Linksdrehende Kriegstreiberei
Von Helge ButtkereitDer Titel ist eigentlich ein Etikettenschwindel. »Marx gegen Moskau« heißt das Büchlein von Timm Graßmann, eigentlich müsste es aber heißen: »Mit Marx gegen Putin«. Denn Graßmann, wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Marx-Engels-Gesamtausgabe, nutzt Texte, die Marx als politischer Schriftsteller des 19. Jahrhunderts zur und gegen die damalige russische Politik geschrieben hat, als Steinbruch für tagespolitische Analogieschlüsse. Damit wird ein »links« verklausuliertes Einschwenken auf den Regierungs- und NATO-Standpunkt flankiert. Die Technik ist seit 1914 bekannt, ihre Anwendung in diesem Fall überdurchschnittlich schamlos. Graßmanns Programm: Es stehe außer Zweifel, »dass man von einem an Marx orientierten Standpunkt aus heute die Ukraine leidenschaftlich und mit voller Kraft unterstützen muss«.
Marx hat sich gegen die Politik des historischen zaristischen Russlands gestellt, das in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts die stärkste Macht der Gegenrevolution in Europa war. Graßmann will diesen Marx nun gegen das »Moskau« von heute in Stellung bringen. Daraus macht er auch gar kein Geheimnis. Da werden zum Beispiel Parallelen zwischen dem Krimkrieg und dem gegenwärtigen Krieg in der Ukraine gezogen. Den Krimkrieg analysierte Marx, Graßmann sucht fleißig nach Analogien zum Ukraine-Krieg. Dass die Ukraine mindestens so sehr ein Opfer des Imperialismus der USA ist wie Russlands, kommt nicht nur nicht zur Sprache, sondern wird weggezaubert: Es gebe da eine dritte Partei zwischen Täter (Russland) und Opfer (Ukraine). Diese dritte Partei protestiere wortgewaltig, verrate aber schließlich die guten Absichten. Was westliche Mächte einst im Krimkrieg taten und wofür Marx sie kritisierte, wirft Graßmann mal zwischen den Zeilen, mal ganz offen dem aktuellen »Westen« vor – so, als wäre Marx 2022 ff. auch nichts anderes eingefallen. Eine Analyse des Charakters dieses Krieges – also eine Befassung mit Tatsachen – sucht man dagegen vergeblich.
Dafür wimmelt es in dem Buch von schiefen Analogien. Den britischen Premierminister Palmerston, dessen Reaktion auf den Krimkrieg Marx scharf kritisierte, sieht der Autor als »eine Art englischer Gerhard Schröder des 19. Jahrhunderts«. Marx’ Beschreibung des machiavellistischen Charakters Russlands lese sich wie eine »Charakteristik des putinistischen Staates«, und Putin selbst sei ein Schwindler und Clown, ein durchschnittlicher Nobody, so wie Marx einst Napoleon III. beschrieb. Die Whigs schließlich, die liberale Partei Großbritanniens im 19. Jahrhundert, seien möglicherweise an Russland verkauft gewesen, »so wie heute die SPD«. Wer solchen Quatsch schreibt, der hat entweder keine Ahnung oder verfolgt eine Agenda: Weißwaschung des »Westens« und Linksdrehung der Kriegstreiberei.
Graßmann stellt die Kritik am autoritären Staat durch Marx in den Mittelpunkt und beschreibt diesen Staat unter Rückgriff auf den »18. Brumaire des Louis Bonaparte«. Dabei merkt er gar nicht, wie gut die Marxsche Analyse den gegenwärtigen bürgerlichen Staat – und nicht einfach »Russland« – zur Kenntlichkeit bringt. Der autoritäre Staat, schreibt Graßmann in Anlehnung an Marx, »entspringt typischerweise einer atomisierten, inaktiven, demobilisierten, apathischen Gesellschaft, deren Mitglieder nicht fähig oder nicht willens sind, ihre Interessen zu artikulieren«. Graßmann kommt nicht auf den Gedanken, dass das den Zustand »unserer Demokratie« ganz gut beschreibt.
Marx lehnte den »Westen« nicht ontologisch ab, sondern es ging ihm immer um die konkrete Politik – da hat Graßmann recht. Im Sinne von Marx wäre es durchaus, das konkrete Agieren des imperialen Westens zu kritisieren, die Ausdehnung der NATO, die vielen US-geführten Kriege, oder die Doppelmoral der »wertebasierten Außenpolitik«. Eine solche Kritik ist allerdings mit Graßmanns verquerer Logik nicht zu machen.
Marx’ Beschäftigung mit der russischen Geschichte ist spannend, keine Frage. Bereits kurz nach der Oktoberrevolution geriet dieser Teil seines Werkes in den Fokus linker Gegner der Sowjetunion. Und natürlich ist auch die Frage danach höchst interessant, welche Traditionen im heutigen Russland fortwirken. Graßmann hat daran aber jenseits seiner Analogieschlüsse wenig Interesse. So tut er die Frage nach der Fortdauer der »asiatischen Produktionsweise« ab, sie existiere heute »wohl« nicht mehr und es sei egal, ob man sich die Sowjetunion nun als »Staatskapitalismus« oder »Staatssozialismus« vorstelle. Für ein Geschichtsverständnis in der Tradition von Marx wäre das aber nicht »egal«. Es wäre vielmehr zentral, um das Thema sachlich zu ergründen und die Hintergründe der aktuellen Politik – übrigens des »Ostens« wie auch des »Westens« – zu durchleuchten.
Graßmann ist schlicht einseitig parteilich und nimmt dafür den politischen Schriftsteller Karl Marx, der er zweifellos auch war, in Dienst. Dass ein heutiger politischer Schriftsteller die Kriege des 20. und 21. Jahrhunderts, das Eskalationspotential einer Atommacht und die Rolle des US-Imperialismus sowie die faschistische Tradition des ukrainischen Nationalismus zu bedenken hat, wenn er sich mit dem Krieg in der Ukraine beschäftigt, gehört aber ebenso zur Wahrheit. Davon konnte Marx noch nichts wissen, Graßmann aber wohl. Die Berücksichtigung von derlei Zusammenhängen allerdings würde die Graßmannsche Lobpreisung der Ukraine stören, die laut eines von Marx gelesenen Autors des 19. Jahrhunderts für »Freiheit, Individualität, Assoziation, Föderalismus, Demokratie und Übereinkunft« stand. Graßmanns Buch gehört vollständig in eine Gegenwart, in der auf allen Ebenen an der Herstellung der Kriegstüchtigkeit gearbeitet wird. Von Graßmann eben »mit Marx«. Das Buch liest sich wie eine beflissene Auftragsarbeit, um die letzten linken Zweifler an Bord zu holen. Dafür allerdings sind die aufgetürmten Analogieschlüsse schlicht zu durchsichtig.
Timm Graßmann: Marx gegen Moskau. Zur Außenpolitik der Arbeiterklasse. Schmetterling, Stuttgart 2024, 220 Seiten, 16,80 Euro
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