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Aus: Ausgabe vom 25.01.2025, Seite 15 / Geschichte
Kalter Krieg

Gegen die Spaltung

Vor 70 Jahren wurde das »Deutsche Manifest« verabschiedet. Es zielte auf eine Ablehnung der Pariser Verträge
Von Michael Henkes
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Protestkundgebung gegen Pariser Verträge in der Frankfurter Paulskirche (29.1.1955)

Es ist unter den heutigen politischen Umständen schwer vorstellbar: Der Vorsitzende der SPD, Erich Ollenhauer, und zahlreiche andere Sozialdemokraten, Gewerkschafter des DGB, Vertreter des demokratischen Bürgertums wie Gustav Heinemann sowie zahlreiche prominente Christen und Intellektuelle versammeln sich in der Frankfurter Paulskirche zu einer Friedenskundgebung. Am 29. Januar 1955 verabschiedeten sie an dem geschichtsträchtigen Ort das sogenannte Deutsche Manifest.

In den Jahren unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg war in der deutschen Bevölkerung eine antimilitaristische Grundstimmung weit verbreitet. Angesichts der Millionen Toten und der weitgehenden Zerstörung deutscher Städte fand die Losung »Nie wieder Krieg!« nicht nur unter ehemaligen Widerstandskämpfern breiten Anklang. Bis weit in das bürgerliche Spektrum hinein reichte die Überzeugung, dass nun ein für allemal Schluss sein müsse mit Aufrüstung und Krieg. Angesichts dessen wagten diejenigen, die an einer Wiederbewaffnung arbeiteten, kaum, offen mit ihren Plänen aufzutreten.

Doch mit Verschärfung des Kalten Krieges bröckelte das breite Bündnis der Kriegsgegner. Zunächst war die antimilitaristische Grundhaltung der deutschen Bevölkerung auch bei den Führern der westlichen Alliierten willkommen. Man war sich der Gefahr eines militärisch starken Deutschlands bewusst. Aber angesichts des wachsenden Einflusses des sozialistischen Lagers in Osteuropa und im globalen Süden verschoben sich die Prioritäten. Insbesondere die USA drängten auf eine – auch militärische – Einbindung Deutschlands. Da der Osten unter sowjetischer Besatzung stand, stand hierfür nur der westliche Teil des Landes zur Verfügung. Entsprechend forsch wurde die Spaltung Deutschlands vorangetrieben: Das Angebot für einen Friedensvertrag in Verbindung mit einem geeinten, aber neutralen Deutschland wurde abgelehnt. Statt dessen wurde mittels der Währungsreform im Sommer 1948 der Zusammenschluss der westlichen drei Zonen und deren Integration vorangetrieben. Konrad Adenauer gab die Devise aus: »Lieber das halbe Deutschland ganz, als das ganze Deutschland halb.« Dieser Prozess gipfelte schließlich in der Gründung der Bundesrepublik und der Deutschen Demokratischen Republik.

Wiederbewaffnung

Früh wurde die Westbindung Westdeutschlands verbunden mit der Frage der Wiederbewaffnung. Ziel war es, einen Frontblock im Herzen Europas gegen die UdSSR einzurichten. Das stieß nicht nur in der deutschen Bevölkerung auf Ablehnung. Auch die westlichen Nachbarn der BRD waren skeptisch. Um dem entgegenzutreten, war zunächst die politische und auch militärisch-administrative Einbettung der BRD in eine Europäische Verteidigungsgemeinschaft (EVG) geplant. Die EVG scheiterte letztlich aber am französischen Widerstand, getragen sowohl von einer antimilitaristischen Massenbewegung als auch führenden Mitgliedern des Bürgertums, die eine militärisch erstarktes Deutschland ablehnten. Auch in der westdeutschen Bevölkerung wuchs der Widerstand.

Für die Pläne zur Remilitarisierung hatte das lediglich aufschiebende Wirkung. So forcierte die CDU-Regierung im Verbund mit den USA schließlich den Weg über die sogenannten Pariser Verträge. Die darin enthaltenen Einzelverträge (u. a. Beitritt zur NATO) liefen sowohl auf eine teilsouveräne BRD unter vollkommener Einbindung in das westliche Lager als auch auf die Wiederbewaffnung und militärische Einbindung in die NATO hinaus.

Die Aussicht auf eine wachsende Konfrontation mit dem sozialistischen Lager und eine länger andauernde Teilung des Landes sowie die Zugeständnisse in Souveränitätsfragen an die westlichen Alliierten verschafften der Friedensbewegung Zulauf. Diese umfasste angesichts der nationalen Dimension der Remilitarisierungsfrage auch breite Teile des bürgerlichen Lagers, etwa in Form der Gesamtdeutschen Volkspartei (GVP). Treibendes Element war aber, wie in allen vorangegangenen antimilitaristischen Bewegungen, die Arbeiterbewegung. Zeigten sich auch Teile der SPD- und DGB-Führung in Fragen der Wiederbewaffnung und der Einheit Deutschlands schwankend, so trieb doch ein klassenbewusster, starker Kern der »alten Arbeiterbewegung« diese »Führer« vor sich her. Auch verfügte die KPD insbesondere unter den Industriearbeitern des Ruhrgebiets, doch ebenso in Hamburg und in anderen Städten noch über eine starke Verankerung. Sie drängte auf eine nationale, demokratische Lösung der Deutschland-Frage in Abstimmung mit der UdSSR und der DDR.

Der Höhepunkt dieser Bewegung war die Versammlung in der Frankfurter Paulskirche, bei der auf Initiative von SPD und DGB unter dem Motto »Rettet Einheit, Frieden und Freiheit! Gegen Kommunismus und Nationalismus!« rund 1.000 Teilnehmer zusammenkamen. Sie beschlossen das »Deutsche Manifest«, das eine Lösung der deutschen Frage unter Einbindung aller vier Besatzungsmächte forderte und sich gegen die militärische Blockbildung aussprach. Im Nachgang folgten Protestaktionen und Petitionen, die großen Anklang fanden (alleine 250.000 Unterschriften in Bayern).

Folgenschwere Niederlage

Das Ausmaß der früheren Antikriegsbewegung unmittelbar nach dem Krieg erreichten sie aber nicht, zumal SPD und DGB auf wirksamere Kampfmittel wie etwa Streiks verzichteten. Die Integration der westdeutschen Bevölkerung in die »freie Welt« durch das »Wirtschaftswunder« zeigte erste Ergebnisse. Hinzu kam die antikommunistische Kampagne, die seit 1947 durchs Land lief und bei großen Teilen der Sozialdemokratie und der Gewerkschaften auf fruchtbaren Boden fiel.

Das Ergebnis war die wohl folgenschwerste Niederlage der deutschen Antikriegsbewegung nach 1945: Am 27. Februar 1955 stimmte der Bundestag für die Annahme der Pariser Verträge. 314 Jastimmen standen gegen 157 Neinstimmen, die vorwiegend aus den Reihen der SPD kamen. Damit war die Spaltung und Wiederbewaffnung beschlossene Sache. Am 9. Mai 1955 wurde die BRD NATO-Staat. Im November nahm die Bundeswehr mit der Ernennung der ersten freiwilligen Soldaten Gestalt an. Im Jahr darauf wurde die Wehrpflicht eingeführt.

Recht auf Einheit

Aus ernster Sorge um die Wiedervereinigung Deutschlands sind wir überzeugt, dass jetzt die Stunde gekommen ist, Volk und Regierung in feierlicher Form zu entschlossenem Widerstand gegen die sich immer stärker abzeichnenden Tendenzen einer endgültigen Zerreißung unseres Volkes aufzurufen.

Die Antwort auf die deutsche Schicksalsfrage der Gegenwart – ob unser Volk in Frieden und Freiheit wiedervereinigt werden kann oder ob es in dem unnatürlichen Zustand der staatlichen Aufspaltung und einer fortschreitenden menschlichen Entfremdung leben muss – hängt heute in erster Linie von der Entscheidung über die Pariser Verträge ab. (…)

In dieser Stunde muss jede Stimme, die sich frei erheben darf, zu einem unüberhörbaren Warnruf vor dieser Entwicklung werden. Unermesslich wäre die Verantwortung derer, die die große Gefahr nicht sehen, dass durch die Ratifizierung der Pariser Verträge die Tür zu Viermächteverhandlungen über die Wiederherstellung der Einheit Deutschlands in Freiheit zugeschlagen wird.

Wir appellieren an Bundestag und Bundesregierung, alle nur möglichen Anstrengungen zu machen, damit die vier Besatzungsmächte dem Willen unseres Volkes zur Einheit Rechnung tragen.

Die Verständigung über eine Viermächtevereinigung zur Wiedervereinigung muss vor der militärischen Blockbildung den Vorrang haben. Es können und müssen die Bedingungen gefunden werden, die für Deutschland und seine Nachbarn annehmbar sind, um durch Deutschlands Wiedervereinigung das friedliche Zusammenleben der Nationen Europas zu sichern.

Das deutsche Volk hat ein Recht auf seine Wiedervereinigung!

Manifest der Paulskirchenkundgebung in Frankfurt (29. Januar 1955), zitiert nach Christoph Kleßmann: Die doppelte Staatsgründung. Deutsche Geschichte 1945–1955, Göttingen, 1982, S. 484 f.

Solidarität jetzt!

Das Verwaltungsgericht Berlin hat entschieden und die Klage des Verlags 8. Mai abgewiesen. Die Bundesregierung darf die Tageszeitung junge Welt in ihren jährlichen Verfassungsschutzberichten erwähnen und beobachten. Nun muss eine höhere Instanz entscheiden.

In unseren Augen ist das Urteil eine Einschränkung der Meinungs- und Pressefreiheit in der Bundesrepublik. Aber auch umgekehrt wird Bürgerinnen und Bürgern erschwert, sich aus verschiedenen Quellen frei zu informieren.

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