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Aus: Ausgabe vom 11.12.2024, Seite 14 / Feuilleton

Rotlicht: Eskalationsdominanz

Von Reinhard Lauterbach
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Meister der kontrollierten Offensive: Herbert Wehner

Der unvergessene Herbert Wehner hat der Unionsfraktion, als sie während einer seiner Reden den Plenarsaal verließ, einmal hinterhergerufen: »Wer rausgeht, muss auch wieder reinkommen.« Mit anderen Worten: Ihr führt euch jetzt auf, aber ihr verfügt nicht darüber, worum es im folgenden gehen soll: die Eskalationsdominanz.

Der Begriff ist von der Konfliktforschung geprägt worden, aber er greift im Kern auf das zurück, was schon der alte Clausewitz geschrieben hat: dass Krieg die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln sei und zum Ziel habe, den Gegner zur Erfüllung des eigenen Willens zu zwingen. Dass also kriegerische Gewalt vom Prinzip her – in der Praxis mag es oft anders zugehen – nicht einfach Draufhauen bedeutet, sondern dosiert anzuwenden sei: genau soviel, wie aus Sicht des Kriegführenden nötig ist, um die Willfährigkeit des Gegners zu erreichen. Weder zu wenig – dann erreicht sie ihr Ziel nicht – noch zu viel, wenn sie beispielsweise den Widerstandswillen des Gegners mit Verzweiflung auflädt und ihm keinen Ausweg lässt.

Vor einigen Tagen ist in dieser Zeitung die Taktik des russischen Vorgehens im Donbass analysiert worden; dabei wurde auf die Einsicht des chinesischen Denkers Sun Tsu Bezug genommen, dass man dem Gegner immer eine Rückzugsmöglichkeit offenlassen solle, um ihm keinen Vorwand zum Kampf bis zur letzten Patrone zu liefern. Deshalb, so dort die Folgerung: bewusster Verzicht Russlands auf Kesselschlachten wie im Zweiten Weltkrieg.

Ein Beispiel für Eskalationsdominanz war der Einsatz der neu entwickelten »Oreschnik«-Rakete durch Russland gegen die Raketenfabrik Piwdenmasch in Dnipro am 21. November 2024. Er ging in seiner Durchschlagskraft über das hinaus, was die Ukraine in ihrem eigenen Versuch, diese Dominanz zu erringen, in den Tagen zuvor mit Angriffen weitreichender westlicher Raketensysteme auf Ziele im Inneren Russlands praktiziert hatte. Der russische Gegenangriff war einerseits eine Eskalation, insofern er eine neue Waffe von bisher auf dem Kriegsschauplatz nicht erlebter Zerstörungskraft einsetzte. Er war andererseits dosiert, indem die Rakete – so jedenfalls hieß es danach aus Moskau – nicht mit atomaren und auch nicht mit konventionellen Sprengköpfen bewaffnet gewesen sei, sondern mit Übungssprengköpfen, die einfach durch ihre kinetische Energie wirkten; umgangssprachlich gesagt: durch die enorme Geschwindigkeit, mit der sie auf ihr Ziel trafen, und die sich beim Einschlag auf das Ziel übertrug.

Es war ein Schlag, der auch im Westen Eindruck machte, egal, ob es sich bei der russischen Rakete tatsächlich um eine Neuentwicklung handelte oder nur um eine im Prinzip längst vorhandene Langstreckenrakete, der eine Antriebsstufe weggenommen worden war. Was zählte, war die Tatsache, dass erstmals eine solche strategische Rakete unter Kriegsbedingungen verwendet wurde und damit eine Vorstellung von den Folgen eines »richtigen« Einsatzes entstehen konnte. Die Ukraine hat danach auch nur noch einmal ihre westlichen »Atacms«-Raketen verschossen und es seitdem gelassen.

Man merkt an dem Beispiel, dass Eskalationsdominanz praktisch die Kehrseite der Abschreckung ist: Wer sie einsetzt, hofft, den Gegner von weiteren Eskalationsschritten abschrecken zu können. Ganz sicher kann man sich als eskalierende Seite aber nie sein. Deshalb führten die Generalstabschefs Russlands und der USA wenige Tage nach dem »Oreschnik«-Schlag ein längeres Telefongespräch, um »Missverständnisse zu vermeiden«. Denn, und dies ist der Haken: Je höher die Eskalation geschraubt wird, desto eher kann die Kalkulation auch daneben gehen.

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