Keine Ausblicke, Rom
Von Konstantin ArnoldEs geht damit los, dass man sich fragt, wie’s nun weitergeht. Man kann das aber in Rom nach einer Trennung nicht schon wissen, das geht einfach nicht, das geht nur danach. Ich weiß gerade nur nicht, wann das ist und ob es überhaupt ein Danach geben wird. Ich bin nach Rom gekommen, weil ich aus Lissabon flüchten musste. Die Stadt ist nicht Rom. Sie kann schon gar nicht Rom sein, wenn man dort lebt. Man denkt, man könnte das, was man in Rom macht, auch gut in Lissabon machen, es ist die perfekte Stadt dafür, hügelig, melancholisch, nicht weit vom Meer. Aber es geht nicht, alles erinnert mich an sie. Für die einen ist es London oder New York, für mich Lissabon. Und Rom, und das war ja das Problem. Rom war immer das Argument, wenn es darum ging, wie unser Leben in Zukunft auszusehen hat, und mit wie vielen Kindern. Es gibt außer Rom kaum Orte, an denen wir noch keinen Matisse gesehen haben oder uns bei offenen Fenstern liebten und bis spät in die Nacht auf Plätzen diskutierten. Wenn wir bis Weihnachten nicht in der Closerie des Lilas waren, im Sommer ums Cap d’Antibes schwammen, in Ventimiglia auf den Zug aus Cannes nach Genua warteten, Zeitungen im Café Sperl lasen, bei Tito in San Sebastian aßen, uns in Mailand trafen, durch den Retiro gingen oder am Lago di Como darüber nachdachten, Schluss zu machen, weil ich nach Rom ziehen wollte, ging bei uns gar nichts. Es zwängen sich Fragen aus der Zukunft auf, die die Gegenwart betreffen, dem einen mehr, dem anderen weniger, mit dreißig oder sechzig, je nachdem, wie gut man die mit dreißig beantwortet hat. Das machte sie traurig, und weil es sie traurig machte, dachte ich nicht weiter an Rom, und ich glaube, dieses Nichtdenken und diese Traurigkeit waren’s und ihr Weinen. Dieses Weinen hält einen immer davon ab. Es tötet von innen die Liebe, und man beginnt gleichgültig zu werden und denkt an Rom. Vorher versucht man natürlich noch ein guter Mensch zu werden, wird krank durch und durch, unduldsam, unerträglich, ehrlich, ein Idealist, zwanghaft wie keiner, bis man der andauernden Selbstbeobachtung erliegt. Lissabon blieb so die Hauptstadt unseres Vergehens.
Natürlich war Valentinstag, als ich in Rom ankam. Ich konnte die Zeichen aber nicht länger ignorieren, schon gar nicht die Flecken. Ich konnte mich und meine Freundin nicht mehr sehen, genauso wie das ungelebte Leben meiner Liebe als Preis einer Größe, wie ich sie verstand. Stellt man sich alles nur so vor, so wie alle Dinge, die man denkt? Ich hatte versucht zu lieben, mich zu ändern, aber es geht nicht, es ist nichts für mich, wenn es heißt, mit einer Frau im Bett zu liegen, ohne leidenschaftlich zu sein, vielleicht zu wissen, was morgen kommt. Irgendetwas ändert sich in mir, und man wusste es morgens immer, wenn man sowieso das Gegenteil von allem dachte, was man denkt und sich den Tag über beweist, dass alles dann doch nicht so ist, sobald sich die große Ablenkung in Betrieb gesetzt hat.
Der Fehler liegt deshalb nicht in der Liebe, er liegt bei uns, indem wir sie als gescheitert bezeichnen, wenn sie nicht im Doppelgrab endet, die Tragödie ist vorbestimmt. Wir wollen sie ständig bis in alle Ewigkeit retten, indem wir sie töten und künstlich in die Länge ziehen, aber Ewigkeit hat nichts mit Dauer zu tun, sondern mit der Höhe und Tiefe eines Gefühls und dem, was der Alte sagte, als ich ihn vor dem Grab seiner Frau auf dem Cimitero Acattolico in Rom traf. Er sagte, er hätte seine Frau nie so glücklich gesehen, wie in ihrem ersten Sommer in Rom. Er dachte da noch, egal, wie lange der dauert, der reicht, dieser eine Sommer, der ist für immer, aber nichts ist für immer, nur Rom und der Fernet-Branca bei Farnese, der ihm hätte heute auch wieder wie immer geschmeckt. Er wäre keiner von denen, die sagen, Rom hätte sich geändert. Trastevere ist immer noch die gleiche Scheiße, aber der Gianicolo das Beste. Er kann früher gar nicht besser gewesen sein.
Wir schieben Veränderungen nur gerne den Städten zu, aber sie ändern sich nicht so wie wir. Es sei daher ein Irrtum, dass man bestimmte Zeiten für besser hält, die man gar nicht selbst erleben durfte, und meint, dass eine Stadt nicht mehr so ist, wie sie vielleicht nie war, nur weil man Rom einmal zu einem bestimmten Zeitpunkt gesehen hatte und von einer Stadt zu verlangt, dass sie sich bis zum nächsten Besuch nicht verändert. Rom hätte es vor uns gegeben, und Rom würde nach uns sein. Dass Läden schließen, Preise steigen, gab es schon immer. Die Zeit ist egal. Sie wiederhole sich und vergehe in Zyklen, weil der Mensch ihr Vergehen so besser ertrage. Die Frage, zu welcher Zeit eine Stadt am besten ist, ist dann hinfällig. Madrid im Mai, Wien im Dezember, Paris um 1900, Berlin besser nie, Rom eigentlich immer, vor allem nach einer Trennung, nur nicht im August. Seiner Meinung nach hätte ich mich besser am Ende eines Sommers getrennt und Rom im Herbst besucht. Es ist die besinnlichste Jahreszeit, reicher und schöner als alle anderen, für jene, die mehr Bedeutung und reife Tiefe als Glanz und Jugend suchen. Man hätte die Erinnerung des Sommers und ahnt das Vergehen. Geschaffen für Genießer der Melancholie, Liebende vor dem Aus, Banker am Rande des Ruins und Dichter, die zwischen den Zeilen nach den richtigen Worten suchen.
Er zeigte mir Goethes Sohn, der ohne eigenen Namen hier liegt, die Bulgaris und das Grab der Hasslers, einer Schweizer Hoteliersfamilie. Er meinte, Orte wie das Hassler gäbe es eigentlich gar nicht mehr. Es wäre ein Familienhotel in fünfter Generation. Lange geführt von einem eleganten Direktor mit Elefantengedächtnis, der in drei Sprachen Lippen lesen konnte und jetzt hier liegt. Was dieses Haus für Rom bedeutet, zeigt sich, wenn man die Hotelstreichhölzer rausholt und einer Römerin Feuer gibt oder seine Nummer auf das Briefpapier schreibt.
Wir liefen ein bisschen weiter zwischen den Gräbern umher, und ich erzählte ihm, dass ich nach Rom geflohen bin, um die Schuld zu töten und nicht in Lissabon zu sein. Er meint, dass sich die Zeit in Rom gut anhalten lasse, sei es, um sich in den Gassen hinterm Piazza Minerva zu verlieren oder vom Ponte Sisto zu stürzen, springt man oder springt man nicht, so hamlethaft wie das klingt, lieber nicht. Es wäre für mich das Beste, irgendwo zu sitzen, zu trinken und zu hören, wie ein Römer über die Welt herzieht. Rom erschien ihm das einzig richtige, das ich jetzt tun könne. Vielleicht auch nicht, aber ich wollte auch mal das Richtige falsch machen. Es ist ein guter Ort für die Zeit nach einer Trennung, weil es ein Ort zum Leben und zum Sterben ist. Alles erinnert überall an den Tod, so dass man das Leben nie vergisst.
Auf dem Weg zum Einwohnermeldeamt sieht man sich in der Santa Maria Caravaggios an. Alle schönen Städte der Welt werden von Hügeln begrenzt, und da, wo sonst die Speckgürtel sind, steht eine Villa Pamphili. Es gibt keinerlei Anzeichen von Drogerien, plötzlichen Tankstellen, Ausblicken, die man zu Ende gucken muss. Man sieht nur ganz Rom, vom Petersdom bis zum Emanuels-Denkmal, sieht Hügel, Türme, Megalomanien, den Obelisken, ein paar Berge in der Ferne, und denkt, man wird noch mal geboren. Rom, meinte der Alte, das sei die Stadt des Lichts, der sieben Hügel, wie’s sie in Europa ja viele gibt. Sie alle haben das Recht, sich zu verändern, alle Städte außer Rom. Diese Stadt spendet den Trost, dass trotz aller Vergänglichkeit irgend etwas auf der Welt immer gleich ist.
Keine Angst, ich will jetzt nicht erzählen, wie toll Rom ist oder was man da macht. Ich machte nämlich gar nichts, außer mir den Corriere Della Sera zu kaufen und mich vors Ciampini auf die Piazza di San Lorenzo zu setzen und ab und an auf den Friedhof zu gehen, um zu verstehen, wie Leben geht. Auf dem Cimitero Acattolico sind alle woanders geboren und in Rom gestorben. Ich blieb wie angewurzelt vor einem Grab stehen: Rudolf Blau, 1873 geboren in Wien, gestorben in New York 1952, Gerda Blau, auch geboren in Wien und dreißig Jahre nach ihrem Mann in Rom aus der Welt geschieden. Diese Doppelgräber geben einem den Rest. Der Alte blieb vor so einem stehen und sagte, dass uns Menschen doch nichts bleibt außer ein kurzer irdischer Augenblick, in dem wir versuchen, uns den Gebäuden entsprechend mit der uns zur Verfügung stehenden Würde anzuziehen, ohne deren Anmut zu zerstören. Er hatte den Mantelkragen hochgeklappt und trug einen dunkelbraunen Hut, genau wie ich. Es regnete. Ich dachte, um so einen alten Mann im Regen auf einem Friedhof zu treffen, muss man schon in Rom sein, eine Weile mindestens, vielleicht auch zwei oder ganz und gar für immer, ich weiß es nicht, und ich glaube, darum geht es gerade, das einmal nicht zu wissen.
Er meinte, er habe nach dem Tod seiner Frau aufgehört, Dinge zu wissen. Er habe sogar versucht, kein guter Mensch zu sein, aber das ist schwerer als sonst irgendwas und noch schwerer, als zu handeln, ohne zu denken, was es mit anderen macht. Es ist eine noble Geste, die jede Liebe tötet, denn was aus Liebe getan wird, wird jenseits von Gut und Böse getan. Es findet in jenem schwerelosen Augenblick statt, in dem die eigenen Bedürfnisse denen des anderen entsprechen. Danach beginnt der Verfall. Ich konnte am Ende nicht mal mehr ertragen, wenn sie raucht. Es ist vorbei, wenn man das nicht erträgt und anfängt, sich füreinander gesund zu ernähren. Man weiß dann eigentlich schon, dass es vorbei ist, bevor es so ist. Wenn ich schrie, war ich schuld, wenn sie schrie, war ich es auch. Man fährt eine Zeit lang mit Taxis umher, um nicht mit seinen Freunden zu reden, macht dann Therapie und eine Paartherapie, versucht alles mögliche, nur um nicht das Nötige zu tun. Man meldet sich im Fitnessstudio an, hört auf, Käse zu essen, macht Ayurveda und fängt an, DiCaprio zu hassen. Man hat nun die Wahl, die man besser nicht aus gewöhnlichen familiären oder finanziellen Gründen trifft.
Man flüchtet nach Rom, um nicht mehr in Lissabon zu sein und weil dort die Schuld ist, nur Schuld woran? Aber das ist es ja eben. Es gibt keine äußeren Gründe, die man verantwortlich machen kann, außer Möbel. Aber alles, was ich dachte und alles, was ich fühlte, bezog sich auf sie, und alles ist mehr als ein Wort. Sie war das Zentrum und zog alles an. Alles erinnert mich an sie und die Augenblicke, die gerade dann für immer sind, wenn sie vergehen, genau wie der Alte sagte.
Die ersten Tage nach einer Trennung sind fürchterlich hart. Man raucht gleich nach dem Aufwachen vor allem anderen, was man morgens so macht. Man liegt im luftleeren grauen Raum seines vergangenen Lebens und sieht nichts, sieht, wie es ist, sieht wahrscheinlich aus wie ein aufgescheuchtes Tier, das aus einem brennenden Wald durch Glas guckt oder der Melancholiker von Munch oder ein paar blaue Frauen, die Picasso gemalt hat. Tränen steigen in einem auf wie Hochwasser, und man versucht sich bis zum Abend vor Frauen und Alkohol zu retten. Man trinkt zuviel, aber manchmal bleibt einem nichts anderes übrig, als zu viel zu trinken. Man geht auf Dates, aber das ist zum Kotzen. Man langweilt sich selbst an der ständigen Wiederholung seiner Geschichte. Das ganz Leben liegt brach, alle Schienen sind gesprengt, die Geburtstage vorläufig abgesagt. Nichts, das an einem reißt, und niemand, dem man genügen muss, nicht mal sich selbst. Man isst Pizza ohne Pläne in der Sonne und fühlt sich frei wie nie oder so wie damals, mit sechzehn, als der Kumpel draußen wartete und man Ella zum ersten Mal liebte. Es ist hart, und man fühlt sich natürlich noch schlecht, muss die Verantwortung dafür aber nicht selbst übernehmen, sondern kann das Schlechte verantwortlich machen und traurig sein und es hart sein lassen, ohne es lösen zu müssen. Man muss nichts unternehmen, nichts mehr verteidigen, weil es nicht aus der Scheiße ist, die das Leben in seiner Brutalität in der Bahn halten will. Man muss deshalb nicht alle paar Jahre alles abbrennen, oder vielleicht doch?
Eine Trennung ist ja nur die äußere Spitze des inneren Eisbergs einer Veränderung. Ich bin bald 34, trage einen beigen Sommermantel und dunkelblaue Anzüge. In Rom geht man damit unter wie ein Tropfen im Meer. In den einfachsten Cafés, selbst oben, auf dem Gianicolo, in dem ich einmal im Regen gefangen war, gibt es Franciacorta. Und Frauen, die an Tischen vorübergehen. Es geht dann nicht um Frauen, sondern um den Schaumwein und das Vorübergehen. Ich finde Italienerinnen nett, auch wenn Portugiesinnen mir die lieberen Frauen sind. Der Unterschied ist, dass dich eine Portugiesin im Vorbeigehen kaum beachtet und dir so ihre Aufmerksamkeit schenkt. Italienerinnen gehen hingegen lächelnd an dir vorbei und schauen dir tief in die Augen rein bis zum Grund, und du nimmst ihr Lächeln mit in den Tag, obwohl sie den nächsten genauso angucken. Ihnen fehlt der tiefe Glanz einer durch Erdbeben erschütterten Portugiesin, die mit Furcht hinaus aufs Meer sieht.
Das portugiesische Wort für die Liebe ist Amor, das ist Roma nur umgedreht. Die Amore liegt in Rom auf der Straße. Sie ist ein Mythos, nicht wie in anderen Städten, in denen die Liebe so wahr werden muss, dass sie stirbt. Sie kommt direkt von Gott, stinkt nicht nach Mühe und Arbeit, das mögen die Italiener nicht. Wenn man im Ciampini jemanden arbeiten sieht, ist er kein Römer. Ein richtiger Römer setzt sich gut angezogen vors Café, liebt eine Frau, guckt allen anderen hinterher, will gut essen und gut trinken, Phantasien haben und einen Freund, der das Leben auch für beendet erklärt, seitdem er Kinder hat. Er spricht in den Gassen von seinem Leid, als wäre es ein Glück und führt sich auf Plätzen auf, als wären sie Kulissen, vor denen man sich abspielen kann. Römer nehmen ihre Handlungen sehr ernst, auch die ihrer Opern, und wenn die nicht wahrer sind als das Leben, legen sie Einspruch ein und schreien, bis der Regisseur kommt und bittet, sich doch zu gedulden, der Held erhänge sich ja gleich im nächsten Akt. Man genießt die kleinen Freuden des Lebens und sieht das Café als privilegierte Umgebung an, um neue Mängel und Gewohnheiten zu testen, bevor man sie auf den Markt bringt. Das Schöne und Elegante ist ihnen eigen. Ein Sinn für Sommermonate und Muse. Sie wollen zur Arbeit, sie müssen es nicht.
Viele Römer sehen deshalb wunderbar aus, gerade weil sie aussehen, als würden sie andere Dinge tun, als ihre Zeit mit Aussehen zu verschwenden. Man versucht gar nicht erst, irgendeiner glorreichen Erinnerung gerecht zu werden und ist deshalb auch nicht überbeschäftigt irgendeiner Zukunft gleichzukommen. Niemand rennt hier wie in Paris oder New York, man muss nicht dauernd irgendwo hin. Meiner Meinung nach, ist es sogar noch krasser als in Paris, London, New York, weil man ohne zu arbeiten genausoviel Geld ausgibt wie dort, es in Rom aber mit Sprezzatura tun muss.
So allein in Rom sieht man tolle Sachen, und man fragt sich, ob das am Alleinsein liegt oder den Sachen und warum man nicht immer allein heimgegangen ist, außer wenn man mit jemandem geht, der so gut ist wie das Alleinsein selbst. Begrenzt wird das Glück ja nur von Menschen. Natürlich geht man früher oder später mit irgendeiner mit und versucht, die Einsamkeit zu töten, aber man kann die Einsamkeit nicht töten, sondern macht sie nur schlimmer. Die Straßenlaternen schalten sich aus, und der Tag geht an, und die Ampeln funktionieren für noch niemanden. Man sucht nach dieser langen, geraden Straße ab vom Fluss, von der man von der Engelsburg bis zur Spanischen Treppe sieht und wieder weiß, wo man ist, nur ob man sich jetzt in den Tiber stürzt, weiß man lieber nicht. Man verliert sich in den Gassen, kommt an all den Monumenten vorbei, dem Pantheon, dem Trevi-Brunnen und der einen kleinen Gasse, die etwas bergauf führt und sonst nichts Besonderes ist.
Ob wir denn nun noch was trinken gehen, wollte der Alte wissen, nachdem wir den Friedhof verlassen hatten. Er gehe nach dem Friedhof immer noch zu Farnese und vormittags, nachdem er in der Sant’ Andrea della Valle eine Kerze angezündet hat und zwischendrin auch. Er schwärmte von der Bar und von Rom, der Theatralik der Statuen, ihrer Anteilnahme, dem Ausdruck ihrer Gesichter, allen in Marmor gefassten Gefühlen, die es so gibt. Sie widerstehen dem Gewicht der Zeit, das auf den Steinen lastet, die noch kein Staub geworden sind, der Tragik allen Lebens, und Schönheit. Rom wäre das größte, es gibt nichts größeres. Alles andere wäre nur Realität. Die Stadt kommt ganz ohne Meer aus und weiße Boote, die am Abend in der Ferne lautlos durch die Dämmerung segeln. In Rom, im Park der Borghese oder auf dem Gianicolo fängt man an zu heilen. Dieser Blick heilt wie ein Abend über Triest oder der Morgen mit Sfogliatelle am Golf von Neapel. Vielleicht liegt der Zauber Roms darin, dass sich hier Geschichten über Geschichten stapeln, kein Schmerz, der hier nicht schon erlebt, der hier nicht schon überwunden wurde. Man wartet darauf, dass die Qual größer wird als der Schmerz. Dann ist die Qual vorbei, und der Schmerz bleibt, und man weiß, dass man lebt, solange man noch Cacio e Pepe essen kann und ins Farnese geht.
Ich ging oft mit zu Farnese und auch an anderen Tagen in die Sant’ Andrea della Valle, und meine Rechnung ist aufgegangen. Seit drei Wochen bin ich jetzt schon hier. Ich bin in Rom geblieben und nicht mehr weggegangen, habe das Scheitern gefeiert und nicht weitergewusst. Abends blicke ich von der Gymterrasse des Hotel Hassler über die Spagna weg auf Rom und habe das Gefühl, gescheitert, aber glücklich zu sein, und das ist eigentlich kein Zustand meines Lebens.
Ich sehe die Stufen runter, die Via dei Condotti lang, über die Kuppeln und tausend Touristen und denke, hier bleibe ich, hier weiß ich nichts und feiere das Scheitern, von hier bringt mich nichts mehr weg. Ich habe vergessen, dass es außer meiner leidvollen Welt der Liebe auch eine andere Welt gibt, mit Liebe, ohne Leid. Ich habe vergessen, dass es noch andere Menschen gibt und Städte, die etwas von uns haben und uns zu uns führen, einer Form unserer selbst, die uns vielleicht mehr entspricht. So ist man im Umgang mit jedem doch immer ein etwas anderer, und wer weiß dann schon noch, wer er ist, wenn er in sich schaut und nicht um sich sieht, oben über die Spagna von der Gymterrasse des Hotel Hassler aus? Bin ich größenwahnsinnig geworden? Ein Hochstapler wie Felix Krull, talentierter als Mr. Ripley, gesünder als Thomas Bernhard und doch so wie alle, die wir uns in Städten als jemand ausgeben, der wir nicht sind, bis wir es werden, weil wir lange genug so getan haben als ob.
Konstantin Arnold, Jahrgang 1990, ist freier Autor und lebt in Lissabon. Er schreibt Reportagen für Tageszeitungen und Magazine, um sich freitags gute Oliven und portugiesischen Rotwein leisten zu können. 2020 veröffentlichte er seinen Debütroman »Libertin. Briefe aus Lissabon« (Proof-Verlag). Zuletzt erschien von ihm an dieser Stelle in der Ausgabe vom 22./23. Juni die Erzählung »Ein Lied für Grand Hotel Europa«
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