Es wird dunkel
Von Gert Hecht
Alle Jahre wieder präsentiert das Berliner Theatertreffen eine Auswahl der zehn bemerkenswertesten Inszenierungen. Und wie bei den Oscars im abgebrannten Zauberland wird alle Jahre probiert, davon auf den Zustand der zuliefernden Bewusstseinsindustrie zu schließen – und auf das Bewusstsein im Lande. Die aktuelle Auswahl, am Mittwoch in Berlin von der Kritikerjury vorgestellt, lässt schlussfolgern: Das Bewusstsein ist fragmentiert. Noch werden neue Geschlechter gesucht und gefeiert, doch düstere Vorahnungen greifen um sich. Und die soziale Frage? Krieg und Frieden? Tauchen nur am Rande auf.
Identitätspolitische Fortschritts- und Ermächtigungserzählungen gibt es nackt und brutal (»Sancta« von der talentierten Skandalnudel Florentina Holzinger) und angezogen und fluffig (»Blutbuch« von Jan Friedrich nach dem Roman von Kim de l’Horizon). Kapitalismus mit Regenbogenfahne ist besser als mit Eisernem Kreuz, nur deutet sich die schlechte Synthese aus beidem bereits an. Als Gegenstück zur bunten Parade wird der abgründige Düsterniskitsch gleich mitgeliefert (»Double Serpent« von Ersan Mondtag und Federico García Lorcas »Bernarda Albas Haus« in einer Neufassung von Alice Birch, inszeniert von Katie Mitchell). Machtmissbrauch und Gewalt werden in beklemmende Szenarien gebannt, für deren Beschreibung man den jüngst verschiedenen David Lynch bemüht.
Auch Sprachverliebte mit Dadaismusfaible dürften auf ihre Kosten kommen (»Die Maschine oder: Über allen Gipfeln ist Ruh« von Anita Vulesica nach dem Hörspiel von Georges Perec, in dem es um Computerkunst geht). Für Technikfreunde wurde ein abseitiges Virtual-Reality-Stück aufgetrieben (»End of Life. Eine virtuelle Ruinenlandschaft«), für Pina-Bausch-Fans die Neuinszenierung eines Klassikers (»Kontakthof – Echoes of ’78«). Und die soziale Frage? Immerhin gibt es ein bisschen Nachhilfe in Sozialgeschichte der Bundesrepublik (»Unser Deutschlandmärchen« von Hakan Savaş Mican nach dem Roman von Dinçer Güçyeter), eine anrührende und lebensnahe Geschichte aus dem Milieu der »Gastarbeiter«.
Dass sich die Bundesrepublik in atemberaubender Geschwindigkeit in eine Kriegsgesellschaft verwandelt, spiegelt sich in der Auswahl nur am Rande wider. Um Waffenlieferungen geht es in Bertolt Brechts »Die Gewehre der Frau Carrar«, kombiniert mit der Uraufführung »Würgendes Blei« (Regie von Luise Voigt und Text von Björn SC Deigner). Zweifelnder Gestus statt zeitenwendiger Hurrapatriotismus. Am Ende bleibt es dem 2024 plötzlich verstorbenen René Pollesch vorbehalten, die subtile Militarisierung des Alltags in Bilder und Worte gefasst zu haben – gemeinsam mit dem Schauspieler Fabian Hinrichs. »ja nichts ist ok« ist das schönste, traurigste und klügste Stück zum fragmentierten Gegenwartsbewusstsein: der eindeutige, weil reflexive Höhepunkt des diesjährigen Theatertreffens.
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