Vor dem Sturm
Von Nick BraunsEs sind widersprüchliche Signale, die von der türkischen Staatsführung in Richtung der Kurden ausgesandt werden. Am Freitag sind mit Tunceli – kurdisch Dersim – und Ovacık zwei Städte in der kurdisch-alevitischen Bergregion staatlichen Treuhändern unterstellt worden. Deren Bürgermeister waren zuvor vom Innenministerium unter dem Vorwurf der Unterstützung der Arbeiterpartei Kurdistans PKK abgesetzt worden. Damit stehen bereits sieben bei den Kommunalwahlen im März von der Opposition gewonnene Städte – sechs davon in den kurdischen Landesteilen – unter Zwangsverwaltung. Am Dienstag rollte zudem eine Festnahmewelle durch das Land, bei der nach Angaben des Innenministeriums 230 Personen wegen »Terrorunterstützung« festgenommen wurden. Betroffen waren Journalisten, Politiker der unter Kurden verankerten linken DEM-Partei, sozialistische Jugendliche, Menschenrechtler und Gewerkschafter.
Doch am Mittwoch stellte sich Präsident Recep Tayyip Erdoğan im Parlament demonstrativ hinter die jüngste Initiative seines Allianzpartners Devlet Bahçeli von der faschistischen MHP, der DEM-Partei einen Dialog mit dem inhaftierten Gründer der Arbeiterpartei Kurdistans PKK Abdullah Öcalan zu ermöglichen. Dies hatte Bahçeli am Dienstag auf der MHP-Fraktionssitzung gefordert, um »Fortschritte bei der Entwaffnung der Terrororganisation und bei der Lösung der Kurdenfrage« zu erzielen. Damit knüpfte der MHP-Chef an seinen Vorschlag vom 22. Oktober an, den seit 25 Jahren auf der Gefängnisinsel İmralı gefangenen Öcalan im Parlament die Auflösung der PKK verkünden zu lassen. Zwar kam dies einer von den Guerillakommandanten in den kurdischen Bergen umgehend zurückgewiesenen Aufforderung zur Kapitulation der seit 40 Jahren militärisch nicht besiegten Befreiungsbewegung gleich. Doch entscheidend war der Tabubruch, mit dem die türkische Öffentlichkeit auf eine mögliche Freilassung Öcalans eingestimmt wurde. Dieser Schritt war nur dem jeglichen Sympathien für die kurdische Seite unverdächtigen Faschistenführer möglich, der sonst stets die Hinrichtung Öcalans gefordert hatte. »Wir sind uns mit Herrn Bahçeli in allen Fragen, die den Interessen unseres Landes und unserer Nation dienen, vollkommen einig. Wir schließen uns seinem Aufruf an«, betonte Erdoğan am Mittwoch. »Wir gehen diese Angelegenheit mit gründlicher Abwägung ihrer politischen und regionalen Auswirkungen an. Wir werden die Mauer des Terrors zwischen Türken und Kurden zerstören.«
Bahçelis Initiative war anfangs noch als Versuch interpretiert worden, die Unterstützung der DEM-Partei für eine Verfassungsänderung zur Ermöglichung einer weiteren Amtsperiode von Präsident Erdoğan zu gewinnen. Doch inzwischen zeichnen sich weniger taktische innenpolitische als strategische außenpolitische Motive ab. Die türkische Staatsführung befürchtet mit Blick auf die Wahl von Donald Trump zum US-Präsidenten und einer damit wahrscheinlicheren Ausweitung von Israels Nahostkrieges zu einem großen Krieg gegen den Iran, dass ein Sturm über die ganze Region hereinbrechen kann, der vor der Türkei nicht haltmachen wird. Mit seiner Feststellung, dass »wir abwarten müssen, inwieweit Trumps Haltung in Bezug auf den Russland-Ukraine-Krieg und den Gazakrieg zu unseren Gunsten ausfällt« hatte der türkische Außenminister und Exgeheimdienstchef Hakan Fidan am Wochenende eingeräumt, dass sich die Entwicklungen gegen die Türkei richten könnten. Insbesondere warnte Fidan vor dem »Risiko eines Krieges mit dem Iran«, der durch Israels Angriff auf den Libanon wahrscheinlicher geworden sei. In Ankara wird die Gefahr gesehen, dass die Landkarte der Nahostregion von den imperialistischen Mächten neu gezogen wird und den nach dem Ersten Weltkrieg mit dem Vertrag von Lausanner 1923 auf vier Nationalstaaten aufgeteilten Kurden dabei eine Schlüsselrolle zukommen könnte.
Und hier kommt Öcalan ins Spiel, der bereits in seiner Verteidigungsrede während seines Hochverratsprozesses vor 25 Jahren die Vision einer türkisch-kurdischen Allianz entworfen hatte. Dadurch könnte eine demokratische Republik Türkei positiven Einfluss auf die Nachbarländer Irak, Iran und Syrien mit ihren kurdischen Minderheiten nehmen, lautete Öcalans Angebot damals. »An diesem Punkt stehen der Regierung zwei Wege in diesem unwegsamen Gelände zur Verfügung«, schreibt der Kolumnist Veysi Sarısözen am Mittwoch in einem Beitrag für das kurdische Portal Medyanews. »Der eine wird von den Vereinigten Staaten und Israel aufgezeigt: der Weg des Krieges und der Zerstörung. Der andere wird von Öcalan aufgezeigt: der Weg der internen Lösung und des externen Friedens.« Anstatt wie bislang die Selbstverwaltungsregion in Nordostsyrien als »Terrorkorridor« militärisch zu bekämpfen, könnten die kurdischen Siedlungsgebiete entlang der Grenze zu einem »Sicherheitskorridor« für die Türkei werden, so Sarısözen.
Die Regierung in Ankara hofft zwar, das Prestige Öcalans, den Millionen Kurden als ihren Repräsentanten betrachten, nutzen zu können. Dessen Lösungsvorschlag einer föderalen Selbstverwaltung unter dem Dach der Türkei lehnt sie aber ab, wie die jüngste Einsetzung von Treuhändern und die Massenfestnahmen verdeutlichen. Der Prozess »zielt entgegen den geweckten Erwartungen nicht auf eine demokratische Lösung ab, sondern darauf, mit Maßnahmen von oben sowie Staatsstreichen Vorkehrungen zu treffen und den Prozess unter Kontrolle zu halten«, warnt daher der Journalist Yusuf Karadaş in der sozialistischen Tageszeitung Evrensel. Doch die Tür ist einen Spalt geöffnet, die demokratische Opposition sollte ihre Chance nun nutzen.
Hintergrund: Treuhänderschaften
Bereits in den beiden vergangenen Legislaturperioden waren nahezu alle von der linken HDP in den kurdischen Provinzen der Türkei gewonnenen Städte und Kommunen unter staatliche Treuhänderschaft gestellt worden. Der HDP-Nachfolgerin DEM gelang es bei den Kommunalwahlen im März 2024, nicht nur den Großteil dieser Orte zurückzuerobern, sondern ihr Ergebnis auf 78 Rathäuser zu steigern. Ein erster Versuch der Regierung, direkt nach dem Abstimmungstag die Wahl des Bürgermeisters von Van zu annullieren, scheiterte an Massenprotesten. Doch wenig später wurde der Bürgermeister von Hakkari in einem seit zehn Jahren laufenden Prozess wegen PKK-Mitgliedschaft zu Haft verurteilt und durch einen Treuhänder ersetzt. Im Oktober wurde mit Ahmet Özer, dem Bezirksbürgermeister der Stadt Esenyurt westlich von Istanbul, erstmals ein Politiker der kemalistischen Oppositionspartei CHP abgesetzt und durch einen Zwangsverwalter ersetzt. Özer wurde mit Stimmen der DEM gewählt, ihm wird ebenfalls PKK-Mitgliedschaft unterstellt. Seine Verhaftung erscheint als Versuch, einen Keil in die Kooperation der Oppositionsparteien CHP und DEM zu treiben. Am 4. November wurden dann die Bürgermeister der Städte Mardin, Batman sowie Halfeti abgesetzt und die Kommunen Regierungsbeamten unterstellt. Der 81jährige Bürgermeister von Mardin, Ahmet Türk, war bei den Kommunalwahlen mit 57,4 Prozent der Stimmen gewählt worden. Die 31jährige Bürgermeisterin von Batman, Gülistan Sönük, hatte sich gar mit 64,52 Prozent gegen einen Kandidaten der islamistischen Hüda-Par durchgesetzt. Schließlich wurden am 22. November die von der DEM beziehungsweise der CHP gestellten Bürgermeister von Tunceli (Dersim) und Ovacik durch Treuhänder ersetzt. Zu den ersten Maßnahmen der Zwangsverwalter gehörten stets das Verbot kurdischsprachiger Hinweisschilder sowie die Schließung kommunaler Fraueneinrichtungen. (nb)
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