»Heute sagt der US-Ökonom James K. Galbraith: Russland wurde durch die Sanktionen ›entkolonialisiert‹. Viele einst importierte technische Zulieferungen stellt es nun selbst her, ist autonomer geworden. Es ist in Märkte vorgedrungen, die der Westen aufgegeben hat. Das Riesenreich ist heute eines der Länder mit der höchsten Wachstumsrate. Die Bedeutung des Dollars sei schwächer geworden, aber die USA profitieren nun von der Abhängigkeit Europas.«
So ist die Lage, auf die so viele Menschen mit Ohnmachtsgefühlen, Frust und Groll reagieren. Laute Klagen in den Mainstreammedien, dass die Ostdeutschen die Segnungen der Demokratie nicht zu schätzen wüssten. Vielleicht aber haben sie in über dreißig Jahren BRD gelernt, dem üblichen Politiktheater zu misstrauen, das schlichtweg nicht in ihrem Interesse ist. Daniela Dahn: »Demokratie bedeutet Machtbeschränkung. Doch die Parlamente haben ihre Macht weitgehend an die Regierung abgegeben, die Regierung hat Macht an die EU-Kommission abgegeben, diese hat Macht an die Weltbank und die Welthandelsorganisation abgegeben. Und der Wähler soll seine Stimme abgeben und sich dabei fühlen wie Hans im Glück.«
Beispiellose Kampagne
Wie DDR-Bürger von der BRD enttäuscht wurden, weil sie eine BRD im Sinne hatten, die es so nicht mehr gab und die mit der Systemkonkurrenz gänzlich verschwand, hat Daniela Dahn schon in ihren früheren Büchern dargestellt. »Wehe dem Sieger« (2009) und »Der Schnee von gestern ist die Sintflut von heute« (2019) stehen bei mir immer griffbereit im Regal. Fürwahr: »Es gab bessere Zeiten, als soziale Marktwirtschaft und Entspannungspolitik die westliche Antwort auf die Systemkonkurrenz waren.«
»Die Wende von 1989 war auch eine Zeitenwende im Umgang mit Rechtsextremen.« Diese Aussage mag zunächst erstaunen, doch war die »Wende« verbunden mit einer beispiellosen Kampagne zur Diffamierung der DDR. »Während den Verfolgten des NS in der DDR 1990 ihre gesetzlich erworbenen Renten um 300 Mark gekürzt wurden (unter ihnen nicht wenige Juden), fließen getreu einem Führererlass weltweit auch an die letzten ausländischen SS-Kämpfer, ohne dass diese ins Rentensystem eingezahlt haben, steuerfrei Renten vom deutschen Steuerzahler.« Von der Verunglimpfung der DDR als zweite deutsche Diktatur war auch ihr angeblich verordneter Antifaschismus betroffen, dessen »sowohl tabuisierende wie auch aufklärerische Substanz … offensichtlich wirksamer als alle westdeutschen Versuche« war.
»In der ostdeutschen Lokalpolitik konnten und sollten die neuen Wertmaßstäbe niemandem entgehen. Straßen, Plätze, Brücken, Betriebe, Klubs und Schulen wurden flächendeckend umbenannt, das historische Gedächtnis der Städte bereinigt.« Durch das Prinzip »Rückgabe vor Entschädigung« war »etwa die Hälfte der DDR-Bewohner von Vertreibung bedroht«. »Auf jeder fünften Wohnung lag ein Restitutionsanspruch«. Daniela Dahn spricht von einer »gruppenbezogenen Diskriminierung im Zuge der Vereinigung«, von einer Ungleichbehandlung sogar gegenüber dem Gesetz, indem für die Ostdeutschen das einst »heilige Rückwirkungsverbot« aufgehoben wurde und sie für Arbeitgeber und Rentenversorgungsträger zu »gläsernen Figuren« machte, wenn sie in der sogenannten Gauck-Behörde anfragten. Das Rentenstrafecht war »eine Einmaligkeit in der Justizgeschichte«.
Ein enormer Anpassungsdruck wurde erzeugt, damit nichts von der DDR übrigbleibt. Betriebsschließungen, Arbeitslosigkeit, Entwürdigung durch Entwertung der eigenen Biographie wurden gleichsam zu einem »Kollektivschicksal«, das der Soziologe Steffen Mau als Verstetigung der Ostidentität auch bei Jüngeren bezeichnet. Vorher schon hatte Dirk Oschmann eine Ostdebatte angestoßen, die Daniela Dahn »erfreulich, folgerichtig und notwendig« nennt. »Seine berechtigte Wut stellt Oschmann entwaffnend ehrlich und nachvollziehbar dar und spart auch die ökonomischen Folgen der Einheitsfehler nicht aus (…) Dennoch bleibt der widersprüchliche Eindruck, das Ziel sei, die Ostdeutschen endlich gleichberechtigt im Status quo ankommen zu lassen, nicht, sie zu ermutigen, diesen Status verändern zu wollen. Das Wort Kapitalismus kommt, soweit ich das wahrgenommen habe, nur in einer Fußnote vor.«
Daniela Dahn aber ist auf Veränderung aus. Da wird die etablierte Politik sie vielleicht nicht zum Gespräch laden, da bekommt sie vielleicht keine TV-Debatte. Oder vielleicht doch? Aber wer das Buch liest, findet Ermutigung. Durchblick in beängstigender Lage: Im Nachdenken sind wir frei.
Daniela Dahn: Der Schlaf der Vernunft. Über Kriegsklima, Nazis und Fakes. Rowohlt-Verlag, Berlin 2024, 192 Seiten, 16 Euro
ND-Literatursalon mit Daniela Dahn: 27. November, 18 Uhr, Franz-Mehring-Platz 1, 10243 Berlin, Münzenbergsaal
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