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Aus: Ausgabe vom 13.01.2025, Seite 10 / Feuilleton
Comic

Eine mögliche Gesellschaft

Der zweite Teil des französischen Comicmeisterwerks »Vernon Subutex« von Virginie Despentes und Luz ist auf Deutsch erschienen
Von Marc Hieronimus
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Der Underground tanzt

»Vernon Subutex« (dt. »Das Leben des Vernon Subutex«, Kiepenheuer & Witsch) erschien 2015 bis 2017 in Frankreich als Romantrilogie. Virginie Despentes ist längst nicht mehr die »Skandalautorin«, als die sie nach ihrem Erstlingsroman und -film »Baise-moi« (»Fick mich«, 1994) über zwei männermordende Frauen wahrgenommen wurde, sondern hat sich spätestens mit ihrem autobiographisch geprägten Essay »King Kong Theorie« (2006) über Geschlechterrollen auch im bürgerlich-seriösen Feuilleton ein hohes Ansehen erschrieben. Das macht »Vernon Subutex« nicht gleich zur Kinderlektüre, auch nicht in der zweibändigen Comicversion.

Durchgehend werden illegale Substanzen konsumiert, es geht um Obdachlosigkeit, Gewalt, Pornographie und die völlige moralische Verkommenheit der Oberschicht. Für die graphische Adaption haben Zeichner Luz und Autorin Despentes die Geschichte etwas umgeschrieben. Statt messianisch mit dem Aufkommen einer neuen Religion in der fernen endet der Comic mit dem friedlichen Tod des Protagonisten in der näheren Zukunft, ansonsten bleibt die Handlung eng an der Vorlage, insbesondere in der Vielzahl und Vielfalt der Figuren. Sie machen die eigentliche Geschichte aus, denn der Plot um den Protagonisten Vernon Subutex ist schnell erzählt: Nach Jahrzehnten erfüllender Arbeit macht der Plattenhändler gezwungen durch den Niedergang des Tonträgermarktes seinen Laden dicht und landet nach kurzer Zeit auf der Straße.

Aus dem vormaligen Kunden- wird nach einigen Wirrnissen ein Freundeskreis. Der ist aber so illuster, dass er die Geschichte praktisch allein am Laufen hält. Da sind einige frühere Bandkollegen, die Journalistin Lydia Bazooka, ein Internettroll namens »die Hyäne«, der Expornostar Pamela Kant, die brasilianische Transfrau Marcia, deren Name unweigerlich an den auch hierzulande bekannten Hit »Marcia Baila« von Les Rita Mitsouko erinnert, ein Fascho, der seine Gefühle entdeckt, ein Säufer, der im Lotto gewinnt, ein erfolgloser Regisseur, die obdachlose, aber umfangreiche und politisch belesene Olga und viele mehr. Lose zusammengehalten werden die Einzelschicksale und -geschichten neben der Hauptfigur durch zwei Todesfälle. Der Popstar Alex Bleach, selbstverständlich ebenfalls vormaliger Plattenkunde, hat Vernon ein Selbstinterview und mystische Sounds hinterlassen, die im späteren Verlauf noch eine Rolle spielen. Vodka Satana, eine weitere Pornodarstellerin, ist ermordet worden, und ihre streng muslimische Tochter sinnt auf Rache.

Viele Comiczeichner haben ihre Karriere mit Karikaturen und kleinen Strips in Hara Kiri bzw. seit 1970 Charlie Hebdo begonnen. Frédéric Othon Théodore Aristidès (1931–2013), kurz Fred, gehörte 1960 zu den Gründern der zunächst monatlich erscheinenden Satirezeitung. Die meisten Leser kennen ihn nur als Zeichner poetischer Bilderzählungen wie »Philémon« oder »Le journal de Jules Renard«, aber zu Beginn hat er viele Titelblätter und Pressezeichnungen für Hara Kiri angefertigt, und auch die ersten Episoden seines »Le petit cirque« erschienen in dem Räuberblatt. Aus jüngerer Zeit wäre Riad Sattouf zu nennen, der heute mit »Der Araber von morgen« große Erfolge feiert, zuvor aber in Charlie jahrelang sehr lustig über »das geheime Leben der jungen Leute« berichtet hat. Auch Joann Sfar (»Die Katze des Rabbiners«) gehörte eine Zeit zum Kreis der Beiträger. Umgekehrt haben viele Ein-Bild-Zeichner auch mal ins Comicfach hineingeschnuppert. Charb, bis zu seiner Ermordung Chefredakteur der Zeitung, hat unter der wissenschaftlichen Anleitung Zineb El Rhazouis eine grandiose (und auch von Gläubigen nicht verteufelte) Mohammed-Biographie gezeichnet, das Charlie-Urgestein Wolinski hat sich nur einmal mit mäßigem Erfolg an eine längere Erzählung (»Das Dorf der Frauen«) getraut. Es ist also keine Selbstverständlichkeit, dass Menschen, die politische und gesellschaftliche Zusammenhänge mit ein paar Federstrichen in einer Zeichnung auf den Punkt bringen, auch lange Erzählbögen spannen, Figuren Tiefe verleihen oder auch nur mit Farbe umgehen können und umgekehrt.

Luz war Despentes’ Wunschzeichner für die Comicfassung, obwohl auch er bis dahin nur Erfahrungen mit humoristischen Kurzformen hatte, und sie hat sich richtig entschieden. Ohne seine Berufserfahrung als Schnellzeichner – nicht zuletzt als Redaktionsmitglied für Charlie Hebdo – hätte er die Arbeit an den zwei voluminösen Bänden kaum stemmen können, und gewiss nicht in dieser Qualität. Keine zwei Seiten sind gleich gestaltet, auf jeder wimmelt es von Details. Luz flicht Erinnerungen, LP-Cover, Chats, Rückblenden und Vorgriffe in das Netz aus Handlungssträngen.

Der breite Freundeskreis aus gesellschaftlichen Randfiguren veranstaltet im zweiten Teil sogenannte Konvergenzen, Tanzveranstaltungen für Eingeweihte, bei denen Subutex sein musikalisches Wissen und Bleachs Klänge zur Geltung bringt. Hier und in weiteren Nacht- und Nacktszenen greift Luz zu anderen Werkzeugen, malt mit Wachs auf schwarzen Karton und sprenkelt Farbtupfer darauf, wo er sonst Pastellfarben oder für rückblickende Nebenhandlungen monochrome Computerkolorierung wählt. Die Kunstfertigkeit in der Darstellung ganz unterschiedlicher Ausdrücke auf nicht weniger verschiedenen Gesichtern hat er sich in den Charlie-Jahren erarbeitet, auch der zeichnerische Humor scheint trotz der meist harten Geschichte immer wieder durch.

Überhaupt ist »Vernon Subutex« kein Buch über die Schlechtigkeit der Welt und ihrer Bewohner, das man nach der Lektüre verstört und erleichtert weglegt, weil die Wirklichkeit zum Glück nicht ganz schlimm ist. Sie ist so schlimm. Das Geld macht alles und alle kaputt, die, die es haben ebenso wie die, denen es fehlt. ­Despentes und Luz erinnern uns daran, dass Musik und Drogen die Welt erträglich machen, Liebe in all ihren Arten sie aber überwinden kann. Im Lauf der Erzählung ergeben sich die unwahrscheinlichsten menschlichen Kombinationen. Wir lernen, was wir eigentlich schon wissen: Unter wahrhaft Liebenden, egal ob freundschaftlich oder sexuell, spielen Herkunft und die Position in der falschen Gesellschaft keine Rolle, man steht füreinander ein, und mehr Geld zu haben als für ein auskömmliches Leben nötig ist nur hinderlich. Ein versöhnlicher, humanistischer Gedanke als Leitmotiv eines, sinnbildlich geht ja beides zugleich: ebenso fesselnden wie bewegenden (und befreienden?) Comicmeisterwerks.

Luz/Virginie Despentes: Vernon Subutex. Band eins (2023), 304 Seiten, 39 Euro; Band zwei (2024), 368 Seiten, 44 Euro, beide: Reproukt, Berlin 2024

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