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Aus: Ausgabe vom 31.01.2025, Seite 11 / Feuilleton
Klassik

Formen musikalischen Gedenkens

Das Rundfunksinfonieorchester Berlin spielte zum 80. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz
Von Kai Köhler
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Energisch: Wladimir Jurowski

»Violins of Hope« werden jene Instrumente von Opfern und Überlebenden der Schoah genannt, die der israelische Geigenbauer Amnon Weinstein zusammengetragen und größtenteils restauriert hat. Natürlich gibt der Massenmord selbst keinen Anlass zur Hoffnung, doch die Instrumente verweisen auf ihre ehemaligen Besitzer und bewahren so die Erinnerung.

Sie für ein Gedenkkonzert – am 27. Januar – zur Befreiung von Auschwitz nach Deutschland zu bringen, war dennoch heikel. Schlimmstenfalls drohte die Illusion von Authentizität, ein wenig KZ-Grusel im doch recht angenehmen Konzertsaal, verbunden mit der Gewissheit, zu den anständigen Deutschen zu gehören, die immer schon auf der richtigen Seite gestanden hätten, wären sie nur rechtzeitig geboren worden. Berthold Tuercke, der zu diesem Anlass das etwa vierzigminütige Werk »Aus Geigen Stimmen« komponierte, stand also vor einer schwierigen Aufgabe. Es galt, eine künstlerische Form zu finden, die das Besondere des Instrumentariums berücksichtigt und es zugleich auf eine allgemeine Ebene hebt.

Tuercke verwendet Texte, fast alle auf jiddisch oder englisch, die zumeist Geschichten von Juden und ihren Geigen berichten. Da werden Violinen vor der Deportation zur Aufbewahrung gegeben oder im KZ gespielt. Das Wort »Lagerorchester« wird mit bitterem Beiklang gesungen, denn in Auschwitz diente die Musik allein den Interessen der Mörder. Fast alle Geschichten enden mit dem Tod. Doch gibt es auch die Flucht zu den Partisanen oder das Überleben durch den Mut bzw. die Dreistigkeit, sich als Cafémusiker niemals zu verstecken.

Der RIAS-Kammerchor singt und spricht solistisch oder in Gruppen und in der Philharmonie verteilt, so dass ein räumlicher Effekt entsteht. Auch die 55 Musiker des Rundfunksinfonieorchesters unter Wladimir Jurowski, an die die Geigen sowie jeweils eine Bratsche und ein Cello verteilt wurden, sind in Blöcke gespalten. Ohnehin spielen sie selten im Tutti. Die meiste Zeit umspielen einzelne der Geigen den Gesang. Tuercke hat für sie eine expressive Melodik komponiert, in ihrer Verdichtung schwer zu greifen und zugleich von großer Intensität. Dadurch werden viele der Orchestermusiker, die sonst im Tutti verschwinden, zu Solisten. Dies verdeutlicht, wieviel die einzelnen Geschichten zählen, aber auch, dass das Ganze mehr als die Summe seiner Teile ist. Nirgends wird die Musik nur illustrativ, nirgends ermöglicht sie einfache Identifikation.

Der zweite Teil des Konzerts bringt zwei Kammermusikwerke, die für Streichorchester umgeschrieben waren. Solche Bearbeitungen stellen selten zufrieden. Hört man Werke für großes Orchester in solistischer Besetzung, so nimmt man oft neue Einzelheiten wahr. Umgekehrt jedoch mildert der chorische Streicherklang klangliche Härten ab, und im schlimmsten Fall verschwimmen Details.

Der jüdische Komponist Gideon Klein, geboren 1919, war ab 1941 im Ghetto Theresienstadt interniert. In diesem Vorzeigelager ermöglichten die Nazis ein reiches Kulturleben, um die internationale Öffentlichkeit über ihre Brutalität zu täuschen. Anders als in Auschwitz konnten die Verschleppten das aber auch für ihr wenigstens zeitweiliges Überleben nutzen. Klein beendete sein Streichtrio 1944, keine vier Wochen bevor er nach Auschwitz deportiert und dort ermordet wurde. Man hört eine neoklassische Musik von unbestreitbarer Qualität mit folkloristischen Einschlägen, Strawinsky und Bartók sind nicht fern. Energische Motorik wird durch reflexive, niedergedrückte Passagen unterbrochen. Man kann das biographisch hören, denn Klein dürfte gewusst haben, dass sein Ende bevorstand. Ähnliches aber schrieben auch andere Komponisten in besseren Lebenslagen, und so stellt sich die Frage nach dem Umgang damit. Zu vergessen, was man über Leben und Tod Kleins weiß, ist schwierig, könnte ihn aber als Komponisten würdigen, der keinen politischen Bonus braucht.

Die von Vojtěch Saudek 1990 erstellte Streichorchesterfassung jedenfalls ist gut für die wichtige Verbreitung dieser Musik. Ob hingegen ein Apparat von fast siebzig Musikern der Klarheit dient, war sogar bei einer so energischen Wiedergabe wie der unter Wladimir Jurowski zuweilen zweifelhaft. Dies weckte Skepsis angesichts des dritten Werks dieses Abends, einer von Jurowski und Steffen Georgi erstellten Version für Streichorchester von Mieczysław Weinbergs 5. Streichquartett von 1945. Nicht nur, dass es mit Weinbergs um die Jahreswende 1945/46 komponierter 2. Sinfonie ein Werk allein für Streichorchester gibt, das man umstandslos hätte aufführen können. Das 5. Quartett ist auch verglichen etwa mit den Nummern vier und sechs ein zurückhaltendes, zartes Werk. Doch ist die größere Besetzung hier einmal ein Gewinn. Sie deckt auf, was Weinberg an Kraft und an Leid in den fünf Sätzen mit harmlos wirkenden Titeln wie »Melodia« oder »Humoreska« verborgen hat. Dabei geht nichts von der Diskretion verloren, mit der er ein knappes Jahr nach der Befreiung von Auschwitz unmissverständlich auf jüdische Musik anspielte. Die Ruhe, mit der am Ende die »Serenata« ausklingt, ist nur eine scheinbare.

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