»Die imperiale Kolonialgeschichte hinterfragen«
Von Jürgen HeiserAm 11. Januar werden Sie auf der Internationalen Rosa-Luxemburg-Konferenz den Beitrag von Mumia Abu-Jamal einleiten und einen Tag später Ihr gemeinsam herausgegebenes Buch »Beneath the Mountain« mit Stimmen aus dem US-Gefängnissystem auf einer Lesung in Berlin vorstellen. Wie entstand die Idee dazu?
J. B.: Bei mir war es der Kontakt zu vielen inhaftierten Radikalen, darunter viele junge Männer, die durch die Erfahrung ihrer eigenen Inhaftierung politisiert worden waren, und die Erkenntnis, wie schwierig es ist, im Gefängnis etwas zu recherchieren. Die Knastbibliotheken sind furchtbar, und Gefangene haben keinen Zugang zum Internet. Daraus und aus vielen Gesprächen mit Mumia im Laufe der Jahre entstand die Idee.
Mumia Abu-Jamal, Sie als Autor und politischer Gefangener im 43. Jahr der Haft, wie sehen Sie die Rolle des inhaftierten Intellektuellen?
M. A.-J.: Es ist die gleiche Rolle wie die des nicht inhaftierten Intellektuellen: Man muss die richtigen Fragen stellen und Antworten finden. Und man muss die imperiale Kolonialgeschichte hinterfragen, wo immer man sie sieht. Einige der freiesten Köpfe der USA sitzen hinter Gittern. Und einige der am meisten in ihrem Denken Gefangenen sind sogenannte freie Menschen in Amerika. Wer Lügen über die Geschichte unterworfen ist, ist nicht frei.
Welche Bedeutung hat das Buch für Sie?
M. A.-J.: Dr. Black hat wirklich einen Treffer gelandet, als sie dieses Projekt initiierte. Es bietet tiefgründige Informationen von Menschen, die Gefängnis und Gefangenschaft erlebt und gegen diese Strukturen gekämpft haben: Nat Turner, George Jackson, klassische Leitfiguren wie Malcolm X. Das Buch enthält 30 Briefe, Essays und Botschaften von einer Vielzahl von Menschen aus allen wichtigen Bewegungen, die alle mit ihrer eigenen Stimme sprechen. John Browns Brief an seine Frau beschreibt das große Übel der USA, das wir nie vergessen dürfen und weiterhin bekämpfen müssen – die Sklaverei. Dies war buchstäblich sein letzter Brief in seinem Leben. Er stand kurz vor der Hinrichtung durch die Regierung wegen des Überfalls auf das Armeewaffenlager von Harpers Ferry, West Virginia, seinem Fanal zur Einleitung der Sklavenbefreiung.
Über Malcolm X können wir nicht sprechen, ohne an seine enorme Selbstveränderung zu denken, als er lernte, die Welt neu zu sehen. Er verinnerlichte, was er lernte, und die Dinge wurden ein Teil von ihm, an denen er wuchs und immer weiter wuchs, solange er lebte. Wir lesen im Buch von Menschen, die im Gefängnis »unter dem Berg« schreiben. Darunter ein Beitrag von Elijah Mohammed von der Nation of Islam (NOI). Mir ist die Frage wichtig: Was hat Malcolm Little zu Malcolm X und dann zu El Hajj Malik el-Shabazz werden lassen? Die Antwort lautet: Was ihn verwandelte, war etwas Mächtiges und doch so Einfaches – Geschichtsbewusstsein. Von Elijah Muhammad lernte Malcolm einen Grundsatz, den er sein ganzes Leben lang und in seinen Schriften wiederholte: »Von all unseren Studien ist es die Geschichte, die am besten geeignet ist, unsere Forschung zu belohnen.« Malcolm verstand, dass er ohne Elijah Muhammad und die Lehren der NOI über die Geschichte der Gefangenschaft und der Herrschaft, der Sklaverei und der Depression in den USA weiter der verbitterte und unwissende junge Häftling geblieben wäre, für den es keinen Ausweg gab.
Diese Erfahrung veränderte ihn, machte ihn zu einem neuen Menschen. Das machte ihn zu dem Malcolm, an den wir uns erinnern. Dem die Schwarzen zuhörten, wenn er zu ihnen sprach. Sie wussten, dass er im Knast gesessen hatte und deshalb genau wusste, wie ihr Leben im schlimmsten Fall aussah. Das Geschichtsbewusstsein, das er sich in der NOI angeeignet hatte, veränderte ihn. Das ist der Grund, warum das Wissen um Geschichte so brisant ist. Warum es so gefährlich ist.
Warum sprechen die Vertreter weißer Vorherrschaft wohl davon, dass wir die Geschichte zerstören müssen? Darin zeigt sich ihre Schwäche, denn sie ahnen, dass das gefährlichste Thema der amerikanischen Geschichte die Geschichte selbst ist. Dieses Buch enthält in jedem Essay eine Lektion über die Geschichte der radikalen und revolutionären Bewegungen, die die Hegemonie der weißen Vorherrschaft, des Kapitalismus und des Imperialismus in den Vereinigten Staaten und darüber hinaus anfochten.
Wenn junge Menschen diese Lektionen lernen, werden sie sich verändern, so wie Malcolm sich verändert hat, denn sie werden die USA nie wieder auf die gleiche Weise betrachten. In der Highschool lernt man keine Geschichte, sondern Lügen. Wir lernen Lügen in der Grundschule und in der Mittelschule. Und dann beginnen wir, uns die Wahrheit zu erarbeiten. Wir lesen die Originaltexte aus sozialpolitischen Bewegungen, die Wahrheiten enthalten, von denen dieses Land erschüttert wurde.
Warum war es wichtig, Nat Turner einzubeziehen?
M. A.-J.: Unterdrückte Menschen finden Hoffnungsschimmer, wo immer es sie gibt, und manchmal dort, wo sie am wenigsten zu erwarten sind. Nat Turners Hoffnungsschimmer war, dass er im Gegensatz zu den meisten Sklaven lesen konnte. Er las die Bibel und sah darin eine grundlegende Revolution der Verhältnisse, unter denen er lebte. Als er anfing, dies anderen Menschen mitzuteilen, waren sie von seiner Vision berührt und bewegt von seinem Glauben an die mögliche Schaffung einer neuen Welt. Aber möglich wird sie nur, wenn wir dafür kämpfen.
Nat Turner ist deshalb wichtig, weil er einen der bedeutendsten Sklavenaufstände in der Geschichte der USA anführte. Seine Rebellion hat den ganzen Süden, ja das ganze Land erschüttert. Denn dieses Land beruhte auf den von der Sklaverei hervorgebrachten wirtschaftlichen Errungenschaften und dem damit erzeugten Kapital. Jede Sklavenrebellion bedrohte deshalb das Fundament der Vereinigten Staaten.
Warum ist dieses Buch für ein internationales Publikum relevant?
J. B.: Ich bin davon überzeugt, dass revolutionäre Solidarität keine Grenzen kennt. Die weltweite Solidarität, die Mumia erfahren hat, ist inspirierend und bewegend. Ich habe sie persönlich erlebt, als ich 1995 nach London reiste, kurz nachdem der Gouverneur von Pennsylvania einen Hinrichtungsbefehl gegen Mumia unterzeichnet hatte. Ich war erstaunt über die Solidaritätsbekundungen und die Unterstützung für Mumia. Die Unterdrückung durch den Staat, die wir in den USA erleben, mag sich aus spezifischen Gründen unserer Geschichte entwickelt haben, aber sie ist etwas, das Unterdrückte auf der ganzen Welt nachempfinden können.
Was bedeutet das Buch für Sie persönlich?
J. B.: Es ist ein guter Schritt in eine interessante Richtung. Wir wollten ein Handbuch für unabhängige Lernende bereitstellen, einschließlich Menschen im Gefängnis, die keinen Zugang zu Universitäten und dem Internet haben, um die Grundzüge der gegen Gefängnisse gerichteten Stimmung in den USA nachzuvollziehen. Wir haben erkannt, dass die politischen Stimmen von eingesperrten Menschen der Welt etwas Wichtiges zu vermitteln haben. Sie lehren uns, wie wichtig der Prozess der Politisierung und Organisierung ist und wie wichtig es ist, die Kräfte zu erkennen und zu artikulieren, die uns verbinden. Sie lehren uns etwas über Solidarität und revolutionäre Liebe und über die lange Tradition des Kampfes vor uns, von der wir ein Teil sind. Sie lehren uns, stolz zu sein auf die Menschen, die es verstehen, zu kämpfen und zu lieben, auf die Revolutionäre, die uns vorausgingen, und dass wir niemals vergessen dürfen, Teil einer stolzen Tradition zu sein.
Wie sind Sie zur Solidaritätsarbeit für Mumia gekommen?
J. B.: In Pennsylvania begann die Solidaritätsarbeit Anfang der 1990er Jahre. Mein Vater, der 1921 in Berlin geboren wurde, dort aufwuchs, aber mit 18 Jahren wegging, besuchte 1991 Berlin. Wo er auch hinkam, fragten deutsche Genossen und Linke ihn: »Du kommst aus Pennsylvania – was tust du da für Mumia Abu-Jamal?« Er antwortete: »Wer ist Mumia Abu-Jamal?«
Als mein Vater in die Staaten zurückkehrte, wollte er das unbedingt herausfinden, und er war erschüttert und schockiert, als er erfuhr, dass Mumia nur 33 Meilen (ca. 53 Kilometer, jW) von seinem Wohnort entfernt inhaftiert war. Zu dieser Zeit saß Mumia seit neun Jahren mit einem Todesurteil im Gefängnis von Huntington im Todestrakt.
Wir informierten uns über den Fall und nahmen Kontakt zum Komitee »International Concerned Friends and Family of Mumia Abu-Jamal« in Philadelphia und dem Quixote Center sowie zu Leuten von Pacifica Radio in Kalifornien auf. Wir fanden heraus, warum Mumia so wichtig war, und begannen einfach zu organisieren. Schon bald wurde daraus eine Welle der Organisierung im ganzen Land und auf der ganzen Welt. Aber wir waren verwundert darüber, dass viele von uns in Pennsylvania erst durch eine Reise nach Deutschland von Mumia Abu-Jamal erfuhren.
Mumia, hier erinnern sich noch viele daran, wie uns seit 1989 Ihre handgeschriebenen Beiträge zuerst per Luftpost und später per Fax erreichten. Warum wurden Ihre Geschichte und Ihr Fall gerade in Deutschland aufgegriffen?
M. A.-J.: Was in den USA passiert, hat viel mit dem zu tun, was in Deutschland passiert, und sei es nur durch eine emotionale Bindung. Menschen, deren Vorfahren aus Deutschland kamen, fanden in Nordamerika eine neue Heimat. Eine der großen Bevölkerungsgruppen in den USA sind mit 44 Millionen die Deutschamerikaner. Die meisten Deutschen lernen in der Schule zumindest etwas Englisch, so dass sie einen Zugang zu den Vereinigten Staaten haben. Der eigentliche Knackpunkt ist jedoch: Wo haben die Deutschen ihre Lektion der »Isolierung der Rassen« gelernt, die seit den 1930er Jahren in Deutschland um sich griff? Sie studierten die US-amerikanische Geschichte und das US-Recht. Sie kamen hierher und studierten vor Ort, wie in den USA mit den afrikanischen und indigenen Sklaven umgegangen wurde. Genau wie die weißen Rassisten in Südafrika von den Reservaten für Indigene in den USA lernten und ihre »Bantustans« schufen.
Die Deutschen lernten aus der rassistischen Geschichte der USA und der Rassentrennung. Wie bei der Apartheid in Südafrika entwickelte sich daraus auch die Diskriminierung und Isolierung der Juden in Deutschland. Die USA sind ein großer Lehrmeister, im Guten wie im Schlechten.
Darüber schreibt sehr brillant der Kameruner Achille Mbembe in »Necropolitics«. Er beschreibt, wie das Volk der Herero in Südwestafrika von den Deutschen kolonisiert wurde. Etwa 50.000 Menschen fielen einem Völkermord zum Opfer, weil sie sich gegen die koloniale Gewalt und den Raub ihrer Arbeitskraft wehrten. Sie wurden in Konzentrationslager gesteckt und abgeschlachtet. Und das geschah bereits eine Generation vor dem Aufstieg der Nazis.
Deutschland und die USA sind durch ihre Kolonialgeschichte geprägt. Wie Frantz Fanon sagte, ist der Kolonialismus an sich ein Akt der Gewalt eines Volkes gegen ein anderes Volk. Praktiziert in der Illusion eines gütigen Akts, geht es jedoch tatsächlich um Ausbeutung. Grundlage ist der gute alte amerikanische Kapitalismus und der deutsche Kapitalismus, es geht um den Raub menschlicher Arbeitskraft, um Profit zu machen. Und das geht nicht ohne Terror. Wie viele Menschen erinnern sich noch an das Volk der Herero im südlichen Afrika, das zu Zehntausenden abgeschlachtet wurde, weil es ein afrikanisches Volk in Afrika war?
Die Konferenz steht in diesem Jahr unter dem Motto »Das letzte Gefecht – wie gefährlich ist der Imperialismus im Niedergang?« Was heißt das für Sie?
M. A.-J.: Wir betrachten dieses Thema aus einer einzigartigen historischen Perspektive, denn vor Jahrzehnten, vielleicht vor 50 Jahren, haben Leute es noch nicht so drastisch gesehen. Ich spreche vom Ökozid, der Zerstörung der Umwelt, in der wir leben. Politiker sagen, die globale Erwärmung sei ein Schwindel. Das erstaunt mich, denn es ist bewiesen, dass einige der zerstörerischsten Stürme in der aufgezeichneten Geschichte der Menschheit Teile der USA trafen. Wir haben erst vor einigen Monaten gesehen, wie dieser große Sturm durch Florida zog, bis nach Georgia vordrang und Berggemeinden in North Carolina zerstörte. Die meisten der Menschen dort haben für Trump gestimmt und ihm geglaubt, als er sagte, die globale Erwärmung sei nicht real.
Was bedeutet die Wahl Donald Trumps für die Zukunft?
M. A.-J.: Widerstand erzeugt Gegenreaktionen. Dies ist eine folgenreiche Zeit. Um zu wachsen und zu überleben, braucht die Trump-Bewegung eine wenig gebildete Bevölkerung. Also treiben sie die Leute zur Hetze an, und Propagandanetzwerke füttern sie mit Lügen. Ich finde es verblüffend, dass ein verurteilter Verbrecher bald Präsident der Vereinigten Staaten sein wird – eigentlich Grund genug für Konservative, nicht mehr darauf zu beharren, dass Gefangene nicht wählen dürfen. Jeder im Gefängnis sollte wählen dürfen.
Und wenn wir im Kampf gegen den Faschismus nicht scheitern wollen, brauchen wir jetzt konsequenten Widerstand auf allen Ebenen und aus allen Teilen der US-amerikanischen Bevölkerung.
Jennifer Black ist aktiv in der US-amerikanischen Antiknastbewegung
Der Autor und Bürgerrechtler Mumia Abu-Jamal sitzt seit mehr als 40 Jahren als politischer Gefangener in US-Haft
Mumia Abu-Jamal, Jennifer Black (Hg.): Beneath the Mountain. An Anti-Prison Reader. City Lights Books, San Francisco 2024, 496 Seiten, 17,47 US-Dollar
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Das Verwaltungsgericht Berlin hat entschieden und die Klage des Verlags 8. Mai abgewiesen. Die Bundesregierung darf die Tageszeitung junge Welt in ihren jährlichen Verfassungsschutzberichten erwähnen und beobachten. Nun muss eine höhere Instanz entscheiden.
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