Dein roter Faden in wirren Zeiten
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Aus: Ausgabe vom 19.02.2025, Seite 12 / Thema
Kapitalstrategien

Flucht nach vorn

Vorabdruck. Zwischen Krise und Transformation: Kapitalstrategien nach der Ampel (Teil 1 von 2)
Von Jörg Goldberg, André Leisewitz und Jürgen Reusch
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Obwohl die deutsche Automobilindustrie 2023 nur noch unter 30 Prozent ihrer Kfz in Deutschland fertigen ließ, ist sie weiterhin das Rückgrat der exportorientierten Wirtschaft der BRD (Verladeterminal in Hamburg)

Im März erscheint Heft 141 der Zeitschrift Z. Marxistische Erneuerung. Wir veröffentlichen daraus redaktionell gekürzt und mit freundlicher Genehmigung von Herausgebern und Autoren den Beitrag von Jörg Goldberg, André Leisewitz und Jürgen Reusch in zwei Teilen. Das neue Heft von Z kann bestellt werden unter www.zeitschrift-marxistische-erneuerung.de (jW)

Die Ampel hatte in ihrem im November 2021 vorgelegten Koalitionsvertrag eine radikale Modernisierung (Dekarbonisierung, Digitalisierung, Infrastrukturerneuerung) von Wirtschaft, Industrie und Technologie angekündigt, um »wirtschaftlich und technologisch weiter in der Spitzenliga« zu spielen.¹ Eine solche »Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit« war durchgängige Forderung der Unternehmerverbände. Bei Amtsantritt der Ampel wurde der über die »normale Haushaltsführung« hinausgehende Finanzbedarf der öffentlichen Hand auf Grund der anstehenden Dekarbonisierungserfordernisse und in der Vergangenheit vernachlässigter Infrastrukturinvestitionen auf Bundesebene überschlägig auf eine Größenordnung von 600 bis 800 Milliarden Euro für die nächsten zehn Jahre geschätzt.

Finanzierungsprobleme

Da der Koalitionsvertrag Steuererhöhungen für das große Kapital – also eine begrenzte Heranziehung der Profite für die staatliche Modernisierungsfinanzierung – ausschloss und die Schuldenbremse festschrieb, blieb neben der Suche nach damit kompatiblen Finanzierungsmöglichkeiten (Verschuldungsspielräume im Rahmen der Schuldenbremse; Ausgabenkürzungen; kreditfinanzierte Rücklagen und Sondervermögen) nur das Hoffen auf ein Anziehen der Konjunktur mit erhöhten Steuereinnahmen. Dafür gab es 2021 insofern einige Anzeichen, als auf den durch die Coronakrise verstärkten Konjunktureinbruch 2020 mit einem Rückgang des Bruttoinlandsprodukts (BIP) um 4,1 Prozent 2021 ein deutlicher BIP-Anstieg um 3,7 Prozent folgte, der höhere Staatseinnahmen erwarten ließ.

Die Forderung nach staatlicher Infrastrukturfinanzierung und Unternehmensförderung in Milliardenhöhe über die »normalen« Haushaltsmittel hinaus reagierte auf die jahrelange Unterfinanzierung im Infrastrukturbereich (»schlanker Staat«) durch Bund, Länder und Gemeinden. Gerade hier zeigt sich, dass der Staat heute mit seinen ökonomischen Funktionen integraler Bestandteil des gesellschaftlichen Reproduktionsprozesses ist. Deren Vernachlässigung nimmt das Kapital als »Wettbewerbsnachteil« wahr. Das gilt heute gleichermaßen angesichts der ökologischen Schäden der kapitalistischen Produktionsweise, denen nur gesamtgesellschaftlich gegengesteuert werden kann. Dies erfordert hohe staatliche Investitionen in entsprechende Infrastruktureinrichtungen – z. B. klimaverträgliche Energieversorgung und -netze – und Subventionierung des Privatkapitals, dessen fixes Kapital in starkem Maße (über politische Vorgaben) ökologisch entwertet wird, um entsprechende Neuanlagen profitabel zu machen. Gerade die exportstarken Industrien der BRD verlangten staatliche Subventionen für billige klimaneutrale Energieversorgung, für den »Hochlauf« der Elektromobilität oder den Aufbau entsprechender Zulieferindustrien (Chips, Batterien usw.).

Die Ampelplanung war schon nach wenigen Monaten Makulatur. Und dies aus verschiedenen vorhersehbaren und teilweise auch nicht vorhersehbaren weltwirtschaftlich-konjunkturellen, geopolitischen und strukturellen Gründen.

2021 war das BIP zwar deutlich gestiegen. Gegen Ende des Jahres schwächte es sich aber besonders im Bereich Handel, Verkehr, Gastgewerbe (bei steigender Industrieproduktion) wieder ab; Ursache waren u. a. erneute coronabedingte Restriktionen. Zugleich signalisierte ein starker Anstieg der Großhandelspreise für Mineralölerzeugnisse ab Mitte 2021 erste inflationäre Tendenzen – eine Folge von politischen Sanktionen der USA gegen einige erdölproduzierende Länder. Russlands Einmarsch in die Ukraine im Februar 2022 und die daraufhin ausgerufene »Zeitenwende« mit dem 100-Milliarden-Rüstungsprogramm, der Abkoppelung von russischen Gaslieferungen und den zugehörigen Sanktionen ließen die Energiepreise hochgehen (2022 plus 29,7 Prozent); sie stiegen 2023 weiter (plus 5,3 Prozent) und verminderten sich erst 2024 wieder um etwas über drei Prozent. Die Verbraucherpreise legten 2022 um 6,9 Prozent und 2023 um 5,9 Prozent zu; erst 2024 ging die Inflationsrate auf 2,2 Prozent zurück.

Das BIP-Wachstum 2022 um 1,4 Prozent wurde u. a. durch den nach Aufhebung der Coronarestriktionen anziehenden (nachholenden) privaten Konsum und mehrere staatliche Entlastungspakete gegen die steigenden Energiekosten gestützt. Der Kernbereich der Wirtschaft, das verarbeitende Gewerbe (Industrie), stagnierte dagegen, wofür weiterhin gestörte Lieferketten und der massive Anstieg der Energiepreise verantwortlich gemacht wurden. Ende 2021 hatte die EZB eine geldpolitische Wende gegen die anziehende Inflation eingeleitet, ab Mitte 2022 erhöhte sie schrittweise die Leitzinsen, was sich nachfragedämpfend auswirkte. 2023 ging die Wirtschaftsleistung um 0,3 Prozent zurück, desgleichen 2024 (minus 0,2 Prozent). Die hohe Inflation schwächte den privaten Konsum; die Auslandsnachfrage sackte ab. Die Produktion in den besonders energieintensiven Branchen (Chemie, Metall) sank wie im Vorjahr und ging im gesamten produzierenden Gewerbe zurück. 2024 erholte sich die Produktion in diesen Sektoren nicht, sie brach in Kernbereichen der Exportwirtschaft (Maschinenbau, Automobilindustrie), die sich im Vorjahr noch gehalten hatten, deutlich ein. Hier zeigte sich als weiterer Stagnation und Krise verursachender struktureller Faktor neben der generell eher schwachen weltwirtschaftlichen Nachfrage die zunehmende internationale Konkurrenz für die bundesdeutsche Exportwirtschaft, insbesondere Chinas, auf wichtigen Außenmärkten.

Krise der Autoindustrie

Dies betrifft ganz besonders die Automobilindustrie und die verbundenen Zulieferindustrien. Das ist insofern von Belang, als diese in Deutschland in den vergangenen zwanzig Jahren der größte Wachstumstreiber im verarbeitenden Gewerbe war. Das Zentrum von Produktion und Absatz von Kfz hat sich in den vergangenen Jahrzehnten nach Ostasien, insbesondere China, verlagert. 2023 wurden fast 60 Prozent aller Fahrzeuge in Ostasien produziert. Diesen Prozess hatte die deutsche Automobilindustrie mit vorangetrieben. Sie produzierte 2009 erstmals mehr Autos im Ausland als im Inland. Seit 2018 ist China ihr wichtigster Produktionsstandort. Der Anteil der in Deutschland gefertigten Kfz lag 2023 unter 30 Prozent.

Im Gegensatz zu anderen westeuropäischen Herstellern konnte die deutsche Autoindustrie trotz dieser massiven Auslandsverlagerung ihre Produktion in Deutschland über lange Jahre steigern. Seit 2017 aber ging die Produktion in Deutschland zurück und brach während der Pandemie massiv ein. Ab 2021 erholte sie sich – dank E-Auto-Fabrikation – wieder, aber nur bis zum Niveau von Anfang der 1990er Jahre. Hier offenbarten sich Überakkumulation und ökologische Entwertung des Kapitalstocks, der Zwang zur sogenannten Transformation. 2023 lag die Produktionsauslastung in Deutschland unter 70 Prozent, etliche Werke galten als nicht mehr profitabel. Damit gerieten auch die großen, ebenfalls international aufgestellten Zulieferkonzerne in massive Schwierigkeiten und kündigten Personalabbau an. Die über Jahrzehnte starke Stellung der deutschen Kfz-Industrie beruhte auf verschiedenen Faktoren:

– Sie konzentrierte sich auf den hochpreisigen Sektor (»Premiummarkt«) mit höheren Gewinnmargen, den sie global zu 70 bis 80 Prozent kontrollierte. So konnte sie trotz vergleichsweise hoher Kosten weiter am Standort Deutschland für den Export produzieren.

– Sie profitierte dabei zugleich von der eigenen Internationalisierungsstrategie.

– In Deutschland spielte der enge Verbund zwischen Herstellern und der stark internationalisierten Zulieferindustrie eine entscheidende Rolle. Dies garantierte über lange Jahre die technologische Kontrolle der Verbrennertechnik.

– Der Automobilkomplex erfuhr in Deutschland zudem eine besondere staatliche Förderung, u. a. durch das für den »Premiumsektor« wichtige Dienstwagenprivileg.

Angesichts der mit der Klimakrise politisch erzwungenen Umstellung auf E-Mobilität wurden die bisherigen technologischen und Verbundvorteile in Frage gestellt. 2024 wurden in China 12,5 Millionen Elektroautos gebaut, in Deutschland 1,4 Millionen. Insbesondere in der Batterietechnologie hat China einen großen Vorsprung. Daher verlangt die deutsche Autoindustrie nach stärkerer staatlicher Unterstützung (Ausbau Ladeinfrastruktur, billiger Ladestrom, »bessere politische Rahmenbedingungen und Subventionen«, so der VDA).

Für die Wirtschaftsentwicklung der Bundesrepublik kam in den vergangenen Jahrzehnten der Exportorientierung eine tragende Rolle zu. Die dabei an der Spitze stehende Automobilindustrie zeigt zugleich, dass Exportorientierung und Produktionsverlagerung ins Ausland bei starken Industriezweigen Hand in Hand gehen, wie dies auch für die Chemieindustrie oder den Maschinenbau gilt. Die Exportorientierung ist in der Bundesrepublik mit einem nach wie vor hohen Anteil des verarbeitenden Gewerbes an der Wirtschaftsleistung verbunden. Dieser Anteil war 2023 in Deutschland mit etwa 19 Prozent doppelt so groß wie in Frankreich (zehn Prozent) oder den USA (neun Prozent).

In allen entwickelten kapitalistischen Ländern nimmt dieser Anteil längerfristig ab. Die gegenwärtige Krisenkonstellation trifft die exportorientierten Branchen in unterschiedlichem Maße – überall spielt die schwache Auslandsnachfrage eine Rolle; die Chemieindustrie ist besonders energieintensiv, beim Maschinenbau gibt es eine wachsende Konkurrenz aus osteuropäischen EU-Ländern, für die Autoindustrie spielen der Strukturbruch hin zur Elektromobilität und die starke Stellung Chinas eine besondere Rolle. Gemessen am Produktionsindex, der den Ausstoß an industriell gefertigten Waren misst, ist der Anteil des verarbeitenden Gewerbes mit dem coronabedingten Wirtschaftseinbruch 2020 deutlich zurückgegangen und liegt seitdem unter dem Niveau von 2019. Dies wird allgemein als Indikator für einen beginnenden Deindustrialisierungstrend interpretiert.

Transformationsstrategien

Die Finanzkrise 2008/2009 und die folgende Euro-Krise machten deutlich, dass die Anpassung des Kapitalismus an die mit der Klimakrise, der Digitalisierung und geopolitischen Konflikten verbundenen Veränderungen der Akkumulationsbedingungen im Rahmen des seit den 1980er Jahren dominierenden neoliberalen Paradigmas nicht umsetzbar ist. Die Regierungsübernahme durch die Ampel war politischer Ausdruck dafür. Unter dem Motto »Mehr Fortschritt wagen« sollte eine radikale Modernisierung der Wirtschaft eingeleitet werden, um die Wettbewerbsfähigkeit des »Standorts Deutschland« zu sichern und die Akkumulationsschwäche zu überwinden. Dabei stand die Rolle des Staates im Mittelpunkt: »Deutschland wird nur auf der Höhe der Zeit agieren können, wenn wir den Staat selbst modernisieren.«

Die Ampelkoalitionsvereinbarung von Ende 2021 versuchte die »Quadratur des Kreises«: mehr öffentliche Investitionen, Schuldenbremse/Abbau von Staatsschulden, Steuerentlastungen von Unternehmen ohne wesentliche Einschnitte bei den Sozialausgaben. Ein Kompromiss zwischen neoliberaler Austeritätspolitik einerseits und Staatsinterventionismus andererseits erschien möglich, weil man nach der Coronakrise mit mehr Wirtschaftswachstum rechnete und glaubte, deutsche bzw. europäische Schuldenregeln umgehen und Kreditermächtigungen der Coronajahre zur Speisung von Sondervermögen nutzen zu können. Diese Hoffnungen zerschlugen sich, wie oben gezeigt. Ende 2023 verbot das Verfassungsgericht die Umwidmung der Coronaschulden und markierte die Grenzen eines »kreativen« Umgangs mit der Schuldenbremse. Damit war die Geschäftsgrundlage der Ampel, des Kompromisses zwischen Neoliberalismus und Etatismus, hinfällig.

Die Reaktionen der Parteien des Eigentumsspektrums (AfD, CDU/CSU und FDP), der Unternehmerverbände und der Mainstreamökonomie nach dem Ampel-Aus waren nur auf den ersten Blick fast einmütig, angefangen beim Lindner-Papier (»Wirtschaftswende Deutschland – Konzept für Wachstum und Generationengerechtigkeit«), mit dem die FDP das Ampel-Aus einleitete: Dieses benannte – in populistischer Form – zwei angeblich gegensätzliche Konzepte: »vertikale Industriepolitik« vs. »marktbasierte, diskriminierungsfreie und somit technologieoffene Angebotspolitik durch umfassende Verbesserungen des Ordnungsrahmens«, wobei die zweite Variante als wirtschaftsfreundliches Rezept präsentiert wurde. Dies sind aber – anders als behauptet – keine sich ausschließenden Handlungsmöglichkeiten. Der von Lindner gesetzte »angebotspolitische« Grundton, die Wiederbelebung neoliberaler Parolen von der Verbesserung der allgemeinen Rahmenbedingungen, die Beschwörung des Marktes und die Denunziation des Sozialstaats wurden in Medien, von Wirtschaftsverbänden und der Mainstreamökonomie aufgenommen und prägten auch die Wahlkampfdebatten.

Aber auch hier war und ist viel Populismus im Spiel: Schulden sind in Deutschland schlecht beleumundet, der Staat ist eher unbeliebt, Rufe nach Bürokratieabbau, auch mit der Kettensäge, können auf Beifall zählen. Trotz medialer Dominanz der rückwärtsgewandten Parolen – das CDU-Wirtschaftsprogramm »Agenda 2030« erinnerte bewusst an die neoliberale Wende der Schröder/Fischer-Regierung – war Lindners Staatsinterventionismuskritik im Unternehmerlager alles andere als Konsens. Zwar propagierte das CDU-Programm ebenfalls allgemeine Steuersenkungen auf Gewinne und hohe Einkommen, wollte aber gleichzeitig das »exportorientierte Wirtschaftsmodell« aufrechterhalten und »europäische Unternehmen als European Champions fit für den internationalen Wettbewerb machen«. Das geht aber nur durch gezielte Industriepolitik.

Stefan Wolf, Präsident des Arbeitgeberverbands Gesamtmetall, brachte es fertig, in einem Atemzug die interventionistische Wirtschaftspolitik der Ampel zu kritisieren und den industriepolitischen »Inflation Reduction Act« der US-Demokraten als beispielhaft zu loben. Aufschlussreich sind in diesem Kontext Äußerungen von Vertretern zweier deutscher Krisenbranchen, Automobilindustrie (VW-Vorstand Oliver Blume) und Stahlindustrie (Salzgitter-Vorstand Gunnar Groebler). Beide forderten in Gesprächen mit der FAZ (23. und 24.12.2024) von der Politik bessere »Rahmenbedingungen«, meinten damit aber etwas ganz anderes als das Lindner-Papier: VW forderte (neben »bezahlbarer Energie«) eine Verbesserung der Förderbedingungen für E-Mobilität, Salzgitter mehr staatliche »Anreize« für den klimafreundlichen Umbau und Schutz vor Auslandskonkurrenz. Eine Anfang 2025 veröffentlichte Studie des Verbands der Elektro- und Digitalindustrie (ZVEI) forderte einen Ausbau der bestehenden EU-Fördermaßnahmen und bezog sich auf die Praxis in den USA, China und anderen Ländern, die mit Investitionsgutschriften, Steuerbefreiungen und staatlicher Übernahme von F&E-Kosten Industriepolitik betreiben. Mehr noch: »Eine starke Mikroelektronikindustrie bedarf einer starken Nachfrage aus den Anwendungsindustrien. Die europäischen Kernindustrien wie Automobil und Maschinenbau (…) müssen gezielt gestärkt werden, um Innovation und Synergien entlang der gesamten Wertschöpfungskette zu fördern.« »Der hohe Anteil erneuerbarer Energien und strenge Umweltstandards schaffen ideale Voraussetzungen«, heißt es in der »Schlussfolgerung« der ZVEI-Studie.

Tatsächlich werden viele der von Lindner aufgerufenen Forderungen – Schuldenbremse, Pause in der Klimapolitik, »Technologieoffenheit«, Ablehnung von Industriepolitik – von Kapitalverbänden und Konzernen nicht geteilt bzw. kritisiert.

Reizthema Schuldenbremse

Dies gilt vor allem für die Schuldenbremse, die von den Eigentumsparteien – auch noch im Wahlkampf – vehement verteidigt wurde, obwohl die meisten Wirtschaftsverbände sie für eine Investitionsbremse halten. »Die unternehmerische Verbandswelt ist in Sachen Staatsverschuldung nicht mehr auf einer Linie. Die großen Wirtschaftsverbände BDI, BDA und DIHK haben ihre wirtschaftspolitische Haltung in den vergangenen drei Jahren um 180 Grad gedreht und sich von der Schuldenbremse verabschiedet. Dagegen trommeln CDU-Wirtschaftsrat und ›Die Familienunternehmer‹ lautstark für die Einhaltung der Schuldenbremse und eine nachhaltige Haushaltsfinanzierung«, schrieben die Fuchsbriefe. DIW-Präsident Marcel Fratzscher skizzierte im Spiegel, wie ein zustimmungsfähiger Kompromiss bei der Schuldenbremse aussehen könnte.

Bundesbankchef Joachim Nagel forderte auf dem Davos-Forum eine grundlegende Änderung des »Gesamtkonzepts der Schuldenbremse«. CDU-Chef Friedrich Merz brachte es fertig, sich als Garant »solider« Haushaltspolitik darzustellen, die Schuldenbremse aber gleichzeitig als »technisches Thema« zu bezeichnen, das »man so oder so beantworten« könne. Das Vorhaben der EU-Kommission, Industriepolitik und Staatshilfen für wichtige Sektoren zu intensivieren und zu bündeln, wurde von der CDU ausdrücklich gelobt.

Industriepolitik

Der am 29. Januar von der EU-Kommission veröffentlichte »Kompass für Wettbewerbsfähigkeit« verspricht, »massiv in unsere nachhaltige Wettbewerbsfähigkeit (zu) investieren und dazu mit öffentlichen Investitionen privates Kapital (zu) mobilisieren (…)«. Der »Kompass« ist ganz und gar industriepolitisch ausgerichtet, er will zukunftsfähige Wirtschaftszweige bzw. -prozesse (Dekarbonisierung, Digitalisierung, Biotechnologie) gezielt fördern. Ein »europäischer Fonds für Wettbewerbsfähigkeit« soll die Vergabevorschriften für öffentliche Aufträge so ändern, dass europäische Unternehmen und Produkte bevorzugt werden. Gleichzeitig will er »den Verwaltungsaufwand und die Berichtspflichten der Unternehmen reduzieren«, um die »unternehmerische Tätigkeit (zu) erleichtern und (zu) beschleunigen (…)«. Als ob es mit Frau von der Leyen abgesprochen wäre (ein Schelm, wer Böses dabei denkt), veröffentlichten die Spitzenverbände der deutschen Wirtschaft am gleichen Tag eine Erklärung, in der sie – bezugnehmend auf die Wahl von Donald Trump in den USA – genau das forderten: »Deutschland und Europa müssen agiler und flexibler werden und sich von überbordender Bürokratie befreien.«

Auch der von Lindner beschworenen »Technologieoffenheit« und der Kritik an angeblich zu ambitionierten Klimazielen (inklusive Plädoyer für die Kernkraft) wurde von Kapitalverbänden und großen Unternehmen vor allem der Exportwirtschaft eine Absage erteilt. Dies zeigte ein Papier des »Expertenkreises Transformation der Automobilwirtschaft« (ETA). Der ETA wurde zwar noch von Robert Habeck ins Leben gerufen, ist aber mit den Unternehmen und dem Verband der Automobilindustrie eng verbunden. »Die Realisierung der Produktionskapazitäten (Batteriezellfertigung) in Deutschland bzw. in Europa wird sehr stark davon abhängen, inwieweit Deutschland und Europa glaubhaft nachvollziehbar langfristig am Ausbaupfad der Elektromobilität festhalten und damit die notwendige Planungssicherheit geben.«

Noch expliziter war eine Studie des BDI, die eine industriepolitische »Flucht nach vorn« empfahl.² Deutschland müsse sich auf die neu entstehenden »Billionenmärkte« der grünen und digitalen Technologien einstellen. Die Studie beziffert diese auf global 15 Billionen Euro, wovon allein sieben Billionen auf »Märkte rund um die Klimawende« entfielen. Um dort international konkurrenzfähig zu werden, brauche es große heimische Märkte: »Deutschland kann in diesem Markt dank starker heimischer Nachfrage eine führende Position einnehmen. Die ambitionierten deutschen Klimaziele können den Standort sogar innerhalb Europas zu einem Vorreiter der Wärmewende machen und dafür sorgen, dass in den kommenden Jahren ein materieller Teil des globalen Marktes hierzulande entsteht.«

Kritisch sieht die BDI-Studie auch den Fokus auf Forderungen nach allgemeinen Steuersenkungen: Zwar würden niedrigere Körperschaftsteuern »Deutschlands Wettbewerbsnachteil reduzieren«, allerdings »auf Kosten hoher finanzieller Belastungen der öffentlichen Hand«, meint der BDI. Der Behauptung, Steuersenkungen würden sich durch Wachstum selbst finanzieren, wird widersprochen: »Der staatliche Einkommensverlust (…) würde durch wachstumsbedingte Mehreinnahmen (…) nur zu 20 Prozent refinanziert«, rechnet die Studie vor. Schlussfolgerung: »Zielgerichtete steuerliche Entlastungen könnten Investitionen mit geringeren öffentlichen Einbußen anreizen.« Dass eine Verbesserung der allgemeinen Rahmenbedingungen ausreiche, um im Standortwettbewerb zu obsiegen, bestreitet der BDI: »Den deutschen Industriestandort für neues Wachstum aufzustellen, das erfordert eine grundlegende Transformation, die weit über eine bloße Verbesserung der heimischen Standortbedingungen hinausgeht.« Der ETA betont: »Klassische Ordnungspolitik« reicht nicht aus. Der BDI ergänzt: Notwendig sei eine »industriepolitische Agenda«: »Um seine gute Ausgangsposition tatsächlich in Wachstum zu übersetzen, sollte Deutschland den Aufbau neuer industrieller Wertschöpfung daher politisch proaktiv begleiten.« Von der Politik fordert die BDI-Studie:

– »gezielte finanzielle Hilfe« für energieintensive Industrien;

– ein »gigantisches Investitionsprogramm in klimafreundliche Technologien und Infrastruktur«;

– Fokussierung von Forschung und Entwicklung auf »zentrale Zukunftsfelder«;

– aktive Standortpolitik zur »Lokalisierung neuer Produktion« in Europa;

– »Stärkung des globalen Freihandels«.

– Bis 2030 benötige man zusätzliche Investitionen in Höhe von mehr als 1,4 Billionen Euro, davon ein Drittel öffentliche Investitionen. Dies würde die gesamtwirtschaftliche Investitionsquote um fünf Prozent des BIP erhöhen (um fast ein Drittel), die BIP-Quote öffentlicher Investitionen um 1,6 Prozent, also um fast zwei Drittel.

Anmerkungen:

1 Vgl. Z-Redaktion: Ampelkoalition: eine neue Rolle für den Staat? Z 129 (März 2022), S. 91–114, hier: S. 91

2 Boston Consulting Group (BCG), Institut der deutschen Wirtschaft (IW) im Auftrag des BDI: Transformationspfade für das Industrieland Deutschland. Eckpunkte für eine neue industriepolitische Agenda, September 2024

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    Man könnte den Eindruck gewinnen, es bedürfe nur eines etwas anderen, entschlosseneren Regierungshandelns und schon wären all die genannten Probleme irgendwie lösbar. Das sind sie aber eben nicht, weil sie lediglich der Ausdruck jener Widersprüche und Krisen sind, mit denen die gesellschaftlichen Produktivkräfte gegen die kapitalistische Form der Gesellschaftsverhältnisse rebellieren, in denen sie sich bewegen müssen. Dieselben Kräfte, die dem Staat auftragen, sich gefälligst aus der Wirtschaft herauszuhalten (wenn sie brummt), verlangen nun, da es ihr schlecht geht, dass er all das aufgetürmte Unlösbare in Ordnung bringen möge. Dass sie damit seine objektiv gegebenen Möglichkeiten völlig über- und seine Grenzen unterschätzen, sollte man ihnen überdeutlich entgegenhalten. Natürlich ist es für das Kapital äußerst bequem, sollte der Staat jene Aufgaben übernehmen wollen, für die es sich aus Kostengründen nie interessiert hat. Allerdings reicht seine Kraft nie und nimmer, all die aufgehäuften Widersprüche einigermaßen zu entschärfen. Die Umverteilung der staatlichen Mittel zugunsten des Kapitals wird aber andere Widersprüche in Masse befördern. Man kann sicher sein: Durch jedes halbwegs eingehegte Problem werden dutzende andere Widersprüche aufgerissen, die noch weniger lösbar sind. Es rebellieren eben nicht Politiker gegen Politiker. Das wäre noch zu verschmerzen. Es rebellieren aber die produktiven Kräfte der Gesellschaft gegen die ihnen aufgezwungenen Bewegungsformen. Also etwas, was kein Staat der Welt auf Dauer einhegen kann.

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