Pionierin aus der Fremde
Von Sabine KebirIm Frühjahr 1966 wollte ich mit ein paar Freundinnen eine Veranstaltung besuchen, die schon wegen ihrer Bezeichnung ganz ungewöhnlich war – ein »Hootenanny«, wo Jugendliche spontan zusammenkommen und gemeinsam oder auch solo singen würden. Es sollte in einer Schule stattfinden, die meine Freundin Cornelia Schröder besuchte. Ihre Mutter, eine Amerikanerin, hatte die Idee gemeinsam mit einem Freund entwickelt, dem kanadischen Musiker Perry Friedman. Als ich Cornelia in ihrer Wohnung in der Karl-Marx-Allee abholte, forderte sie mich auf, ihrer Mutter guten Tag zu sagen, und schob mich zur Wohnzimmertür herein. Verblüffung! Auf dem Sofa saß Liz Taylor und reichte mir die Hand! Edith Anderson (1915–1999) war jedenfalls eine dem Hollywood-Star sehr ähnliche Dame, nicht nur wegen ihrer perfekten rabenschwarzen Toupetfrisur, sondern auch wegen ihrer stolz-gebieterischen Gestik. Viel Zeit hatte sie nicht für mich, da ihr ein Gast gegenübersaß, mit dem sie ein wichtiges Gespräch führte, nämlich Friedman. Der stand dann wenig später mit seinem Banjo in der Turnhalle der Schule vor vielleicht 50 auf dem Boden sitzenden Jugendlichen. Wir sangen »We shall overcome« – immerhin war Friedman Schüler von Pete Seeger. Besonders berührend war der ebenfalls im Sitzen stattfindende Solovortrag der zu meinem Freundeskreis gehörenden Sanda Weigl. Sie sang »Donna Donna« von Joan Baez. Das aus einem Musical stammende Lied hielten wir für jüdische Folklore.
Schöpferin des Hootenanny
Wenig später gab es noch ein weiteres von Friedman veranstaltetes Hootenannyim Kino Kosmos. Damals hörte ich zum ersten Mal die großartige Lin Jaldati mit ihren jiddischen Liedern. Schnell aber wurde die auf eine Verbindung von Folklore, politischem Lied und Publikumsbeteiligung zielende Hootenanny-Bewegung administrativ gestoppt, weil offenbar zu viel englisch gesungen wurde. Staat und Partei hatten jedoch ein großes Bedürfnis der Jugend erkannt, das nun kontrolliert und mit erheblichen finanziellen Mitteln entwickelt wurde. Der Hootennany-Klub wurde stillschweigend begraben und durch den unter der Ägide der FDJ stehenden Oktoberklub ersetzt. Ab 1970 luden seine zum Teil professionell ausgebildeten Mitglieder jedes Jahr zu einem großen Festival des internationalen politischen Liedes ein. Das jugendliche Publikum bekam auch hier Gelegenheiten zum Mitsingen, saß aber nicht mehr auf dem Boden, sondern auf bequemen Sesseln in großen Konzertsälen. Trotz der Steuerung von oben war diese Singebewegung sehr populär. Sanda Weigl war nicht mehr dabei. Sie machte bald in den USA Karriere, wo sie unter anderem mit wunderbar interpretierten rumänischen Roma-Liedern auftrat.
Das alles hatte letztlich Edith Anderson-Schröder angestoßen, die sich trotz vieler Rückschläge unermüdlich als Kulturvermittlerin zwischen der kleinen DDR und dem großen Nordamerika betätigte. Obwohl sich die damals starke linke Kulturbewegung eindeutig gegen den Vietnamkrieg wandte, erregte sie Misstrauen bei Partei und Staat. Eine Zeitlang wurde das Englische völlig aus dem Kulturbetrieb verbannt. Höhepunkt dieser Kampagne war ein Artikel im Neuen Deutschland, der sich gegen das Singen von »We shall overcome« in der DDR wandte, weil das Lied Probleme anspreche, die mit dem Aufbau des Sozialismus nichts zu tun hätten. Glücklicherweise hielt dieses wahnwitzige Sektierertum nicht lange an. Pete Seeger und Joan Baez traten ein oder zwei Jahre später sogar in der DDR auf: Seeger in einem großen Konzertsaal, Baez nur im kleinen Rahmen, in den Räumen des Kabaretts Die Distel. Des Direktors Tochter, unsere Freundin Barbara Honigmann, durfte ihr einen Blumenstrauß überreichen und bekam einen Kuss von Joan Baez. Anschließend zog diese, gefolgt von einem Teil des Publikums, zu dem bereits verfemten Wolf Biermann.
Aber wie konnte es der US-Bürgerin Edith Anderson einfallen, in der DDR zu leben? So ein Schritt erntete nur Kopfschütteln, bestenfalls Neugier. In ihrem Fall seien es persönliche Gründe gewesen, erklärte Anderson: die Liebe. Das stimmte allerdings nicht ganz. »Gewiss, ich hatte einen deutschen Kommunisten geheiratet, doch ich war selbst Kommunistin. Ein Kommunist vermag seine persönlichen Gründe niemals ganz von seinen politischen zu trennen.« Die junge Jüdin aus der Bronx war schon als Lehramtsstudentin für Englisch am New College der Columbia-Universität Mitglied der KP der USA geworden und hatte 1942 als Kulturredakteurin des Daily Worker gearbeitet – bis man ihre Stelle 1943 wieder einem Mann anvertraute. In diesem Jahr lernte sie in New York den deutschen Exilanten Max Schröder kennen. Er verkörperte für sie »alles, was in seinem Lande gut war, er stand für all jene unbeugsamen Deutschen, denen ihr Leben weniger wert war als die Zerschlagung des Nazismus«. Er war »mager und halb verhungert, (…) aber er hatte die zähe Widerstandskraft von Knorpelgewebe. Er besaß einen Weitblick, der zugleich politisch und poetisch war. Er war Internationalist. Er liebte, was in meiner Heimat gut und schön war. Er wusste (…), wie schwer es mir fiel, sie zu verlassen.«¹
Nur, weil auch sie die »Widerstandskraft von Knorpelgewebe« besaß, konnte Anderson die Herausforderungen bewältigen, die das 1947 in der Sowjetischen Besatzungszone begonnene Leben für sie mit sich brachte. Zunächst war da die bange Konfrontation mit den ihr auf der Straße begegnenden Menschen, von denen jeder irgendwie an der Schoah beteiligt gewesen sein konnte. Anfangs vermochte ihr Mann, immerhin Leiter des Aufbau-Verlages, ihr auch nur bescheidene, ja prekäre Lebensverhältnisse zu bieten. Und schließlich musste sie lernen, den kulturpolitischen Zickzackkurs der SED-Führung zu verkraften. Wie viele andere Intellektuelle der DDR lernte sie, Unzumutbares zu ertragen, weil man an der sozialistischen Per-spektive trotzdem weiterarbeiten wollte.
Autorin, Übersetzerin, Redakteurin
Ein Grund, Schröder in die SBZ zu folgen, war auch sein Versprechen gewesen, dass er selbst das Geld verdienen und für eine Haushaltshilfe sorgen würde, damit Edith Zeit hätte, ihr Schreibtalent zu entwickeln. 1948 brachte sie Cornelia zur Welt. Im Jahr darauf erschien eine erste literarische Arbeit. Diese sicherlich autobiographisch verankerte Novelle handelt von der jungen Loretta, die sich ganz als Amerikanerin fühlt und ihrer jüdischen Identität zunächst kaum Bedeutung zumisst. Von der damals in den USA noch grassierenden antisemitischen Mentalität vieler Menschen wird sie aber immer wieder darauf gestoßen und fühlt sich mehr und mehr verunsichert, sogar bedroht.² Dieses kleine Werk ist auch insofern aufschlussreich, als es verständlich macht, weshalb die Generation jüdischer Intellektueller in der DDR, der Anderson angehörte, froh war, dass dieser Teil ihrer Identität nicht in den Vordergrund gezogen wurde.
1951 war der Familie eines der für prominente Remigranten errichteten komfortablen Häuser in der Rabindranath-Tagore-Straße in Berlin-Grünau zugewiesen worden. Obwohl Anderson eine begeisterte Mutter war und auch zu schreiben begonnen hatte, zog sie sich dort nicht zurück. Sie suchte und fand eigenständige Arbeitskontakte in der DDR-Sektion der Internationalen Demokratischen Frauenföderation, wo sie als Übersetzerin und Redakteurin tätig war. In der DDR gab es kein amerikanisches Kulturinstitut, weshalb sie schnell in die Rolle einer Kulturvermittlerin hineinwuchs. Andersons Biographin Sibylle Klemm weist darauf hin, dass sie stets mutig gegen die pauschalisierende Propaganda von der »amerikanischen Unkultur« auftrat und immer wieder auf die großen Gegenkulturen in den USA hinwies.³ Sie vermittelte viele Gastspiele amerikanischer Musiker und Publikationen linker Autoren, die im Kalten Krieg ohne ihr Engagement wohl kaum zustande gekommen wären.
In der Grünauer Intellektuellenkolonie, wo man sie zunächst wohl bloß als hübsches Anhängsel Schröders ansah, galt sie als kratzbürstig und streitlustig. Immer wieder legte sie sich mit Stefan Heym an – nachzulesen in ihrer in den letzten Lebensjahren verfassten Darstellung ihrer Jugend und Ehejahre: »Liebe im Exil«, womit sowohl Schröders USA-Jahre als auch ihre DDR-Jahre gemeint waren.⁴
Ein anderer Akzent
Ihr 1956 erschienener Roman »Gelbes Licht« – kürzlich unter dem Titel »A Man’s Job« neu aufgelegt⁵ – reiht sich erstaunlich in das damals vom sozialistischen Realismus privilegierte Genre des Produktionsromans ein. Es geht um die vier Kriegsjahre, in denen Anderson selbst bei der Pennsylvania Railroad als Schaffnerin gearbeitet hat. Alle Tätigkeiten bei der Eisenbahn hatte man in den USA bis dahin allein männlichen Arbeitskräften anvertraut. Und nur, weil die Männer im Krieg an der Front benötigt wurden, waren Frauen eingestellt worden. Wie wenig die Gesellschaft und ganz besonders Industriebetriebe auf weibliche Arbeitskräfte vorbereitet waren und mit welcher Unsicherheit und Grobheit die zum Anlernen der Frauen abgestellten Bahnbeamten ihre Aufgabe angingen, mag ein für die Leser in der DDR besonders belustigender Aspekt gewesen sein. Aber auch die Frauen – hier oft »Mädchen« genannt – bewegten sich ebenso unvorbereitet und unsicher auf dem neuen Terrain. Sie sahen sich nicht nur einer Männerfront gegenüber, die fest entschlossen war, sie auf der untersten Stufe der Hierarchie zu halten. Sie strapazierten auch selbst ihre Kräfte durch weibliches Konkurrenzverhalten, was die Autorin – heute etwas befremdlich – durch Beschreibungen von Aussehen, Garderobe, Frisur und Make-up etwas zu oft hervorhebt. Den politisch bewusstesten Frauen gelang es mit der Zeit, bei den Schaffnerinnen Korpsgeist zu erzeugen, um einen eigenen Aufenthaltsraum für die Leerstunden zu bekommen. Schließlich kämpften sie sogar um Aufnahme in die Eisenbahnergewerkschaft, weil sie nur so »Senioritätsrechte« erwerben konnten. Das bedeutete, nicht mehr nur die anstrengendsten und am schlechtesten bezahlten Strecken zugewiesen zu bekommen und, so hofften viele, bei Kriegsende nicht entlassen zu werden.⁶ Genau das aber geschah. Viele Frauen gingen zudem von selbst, weil sie in den kurzen vier Jahren ihre Gesundheit ruiniert hatten.
Obwohl das autobiographisch und sicher fast dokumentarisch zu nennende Buch typische Schwächen der damaligen Produktionsromane aufweist – vor allem zu ausführliche Beschreibungen der mühsam von den Frauen zu erlernenden technischen Abläufe –, ist es doch ein bis heute beeindruckendes frühes Zeugnis feministischer Literatur. Von den durch sowjetische Prüderie geprägten zeitgenössischen Produktionsromanen sticht es ab, weil die nicht unbedingt mit Ehehoffnungen verbundenen erotischen Wünsche der Frauen ihren gehörigen Stellenwert erhalten. Sie setzen sich scharf ab von den archaischen Anzüglichkeiten der patriarchalen Eisenbahnerwelt und machen die tiefe Kluft deutlich, die beide Geschlechter trennte. Dass eine solche Kluft bis heute besteht, zeigt das gesellschaftliche Echo der Me-too-Bewegung. Das Buch macht aber deutlich, dass die Erziehung der Männerwelt nicht durch Jammern und Anschuldigungen, sondern eher durch Selbstermächtigung und erotisches Selbstbewusstsein der Frauen möglich wird. Diese Position bleibt Andersons Markenzeichen – im Leben und als Autorin.
Ohne zu zerbrechen, litt ihre Ehe bald an arbeitsmäßiger und politischer Überlastung Schröders, der – wohl auf Grund dieser Überforderungen – sich dem Alkohol zuwandte und »vergaß, mit seiner Frau zu schlafen«. Ein Grund war wohl auch, dass er an Krebs erkrankte. Dass Anderson die Geschichte ihrer komplizierten, aber nie banal werdenden Ehe mit großem Abstand erst in ihren letzten Lebensjahren niederschrieb, gereichte »Liebe im Exil« sicher sehr zum Vorteil. Eindringlich schildert sie ihre Verzweiflung, die sie schließlich zur erotischen Abenteurerin werden ließ. Trotzdem blieben dem Paar Liebe und Achtung erhalten. Schröder vergaß auch nicht sein Versprechen, sie als Autorin zu unterstützen, und übersetzte einige ihrer Texte. Während seiner Krankheit kam sich das Paar noch einmal sehr nahe. Die Entfaltung von Andersons erotischer Selbstbehauptung entwertete das Verhältnis zum Ehemann nicht. Damit bringt das Buch einen ungewöhnlichen, kraftvollen Akzent in die Frauenliteratur ein.
Zurück nach New York?
Den politischen Schauprozess gegen seinen Nachfolger Walter Janka nahm Schröder nur noch abgeschirmt im Krankenbett wahr. 1958 starb er. Nachdem Anderson eine psychische Krise überstanden hatte und – erst auf anwaltlichen Druck hin – im amerikanischen Konsulat in Westberlin einen Pass erhielt, in dem auch Cornelia verzeichnet war, reiste sie mit der Elfjährigen zu ihrem Vater nach New York. Sie selbst wäre in den USA geblieben. Aber seltsamerweise wollte die hochsensible Tochter, die zwar Kaugummi und Bananen genoss, aber überall böse Kapitalisten vermutete und sich vom FBI verfolgt fühlte, zurück zu ihren Freunden nach Ostberlin. Die Mutter sagte sich, dass sie Cornelia nicht »solchem unheilbaren Heimweh aussetzen« dürfe, unter dem sie selber gelitten hatte. »Sollte sie bestraft werden für meinen Sprung ins Ungewisse von 1947, als ich New York verließ?« Sie versuchte, sich auch die Meinung Schröders zu vergegenwärtigen: »Woher nimmst du das Recht, ihr den Sozialismus zu rauben, für den so viele Menschen gestorben sind oder ins Gefängnis gingen? Er ist vielleicht unvollkommen, aber man kann etwas aus ihm machen.«⁷
Als Cornelia 1967 ein Studium in der DDR aufnahm, wagte Anderson einen neuen Versuch der Heimkehr. Sie gab sich ein Jahr in New York, um festzustellen, ob sie sich dort eine berufliche Existenz schaffen könnte.
Ihr Vorhaben ging Anderson äußerst skrupulös an. Sie wollte ihre Reintegration ins kapitalistische System aus eigener Kraft schaffen und schlug Angebote wohlhabender Freunde aus. Das väterliche Erbe würde nur für wenige Monate reichen. Sie musste schnell Arbeit finden, bewarb sich auf Annoncen von Verlagen, die eine in Deutsch und Französisch bewanderte Lektorin oder Redakteurin suchten. In New York fand sie sich in einer ruhelosen Welt von greller Oberflächlichkeit und Naivität wieder. Von linker Ernsthaftigkeit, die sie in der engagierten intellektuellen Welt ihrer Jugend erlebt hatte, fand sich kaum noch etwas. Ihre alten Freunde lebten resigniert im Abseits oder hatten sich im politischen Nirwana mit den Verhältnissen arrangiert.
Am meisten stießen sie die Beziehungen zwischen Frauen und Männern ab, die auch im »linken« Milieu von Konflikten zwischen gelebter Freizügigkeit und finanziellen Abhängigkeiten geprägt waren. Obwohl ihre Arbeit Anerkennung fand, war sie schlecht bezahlt. Nur unter großen Entbehrungen konnte sie sich schließlich ein passables Studio mit Blick auf den Hudson leisten. So beschloss sie, zu ihrem Freund und der Tochter nach Berlin zurückzukehren. Sogar als freischaffende Publizistin konnte sie – auch dank ihrer Witwenrente – dort ein komfortableres Leben führen. Fortan arbeitete sie auch als DDR-Korrespondentin linker US-Medien.
Die um Briefe ergänzten Aufzeichnungen aus Andersons amerikanischem Jahr wurden 1972 veröffentlicht. Der über ein Foto von Wolkenkratzern gesetzte Titel »Der Beobachter sieht nichts« wies auf das trügerische Bild hin, das man sich in der DDR von den USA machte. Der Untertitel »Tagebuch zweier Welten« zeigte an, dass es um einen Systemvergleich ging.⁸ Im allgemeinen mochten es die eingemauerten DDR-Bürger nicht, wenn aus dem Westen stammende Menschen ihrem Sozialismus Positives abgewannen. Dass Anderson auch die faszinierenden Seiten von New York zeigte, hat die Publikation zusätzlich erschwert, war aber wohl der Grund, dass das selbstironische und brillant geschriebene Buch viel Anklang bei den Lesern fand und eine zweite Auflage erlebte. Heute wirkt es keineswegs veraltet, sondern kann als sensible Wahrnehmung beginnenden Niedergangs gelesen werden.
Blitz aus heiterem Himmel
Biographin Klemm schreibt, dass Anderson oft von feministischen Publizistinnen aus den USA aufgesucht wurde, die sich für die Entwicklung der Frauenpolitik in der DDR und deren Auswirkungen im Alltag interessierten. Diese Kontakte und die eigenen Erfahrungen führten dazu, dass Anderson durch ihre bikulturelle Prägung zu einer Synthese gelangte, die sich als sehr befruchtend für die Frauenliteratur der DDR erwies. Mit einigen ihrer profiliertesten Vertreterinnen war sie befreundet und darüber einig, dass die Frauenemanzipation nicht in weiblicher Separation, sondern in gelebter Konfrontation mit Männern stattfinden müsse. Gleichberechtigungsgesetze und der Eintritt der Frauen in die Arbeitswelt genügten aber nicht, um die Emanzipation zu vollenden, sie bedürfe auch einer robusteren kulturellen Auseinandersetzung.
Mit der Anregung zur 1975 erscheinenden Anthologie »Blitz aus heiterem Himmel« inspirierte Anderson eines der originellsten Literaturprojekte der DDR, für das sie Irmtraud Morgner, Christa Wolf, Sarah Kirsch, Annemarie Auer sowie Günter de Bruyn, Gotthold Gloger, Rolf Schneider und Karl-Heinz Jakobs gewann und auch selbst einen Beitrag lieferte. Die Protagonistinnen und Protagonisten der Novellen erlebten gewollt oder ungewollt einen plötzlichen Geschlechtswechsel und lernten so die privaten und gesellschaftlichen Probleme am eigenen Leibe kennen, mit denen das jeweils andere Geschlecht im Alltag umzugehen hat. Die überschäumend phantasievollen Novellen gingen vom bereits Erreichten in den Ehen und im Arbeitsleben der DDR aus, das durch die Umkehrung der persönlichen Geschlechterperspektive konkret kritisierbar wurde. Was noch utopisch war, erschien machbar. Irmtraud Morgners Beitrag, der dem Hinstorff-Verlag zu freizügig erschien, konnte nur in der westdeutschen Variante des Buchs erscheinen, die, entsprechend dem dortigen männerfeindlichen Feminismus, um die Beiträge der männlichen Autoren abgespeckt wurde.⁹
Die eben bei Aufbau erschienene Neuauf-lage des Originals enthält einen aufschlussreichen Vortrag, den Anderson 1984 in den USA über die Entstehung der Anthologie hielt. Am interessantesten sind weniger die Zögerlichkeiten des Verlags, sondern die vielen Körbe, die Andersen von männlichen Autoren bekommen hatte, die sie um einen Beitrag bat: Franz Fühmann, Hermann Kant, Eduard Claudius, Jurek Becker, Paul Wiens, Erik Neutsch und Peter Hacks. Die Ablehnung des letzteren war um so unverständlicher, weil dessen Stück »Omphale«, in dem diese und Herakles die sozialen Geschlechterrollen tauschen, Anderson zu der Anthologie inspiriert hatte. Sie selbst und auch Carsten Gansels Nachwort weisen darauf hin, dass »Blitz aus heiterem Himmel« vor bzw. gleichzeitig mit den ersten wichtigen theoretischen Werken des westlichen Feminismus erschien. Um so verdienstvoller erscheint Annemarie Auers essayistischer Beitrag, der bereits als Synthese dessen erscheint, was die feministische Theorie noch hervorbringen sollte.¹⁰
Anderson war auch Autorin von Kinderbüchern, die heute wahrscheinlich besonderes Erstaunen wecken. Sie entführen nicht in kitschige oder fiktional überstrapazierte Phantasiewelten, die in westlicher Kinderliteratur den Standard prägen, sondern versuchen, kindergerecht echte gesellschaftliche Fragen aufzuwerfen. »Der verlorene Schuh« handelt von einem Jungen, der hofft, einen neuen Schuh in einem Werk zu bekommen, das Kinderschuhe herstellt. Dort darf er die einzelnen Arbeitsvorgänge beobachten und auch mal Hand anlegen, wodurch er sich schließlich seinen neuen Schuh verdient.¹¹
Im Klappwald
Ein anderes Kinderbuch beschwört die Dys-topie einer Umweltzerstörung herauf, die wohl auf Smogerinnerungen in Andersons New Yorker Jahr basiert. Sie selbst konnte sich zwar mit Freunden am Wochenende in einem ländlichen Gartengrundstück erholen, hatte aber festgestellt, dass ärmere Bürger noch nie ein größeres Stück Natur gesehen hatten. »Der Klappwald« präsentiert eine im Schatten von Wolkenkratzern liegende, ältere, dicht bebaute, schmutzige Stadtlandschaft. Ein alter Mann, der sich noch an Wälder erinnern kann, bastelt einen künstlichen Wald aus großen, aneinandergeklebten Pappstücken, die mit Bäumen bemalt sind. Er kann ihn auf dem Dach seines Hauses aufstellen, aber auch zusammenklappen und in seiner Wohnung abstellen. Mit dieser Attrappe gelingt es ihm ansatzweise, dem Enkel zu erklären, was ein Wald ist. Abwesende Natur wird kontrastiert durch eine ebenfalls vom Großvater ertüftelte Übertechnisierung des Haushalts. Die Großmutter schimpft aber über Bekleidung aus Chemiefasern. Bei einem plötzlichen Smogeinbruch wird der Tag zur Nacht. Ein Hubschrauber macht eine krachende Notlandung auf dem Hausdach. Die gestrandete Mannschaft glaubt sich in einer waldigen Gegend, bis schmutziger Regen den Klappwald zum Einsturz bringt. Großeltern und Enkel werden eingeladen, bei besserem Wetter zu einem richtigen Wald mitzufliegen.¹² Obwohl die Illustrationen die Handlung eindeutig in die Armenviertel New Yorks und damit im Kapitalismus verorten, ist es doch erstaunlich, dass diese drastische Warnung vor drohenden Umweltkata-strophen in der DDR und ausgerechnet als Kinderbuch erschien. Es erlebte zwischen 1978 und 1989 mehrere Auflagen. Anderson war eine idealistische Kommunistin. Besonders ihre Kinderbücher zeigen, dass sie es dank engagierter Intelligenz schaffte, Prinzipien des sozialistischen Realismus, die von anderen Autoren lieber umschifft und von wieder anderen opportunistisch erfüllt wurden, kreativ und glaubwürdig umzusetzen.
Für das nachgelassene Manuskript »Liebe im Exil«, das immerhin 1999 in den USA erschienen war, fand Tochter Cornelia in der Bundesrepublik lange keinen Verlag – wahrscheinlich, weil es eine nicht unkritische, im ganzen aber doch positive Bilanz über Leben und Wirken einer Amerikanerin in der DDR zog. 2007 endlich publiziert, erregte das Buch aber doch genügend Aufmerksamkeit, um die öffentliche Wahrnehmung auf Edith Anderson zu lenken. An deren Meisterwerk »Der Beobachter sieht nichts« hat sich noch kein Verlag herangewagt.
Anmerkungen:
1 Edith Anderson: Der Beobachter sieht nichts. Ein Tagebuch zweier Welten, 2. Aufl., Berlin 1976, S. 7 f.
2 Edith Anderson: Loretta. In: dies.: Leckerbissen für Dr. Faustus. Erzählungen, 3. Aufl., Berlin/Weimar 1980, S. 16 ff.
3 Sibylle Klemm: Eine Amerikanerin in Ostberlin. Edith Anderson und der andere deutsch-amerikanische Kulturaustausch, Bielefeld 2015, S. 109
4 Vgl. Edith Anderson: Liebe im Exil. Erinnerungen einer amerikanischen Schriftstellerin an das Leben im Berlin der Nachkriegszeit, Berlin 2007
5 Vgl. Edith Anderson: A Man’s Job, Berlin 2024
6 Bei einer Zeitungsrecherche nach Artikeln von Ruth Berlau in der Public Library von Manhattan entdeckte ich in der Saturday Evening Post vom 4. März 1944 einen Artikel: Can the Girls Hold Their Jobs in Peacetime? von Constance Roe. Beigegeben ist ein Foto einer Arbeiterin, die stolz ihre Oberarmmuskeln präsentiert. Roe zeigt, dass die Gewerkschaften überwiegend der Meinung waren, dass die heimkehrenden Soldaten das Recht hätten, die von Frauen besetzten Arbeitsplätze wieder einzunehmen.
7 Anderson: Liebe im Exil, S. 501 f.
8 Edith Anderson: Der Beobachter sieht nichts. Tagebuch zweier Welten, Berlin 1972
9 Vgl. Wolfgang Emmerich (Hg.): Blitz aus heiterem Himmel, Darmstadt/Neuwied 1980. Der Band enthält außer Morgners Text nur noch die Beiträge von Christa Wolf und Sarah Kirsch, beschränkt sich also auch bei den Autorinnen auf die im Westen bereits bekannten.
10 Vgl. Edith Anderson (Hg.): Blitz aus heiterem Himmel, Berlin 2024
11 Edith Anderson: Der verlorene Schuh, Berlin 1962. Der Verlag dankte »den Werktätigen der Schuhfabrik VEB Goldpunkt für ihre fachliche Beratung«.
12 Edith Anderson: Der Klappwald, Berlin 1978
Sabine Kebir schrieb an dieser Stelle zuletzt am 1. November 2024 über die algerische Revolution: Ein grausamer Kampf
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