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Aus: Ausgabe vom 15.02.2025, Seite 12 / Thema
Black History Month

Entmenschlichung als System

Gewalt als Ursprung der Moderne. Die Geschichte des transatlantischen Sklavenhandels
Von Luis Schwarz
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Die Menschen wurden zu Hunderten auf den Sklavenschiffen zusammengepfercht (Zeichnung aus dem 19. Jahrhundert)

Am 21. März 1788 wurde der britischen Königin Charlotte bei einer Audienz eine Petition im Namen der »afrikanischen Brüder« überreicht. In dieser Petition bat der Autor um das Mitgefühl für seine Millionen afrikanischen Landsleute, »die unter der Peitsche der Tyrannei in Westindien stöhnen«. Er forderte daher die Abschaffung der Sklaverei in den westindischen Kolonien, d. h. der Karibik, und ein Verbot des transatlantischen Sklavenhandels. So sollten die Versklavten »aus dem Zustand von Tieren, zu dem sie gegenwärtig erniedrigt (worden) sind, zu den Rechten und der Stellung freier Menschen erhoben« werden. Auf Grund ökonomischer Erwägungen des britischen Parlaments fanden zu dieser Zeit abolitionistische Bestrebungen jedoch keine Mehrheiten.

Der Autor dieser Petition war Olaudah Equiano, der sich auch Gustavus Vassa nannte. Im Jahre 1745 im Gebiet des heutigen Nigeria geboren, wurde Equiano im Alter von zwölf Jahren versklavt und nach Amerika verschleppt. Später konnte er sich freikaufen und ging nach England, wo er zu einem der wichtigsten Wortführer der abolitionistischen Bewegung wurde. Er veröffentlichte im Jahr 1789 seine Autobiographie »The Interesting Narrative of the Life of Olaudah Equiano, or Gustavus Vassa, the African«, die schnell zu einem Schlüsseltext der abolitionistischen Bewegung wurde. Dies ist die erste Autobiographie eines im Komplex des transatlantischen Sklavenhandels Versklavten. Der Text gewährt uns heute nicht nur Einblicke in das System des Sklavenhandels aus der Perspektive eines Betroffenen, sondern dokumentiert auch die verschiedenen Stationen der sogenannten Passage, in der Millionen von Afrikanern als menschliche Handelsware verschleppt und über den Atlantik deportiert wurden.

Equiano war der erste, der die Möglichkeit hatte, seine Geschichte aufzuschreiben und zu veröffentlichen. Seine Stimme steht auch für die Millionen Verstummten, die im Zuge des transatlantischen Sklavenhandels deportiert und ermordet wurden sowie durch unmenschliche Lebens- und Arbeitsbedingungen ums Leben kamen.

Menschen und Zucker

Equiano lebte und wirkte an seinem Lebensende in England, dem Land, in dem sich seit dem Ende des 18. Jahrhunderts der Kapitalismus als erstes voll entwickelte. Hier ermöglichten technologische Errungenschaften wie die »Spinning Jenny« den Übergang vom Merkantilismus zur Industrialisierung. Auf dem Atlantik und in seinen Küstenregionen hatte sich bereits ein System entwickelt, das in Städten wie Liverpool die Arbeitsweise zu revolutionieren begann.

Während die wirtschaftliche Entwicklung in Europa noch in den Kinderschuhen steckte, schufteten bereits Millionen Versklavte auf den Plantagen in den europäischen Kolonien. Ohne Rücksicht auf die Würde des Menschen wurden in einem protoindustriellen Maßstab Waren produziert, die schließlich in den europäischen Kaffeehäusern und Schlössern konsumiert wurden. Hier wurde über Themen wie Aufklärung und Menschenrechte nachgedacht und diskutiert; dort wurden Menschen verschleppt, ausgebeutet und ermordet. Gleichzeitig waren es die Kapitalakkumulation und die Art und Weise des Wirtschaftens der kolonialen Unternehmungen, die der Herausbildung des Kapitalismus in Westeuropa den Weg bereiteten. So abstrakt wie konkret. Noch heute bezeichnet man im amerikanischen Englisch eine Fabrik als eine »plant«. Wie kam es also dazu, dass sich die atlantische Welt zu einem Zentrum des Profits und der Ausbeutung entwickelte?

Bevor Christoph Kolumbus im Auftrag der portugiesischen Krone 1492 in See stach und damit die europäische Kolonisierung des amerikanischen Kontinents einläutete, hatte er einige Jahre auf Madeira verbracht. Diese Insel im östlichen Atlantik wurde ab den 1420er Jahren durch die Portugiesen kolonisiert und schnell zum Zentrum des Zuckerohranbaus, das die damalige europäische Nachfrage beinahe komplett befriedigte. Die Arbeitskräfte, die in dieser Kolonie eingesetzt wurden, waren fast ausnahmslos Versklavte, die an der afrikanischen Küste von europäischen Kaufleuten erworben worden waren. Damit waren die beiden Waren in der Welt, die den Handel des »atlantischen Dreiecks« in Gang bringen sollten: Menschen und Zucker.

Bald gab man die wenig ertragreichen Böden auf diesem Atlantikarchipel auf und nutzte die Insel vor allem als Umschlagplatz für die Sklaventransporte, die dort auf ihrem Weg nach Westen Halt machten. Denn inzwischen hatte man auf den Inseln der Karibik Land gefunden, das viel besser für die Zuckerproduktion geeignet war: Auf Inseln wie Barbados oder Hispaniola errichtete man schnell die auf der Arbeit von Sklaven basierende Plantagenökonomie. Ausgehend von dieser Konstellation entwickelte sich der sogenannte transatlantische Dreieckshandel. Die stetig wachsende europäische Nachfrage nach Zucker und Kaffee befeuerte den Ankauf von Menschen an der afrikanischen Küste, die über die berüchtigte »Middle Passage« in die amerikanischen Kolonien verbracht wurden. Dort mussten sie auf Plantagen Zuckerrohr und Kaffee anbauen – Waren, die nach der Weiterverarbeitung auf dem europäischen Markt verkauft wurden. Im Laufe der rund 300 Jahre, die dieser Komplex bestand, wurden mehr als zwölf Millionen Menschen deportiert. Etwa zwei Millionen überlebten die »Passage« nicht. Währenddessen häuften sich in den europäischen Metropolen bisher unbekannte Reichtümer an. Besonders in London, dem Ort, an dem Equiano seine Biographie schrieb.

Entwurzelung

Der Weg der Verschleppten begann meist tief im afrikanischen Hinterland. So auch für Equiano. Als elfjähriges Kind wurde er zusammen mit seiner Schwester aus seinem Dorf im heutigen Nigeria entführt. Die Sklavenfänger nutzten gezielt die Abwesenheit der Erwachsenen, die auf den Feldern arbeiteten, um vor allem Kinder und Jugendliche zu entführen. Wie Equiano berichtet, waren solche Überfälle wohl so häufig, dass die Kinder auch beim Spielen Wache halten mussten: »Gewöhnlich, wenn die Erwachsenen der Nachbarschaft weit draußen auf den Feldern zur Arbeit waren, versammelten sich die Kinder (…), einige von uns kletterten auf einen Baum, um nach möglichen Angreifern oder Entführern Ausschau zu halten.«

Nach der Entführung begann für die Verschleppten ein monatelanger Marsch zur Küste, während dessen sie mehrfach wie Waren weiterverkauft und von ihren Bezugspersonen getrennt wurden. Auch Equiano und seine Schwester wurden bald an unterschiedliche Sklavenhändler verkauft. Er lebte in verschiedenen Haushalten und freundete sich während einer seiner »Zwischenstationen« sogar mit dem Sohn seiner Eigentümerin an. Doch auch nach dieser kurzen Unterbrechung, die Equiano als eine unbeschwerte Zeit beschreibt, ging es für ihn weiter in Richtung Küste, wo er noch einmal kurz auf seine Schwester traf: »Sobald sie mich sah, stieß sie einen lauten Schrei aus und warf sich in meine Arme.«

Doch die Wiedersehensfreude währte nur eine Nacht. Am nächsten Morgen wurden die Geschwister erneut und diesmal endgültig getrennt. Diese systematische Zerstörung familiärer Bindungen war ein wesentlicher Aspekt des Systems der Sklaverei. Nach Monaten des Marsches erreichten die Verschleppten schließlich die Küste. Dort wurden sie an europäische Händler verkauft, die sie auf ihre Schiffe brachten. Damit begann die grausame Atlantiküberquerung.

Tod und Trauma

Die »Middle Passage«, also die Überfahrt der versklavten Menschen von Afrika in die Amerikas, stellte einen der gewaltvollsten Abschnitte des transatlantischen Sklavenhandels dar. Anhand von Equianos Augenzeugenbericht lässt sich nachvollziehen, unter welch unmenschlichen Bedingungen die Gefangenen die wochenlange Überfahrt erdulden mussten. Bereits der erste Kontakt mit dem Schiff war für die Versklavten traumatisierend. Als Sklavenschiffe wurden häufig ausgediente Schoner verwendet, in die ein Zwischendeck eingebaut wurde. So konnte ein Schiff mehrere hundert Menschen transportieren.

Equiano beschrieb die Situation auf seinem Schiff wie folgend: »Die Enge des Ortes und die Hitze des Klimas, zusätzlich zu der Anzahl auf dem Schiff, das so überfüllt war, dass jeder kaum Platz hatte, sich zu drehen, erstickten uns fast. Dies führte zu reichlichen Schweißausbrüchen, so dass die Luft durch eine Vielzahl ekelhafter Gerüche bald ungeeignet zum Atmen wurde und eine Krankheit unter den Sklaven hervorrief, an der viele starben und so Opfer der unvorsichtigen Habgier, wie ich es nennen mag, ihrer Käufer wurden.« Die Menschen wurden wie Waren zusammengepfercht, und viele starben an Krankheiten oder erstickten. Diese menschenverachtenden Bedingungen waren direkte Folgen des Profitstrebens der europäischen Kaufleute, die versuchten, möglichst viele »Stücke« – wie sie die Menschen nannten – zu transportieren.

Die Brutalität der weißen Besatzung zeigte sich in verschiedenen Formen: Wer sich weigerte zu essen, wurde ausgepeitscht. Selbstmordversuche wurden grausam bestraft – wer versuchte, über Bord zu springen, »um den Tod einem solchen Leben des Elends vorziehend«, wurde, falls überlebend, »unbarmherzig« ausgepeitscht. Diese Gewalt war für Equiano völlig fremd: »Ich hatte noch nie bei irgendeinem Volk solche Beispiele brutaler Grausamkeit gesehen.« Auf den Sklavenschiffen herrschte ein Regime der Gewalt, das jeder Menschlichkeit entbehrte.

In manchen Situationen war es für die Kapitäne lukrativer, ihre menschliche Fracht über Bord zu werfen und die Versicherungssumme zu kassieren, anstatt sich um ihre Pflege zu kümmern. Das moderne System der Versicherungen entstand im Zusammenhang mit dem transatlantischen Sklavenhandel. Hier wurden Menschen zu Waren, deren Wert sich in Geld bemessen ließ, das man sich von einer Versicherung erstatten lassen konnte. Entsprechend wurden sie auch beim Verkauf wie Vieh behandelt. Equiano berichtet: »Wir wurden sofort zum Hof des Händlers geführt, wo wir alle zusammengepfercht wurden wie viele Schafe in einer Herde, ohne Rücksicht auf Geschlecht oder Alter.«

Die »Middle Passage« markiert einen entscheidenden Schritt in der Entwicklung des Kapitalismus: Menschen wurden zu Handelswaren, deren Transport und Verkauf rein nach Profitmaximierung organisiert wurde. Die brutale Effizienz dieses Systems zeigt sich in Equianos Bemerkung über die Trennung von Familien und Menschen aus ähnlichen Herkunftsregionen beim Verkauf: »Muss auch jedes zarte Gefühl eurem Geiz geopfert werden?«

Die Plantagenwirtschaft, der Equiano durch glückliche Umstände nicht zugeführt wurde, entwickelte sich im 17. und 18. Jahrhundert zu einem hocheffizienten, aber auch brutalen Produktionssystem. Im Zentrum stand die Erzeugung von Exportgütern wie Zucker, Kaffee und später auch Baumwolle für den europäischen Markt. Diese Produktion erforderte große Landflächen, viel Kapital und vor allem eine große Zahl an Arbeitskräften.

Eine typische Zuckerplantage brauchte mindestens 300 bis 400 Hektar Land und erhebliches Startkapital. Nach zeitgenössischen Schätzungen benötigte man um 1760 etwa 5.000 Pfund Sterling für eine kleine Plantage mit 300 Acres (ca. 1,2 Quadratkilometer), die 30 bis 50 Hogsheads (große Fässer) Zucker pro Jahr produzierte. Dies würde einer heutigen Kaufkraft von ungefähr 1,3 Millionen Euro entsprechen. Diese hohen Investitionskosten führten dazu, dass sich eine kleine Elite von Plantagenbesitzern herausbildete, die meist von Europa aus investierten. Auf den Plantagen selbst waren es meist dorthin entsandte Verwalter, die mit Gewalt für die Aufrechterhaltung des Plantagenregimes sorgten.

Es gibt nur wenige Quellen aus erster Hand von Menschen, die auf den Plantagen in der Karibik arbeiten mussten. Einer dieser Texte sind die Memoiren von Mary Prince, die sie im Jahre 1831 aufschreiben und veröffentlichen ließ. Sie schilderte eindrücklich, dass die Plantagen nicht nur ein Wirtschaftsbetrieb waren, sondern ein System, das auf alltäglicher Gewalt und der Entmenschlichung der Versklavten basierte.

Der Arbeitstag der Versklavten begann vor Sonnenaufgang und endete oft erst spät in der Nacht. Am Beispiel ihrer Mitsklavin Hetty beschreibt Prince den erschöpfenden Arbeitsalltag: »Sie war die aktivste Frau, die ich je gesehen hatte, und sie wurde bis zum Äußersten beansprucht.« In einer typischen Abendroutine musste Hetty »die Kühe melken (…), die Schafe heimholen und in den Pferch sperren; die Rinder nach Hause treiben und am Teichufer anbinden; das Pferd ihres Herrn füttern und striegeln (…), die Betten vorbereiten und die Kinder ausziehen und schlafen legen.« Das alles nach einem Tag im Zuckerrohr.

Solche langen Arbeitstage wurde durch ein System brutaler Gewalt erzwungen. Prince berichtet von regelmäßigen Misshandlungen selbst bei kleinsten Vergehen: »Mich nackt auszuziehen – mich an den Handgelenken aufzuhängen und mein Fleisch mit der Ochsenpeitsche aufzureißen war eine gewöhnliche Strafe selbst für ein geringes Vergehen.«

Die hohe Sterblichkeit unter den Versklavten war eine direkte Folge dieser unmenschlichen Behandlung. Dies zeigt sich am Schicksal von Hetty, die schwanger brutal ausgepeitscht wurde, daraufhin eine Totgeburt erlitt und kurz darauf selbst verstarb. Prince kommentiert: »Alle Sklaven sagten, dass der Tod eine gute Sache für die arme Hetty war; aber ich weinte sehr um ihren Tod. Die Art und Weise erfüllte mich mit Entsetzen.«

Princes Bericht verdeutlicht, dass die ökonomische Effizienz der Plantagenwirtschaft auf einem System extremer physischer und psychischer Gewalt basierte, das die Versklavten ihrer Menschlichkeit beraubte und sie zu bloßen Produktionsmitteln degradierte. Die Sterblichkeit war entsprechend hoch; viele Plantagenbesitzer kalkulierten damit, dass ihre Sklaven nach sieben bis zehn Jahren »verbraucht« waren und »ersetzt« werden mussten.

Die Plantagen waren dabei enorm profitabel. Allein die Erträge der Plantagen auf Barbados wurden 1650 auf über drei Millionen Pfund Sterling geschätzt. Dies entspricht einem heutigen Profit von ca. 800 Millionen Euro. Solche Profite trugen wesentlich zur Kapitalakkumulation in England bei und finanzierten die beginnende industrielle Revolution. Es waren die Versklavten auf den karibischen Inseln, welche die europäische Entwicklung erst ermöglichten. Aber wieso waren es gerade Menschen afrikanischer Abstammung, die auf den Plantagen zur Arbeit gezwungen wurden?

Rassismus als Rechtfertigung

Die Plantagenwirtschaft in der Karibik und den amerikanischen Kolonien benötigte immense Mengen billiger Arbeitskräfte. Die ersten Versuche, diesen Bedarf durch die Versklavung der indigenen Bevölkerung oder durch europäische Vertrags- oder Zwangsarbeiter zu decken, waren nicht von Erfolg gekrönt. Die indigene Bevölkerung starb durch eingeschleppte Krankheiten oder wurde in den brutalen Raubzügen der Kolonisatoren ermordet. Die Vertragsarbeiter wiederum waren nicht nur teurer, sondern konnten nach Ende ihrer Vertragslaufzeit auch Ansprüche auf Land stellen. Und auch durch europäische Zwangsarbeiter konnte der wachsende Bedarf an Arbeitskräften nicht gedeckt werden. Außerdem wurde diese Form der Zwangsarbeit schnell moralisch angezweifelt.

Die Versklavung von Menschen afrikanischer Abstammung bot damit aus Sicht der europäischen Kaufleute mehrere Vorteile: Erstens existierte im afrikanischen Binnenland und an der Küste ein Sklavenhandel, auf den zurückgegriffen werden konnte. Zweitens konnte man die Versklavten durch Deportation und Separierung von Mitgliedern ihrer Volksgruppen sozial und kulturell einfach isolieren. Hinzu kamen die vergleichsweise niedrigen »Anschaffungskosten«. Was zunächst als eine rein ökonomisch motivierte Ausbeutung begann, führte bald zur Entwicklung einer umfassenden rassistischen Ideologie. Um die moralischen Widersprüche zwischen christlichen Werten und der brutalen Praxis der Sklaverei aufzulösen, wurde eine pseudowissenschaftliche Rechtfertigung entwickelt, die Afrikaner als minderwertige Menschen darstellte.

Diese Rationalisierung durchlief mehrere Phasen: Zunächst wurde die Versklavung religiös gerechtfertigt. Afrikaner galten als Heiden, deren Versklavung ihrer Christianisierung diene. Mit der Aufklärung entwickelte sich dann eine »wissenschaftliche« Rassentheorie, die Afrikaner biologisch als minderwertig einstufte. Schließlich wurde die Sklaverei als »zivilisatorische Mission« verklärt, die angeblich im Interesse der Versklavten selbst lag. Diese Entwicklung des modernen Rassismus ist eine Folge der Sklaverei, nicht ihre Ursache. Der Historiker Eric Williams brachte es in seinem Buch »Capitalism and Slavery« auf den Punkt: »Slavery was not born of racism: rather, racism was the consequence of slavery.«

Die Verbindung von ökonomischer Ausbeutung und rassistischer Ideologie hatte weitreichende Folgen, die bis heute nachwirken. Sie prägte das Selbstverständnis der weißen Gesellschaften nachhaltig, schuf hartnäckige Stereotype und Vorurteile und legitimierte koloniale Herrschaft auch über die formale Abschaffung der Sklaverei hinaus. Besonders perfide ist dabei die Umkehrung von Ursache und Wirkung: Die durch Sklaverei und Kolonialismus geschaffenen sozialen und wirtschaftlichen Ungleichheiten wurden als Beweis für die angebliche Minderwertigkeit der Unterdrückten angeführt.

Der transatlantische Sklavenhandel und die Plantagensklaverei waren somit nicht nur ein System wirtschaftlicher Ausbeutung, sondern schufen auch die ideologischen Grundlagen für den modernen Rassismus. Heutige Debatten um strukturellen Rassismus und postkoloniale Kontinuitäten können nur vor dem Hintergrund des transatlantischen Sklavenhandels verstanden werden. Der moderne Rassismus hat sich in diesem Komplex entwickelt. Er ist ein historisch gewachsenes Konstrukt zur Rechtfertigung ökonomischer Ausbeutung: eine Ideologie zur Legitimierung von Unrecht, Macht und Ausbeutung.

Kehren wir wieder zurück ins ökonomische Zentrum des 19. Jahrhunderts: nach London, dem Ort, in dem Equiano am 31. März 1797 starb. Dort hatte er sich in den letzten zehn Jahren seines Lebens für die Abschaffung des Sklavenhandels und der Sklaverei sowie für ein Projekt für die Rückkehr von Versklavten nach Sierra Leone eingesetzt. Seine Autobiographie wurde noch zu Lebzeiten in vielen europäischen Ländern vertrieben und fand große Beachtung. Sein publizistisches und politisches Engagement hatte aber erst nach seinem Tod Erfolg. Im Jahr 1807 verbot England als erste Kolonialmacht den transatlantischen Sklavenhandel. Auf dem amerikanischen Kontinent blieben aber noch bis zu hundert Jahre Formen der Plantagensklaverei erhalten. Die Geschichte der Sklaverei und ihrer Abschaffung ist bis heute nicht abgeschlossen: Noch immer prägen die Folgen der Versklavung die sozialen und ökonomischen Strukturen auf den amerikanischen Kontinenten. Equianos Autobiographie macht deutlich, dass die Geschichte der Sklaverei nicht nur eine Geschichte von Zahlen und Statistiken ist. Sie ist vor allem eine Geschichte von Menschen.

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