»Die Garage liegt im toten Winkel der Denkmalpflege«
Interview: Lena Reich
Als Architekt und Fotograf arbeiten Sie seit mehr als zwanzig Jahren zum baukulturellen Erbe der DDR und dokumentieren die letzten Spuren von Wandmalereien, Mosaiken, Betonreliefs. 2021 veröffentlichten Sie unter anderem in »Das Garagenmanifest« einen fotografischen Überblick zu DDR-Garagen. So rein faktisch: Was ist überhaupt eine Garage?
Allgemein betrachtet versteht man unter einer Garage eine massiv gebaute Schutzbehausung für ein Auto. Die Kunsthistorikerin Luise Rellensmann und der Architekt Jens Casper definieren die Garage oder einen Garagenkomplex mit den Worten: »Der Kern jeder Anlage ist die einzelne Garageneinheit, welche auf den elementaren Gestaltungsprinzipien einer abgeschlossenen Zelle – drei Wände, ein Tor, ein Dach – mit Abmessungen von etwa 3 × 6 × 2,5 Metern basiert. Diese Grundstruktur addiert sich zu langen Reihen und bildet nach dem Baukastenprinzip ein geometrisches Gefüge.« Das heißt also, dass eine Garage genau genügend Raum für ein Auto in den gängigen Maßen zur Zeit ihrer Errichtung verfügt. Ein SUV benötigt heute mehr Platz als ein Trabant oder Wartburg. Und weil man in der DDR aber sehr lange auf das bestellte Auto hat warten müssen, hatten sehr viele Menschen eine Garage, noch bevor sie das Auto besaßen.
Sie stammen aus Eisenhüttenstadt, der ersten sozialistischen Stadt der DDR. Bauten der verschiedenen Dekaden bautechnologischer Entwicklung prägen das Stadtbild bis heute. Welche Rolle spielt die Garage im Aufbaustaat?
In Eisenhüttenstadt gibt es Garagen, die bereits in den 1950er Jahren gebaut wurden und heute im Wohnkomplex I, II und III gar unter Denkmalschutz – mit sogenanntem Gebietscharakter – gestellt wurden. Sie wurden so angelegt, dass sie fußläufig von den Wohnungen zu erreichen sind. Mit dem steigenden Motorisierungsgrad in den 60er Jahren hat man folglich auch in der DDR verstärkt mit dem Bau von ganzen Garagenhöfen und -komplexen außerhalb des Stadtzentrums begonnen. Das bedeutet, dass die Garagenanlagen großflächiger gebaut wurden, einfach, weil sehr viel Platz zur Verfügung stand. Sie waren zwar Luxus, aber der Platz und die Größe spielten keine Rolle. Garagen waren für alle verfügbar, ein Auto hingegen nicht. In der Regel fuhren die Menschen mit Bus und Bahn zur Arbeit und zur Schule. Das Auto wurde nur zu besonderen Anlässen genutzt.
Gibt es bauliche Unterschiede zwischen den Garagengenerationen?
Während die Garagen in den 1950er Jahren noch Teil einer geplanten Stadt waren, waren die aus den 60er Jahren, rein baulich betrachtet, Stückwerk. Hier kam Material zum Einsatz, das ursprünglich nicht für den Bau solcher Komplexe vorgesehen war. Wenn von Wohnblöcken in Großblockbauweise oder Großtafelbauweise Betonblöcke oder Platten übrigblieben, wurden sie zweckentfremdet und recycelt, man würde heute sagen: »Marke Eigenbau«.
Was für Material war das denn?
Es handelt sich um Stein, Ziegel, Beton, Holz, Metall, die in ihrer Optik und Oberfläche unbehandelt verbaut worden sind. Daher haben sich bauliche Unterschiede ergeben. Wenn man sich also die Garagen nebeneinander anschaut, ergeben sich eine Vielzahl von Dachformen und Dachneigungen. Sie unterscheiden sich dann in der Größe, aber auch in der Farbgebung der Tore, in der Vielfalt und Vielzahl an Schlössern, Verriegelungen und Scharnieren oder aber auch in der Art und Weise der Befestigung von Garageneinfahrten. Sie reicht von Rasengitterstein und Betonplatten über Asphalt und Schotter bis zu Gras und unbefestigt.
Ist diese Uneinigkeit nicht das eigentlich Spannende an dem Thema?
Als ich vor etwa fünfzehn Jahren angefangen habe, mich mit dem Phänomen Garage zu beschäftigen, ist mir genau das aufgefallen: wie divers ihre Bauweise ist. Mich faszinierte vor allem die Unterschiedlichkeit landauf, landab in Ostdeutschland. Weil ich eben das baukünstlerische und baukulturelle Erbe der DDR dokumentiere, geht es mir ausnahmslos um alles, was die DDR baulich hervorgebracht hat. Aber eben auch um die Geschichten, die um diese Orte kreisen.
Was sind das für Geschichten?
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Es geht immer wieder um Verlusterfahrungen. Ähnlich habe ich das auch in meiner Heimatstadt Eisenhüttenstadt erlebt. Mit dem flächendeckenden Rückbau der Plattenbauten hat sich das Stadtbild verändert, es sind Lücken entstanden, und die Geschichten der Einwohner wurden damit auch irgendwie negiert. Diese Geschichten sind genau mein Motor, durch die Garagenhöfe zu ziehen und zu fotografieren. Kommt man erst mal mit den Menschen ins Gespräch, darf man zuweilen auch in die heiligen Hallen blicken und entdeckt dort ganz neue Welten, die wiederum tausend Geschichten erzählen. Der Bau von Garagenkomplexen entstand meist in Eigenleistung. Ein Jeder brachte eben mit, was er hatte oder von irgendwoher besorgen konnte. Hohlblockstein, Zement, Kies, Betonmischer, Holzlattung, Nägel, Dachpappe, Abdeckblech. In Gemeinschaftsleistung entstand etwas, das alle zum Ziel hatten.
Welche Bedeutung hat die Ostgarage in der heutigen Zeit?
Nach wie vor stehen selten Autos in den Garagen. Sie sind eher Orte des Sammelns, Hortens, Lagerns oder Reparierens. Man kann schon sagen, dass sie männliche Mikrokosmen sind, in denen sich Nachbarn treffen und ein, zwei Feierabendbiere trinken. Garagen waren verlängerte Wohnzimmer, Orte des Austauschs, der gleichen Interessen, des Lebens, aber auch des Rückzugs – von der Familie und der Staatssicherheit. Das gilt bis heute.
Während der Mann also in der BRD einen Hobbykeller hat, tüftelt der alte weiße Mann in der DDR in der Garage?
Eine Besonderheit, die ich festgestellt habe, ist der Generationswechsel. Die Enkelgeneration übernimmt zumeist die Garage. Einerseits wird sie entrümpelt und als Lagerstätte genutzt. Andererseits gibt es bei der jungen Generation wieder das Bestreben, selbst zu reparieren, zu schrauben und zu basteln. Da kommt das bereits vorhandene Werkzeug – vor allem aber die jahrzehntelange Erfahrung der älteren Generation – sehr recht. Garagen haben eine weitaus vielschichtigere Bedeutung, die, rein von der Architektur her betrachtet, nicht abzulesen ist.
Was genau lässt sich denn an der Garagenmentalität ablesen?
Wie die DDR tickte. Ich denke an das Entwickeln, Tüfteln, Basteln, Werkeln und Erfinden, was in Zeiten von Mangelwirtschaft unabdingbar war und in stunden-, tage- und wochenlanger Arbeit praktiziert wurde. Der Unterschied zur Westgarage lag in der Verfügbarkeit von Dingen. Da es zu DDR-Zeiten keine Überproduktion jeglicher Produkte gab, wurde viel untereinander getauscht. Begehrte Waren, die plötzlich irgendwo doppelt verfügbar waren, konnten gegen andere rare Gegenstände mit Nachbarn in Platte oder Garage getauscht werden. Gerade was Ersatzteile für das Automobil betraf.
»Ersatzteillager« heißt Ihre künstlerische Installation, die Sie für das europäische Kulturhauptstadtjahr Chemnitz 2025 angefertigt haben und die nun im Museum für sächsische Fahrzeuge zu sehen ist. Dafür haben Sie Teile aus Garagen zusammengesammelt. Wie sind Sie vorgegangen?
In drei Aktionen im April, Juni und September bin ich bei bestem Wetter gemeinsam mit dem Team von »#3000 Garagen« durch die Chemnitzer Garagenhöfe gezogen. Wir haben mit Bier und Bockwurst um Leihgabe von Scheibenwischern, Nummernschildern, Schrauben, Tankdeckeln, Werkzeug und Autoreifen gebeten. Raus sind wir mit einem Sammelsurium von rund tausend Gegenständen. So ist ein vierteiliges Schwerlastregal mit vielen Regalböden entstanden, auf denen die verschieden großen Gegenstände im »#ThingsOrganisedNeatly«-Design drapiert sind. Das heißt: ordentlich und überschaubar. Das Team von »#3000 Garagen« hat zudem eine Publikation – ein Objektregister – verfasst, das (fast) alle entliehenen Gegenstände abbildet.
Die Installation ist nun im Museum für sächsische Fahrzeuge im Aufzugsschacht zu sehen. Das ist, so gesehen, die finale Krönung eines gesamtheitlichen einjährigen Prozesses, bei dem die Chemnitzerinnen und Chemnitzer den gewichtigsten Anteil hatten. Aber es wurden ja nicht nur Garagenteile gegen einen Erika-Schreibmaschinenleihschein gesammelt, sondern vielmehr wurden die dazugehörigen Geschichten eingesammelt. Sie waren der wahre Gewinn der Aktionen.
Dann erzählen Sie mal!
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Besonders waren für mich immer die Erzählungen davon, dass man sich Werkzeug selbst fertigen musste, da es das nur spärlich in den BHGs, also den Bäuerlichen Handelsgenossenschaften, gab. In der Installation habe ich etwa eine Schraubzwinge verbaut, die mir ein Mitarbeiter des damaligen VEB Werkzeugmaschinenkombinat »Fritz Heckert« Chemnitz geliehen hat. Hängen geblieben ist auch die Geschichte, dass einer, um Westfernsehen empfangen zu können, einen Bohrer so weit verlängerte, dass er damit durch Wand und Decke kam, um das Antennenkabel hindurchziehen zu können.
Im Kulturhauptstadtjahr stehen jetzt vor allem dieses Erfindertum und diese Machermentalität im Mittelpunkt. Das klingt doch schon sehr nach Marketing …
Klar. Es ist aber auch authentisch und ehrlich. Warum sollte man das nicht vermarkten dürfen? Genau das mag ich so an Chemnitz. Es ist eine Haltung, eine Mentalität, die sich nicht versteckt und die sich jetzt auch gerne mal genau so zeigen darf. Das Projekt »#3000 Garagen« präsentiert die rund 30.000 Chemnitzer Garagen, die größtenteils zu DDR-Zeiten kollektiv und in Eigenleistung gebaut wurden, als lebendige Archive, Kreativräume und Orte der Begegnung. »C the Unseen« – das lange Zeit Unsichtbare sichtbar machen!
Ab April gibt es den Garagenparcours. Besucherinnen und Besucher können dann einen kostenlosen Streifzug durch Chemnitzer Garagen machen.
Darunter ist eine, die Ihrer eigenen vielleicht ähnelt? Interessierte erhalten so einen Überblick, was alles bereits vorher möglich war: von der Fahrzeugremise der Villa Esche, der wohl ältesten Garage in Chemnitz, über die 1928 erbauten Hochgaragen bis zu den DDR-Garagen. Der Parcours funktioniert analog und digital. Es gibt Informationstafeln und kleinformatige Objekte an jeder Station, die von Designstudierenden der Burg-Giebichenstein-Kunsthochschule Halle gestaltet wurden. Mittels QR-Codes werden die Gäste zu Bildern und Tonaufnahmen geleitet, die die Geschichte(n) der Garagen, der Menschen, die sie nutzen, und der Stadt Chemnitz anschaulich vermitteln. Die Garagenhöfe sollen so auch als soziokulturelle Gemeinschaftsorte aktiviert werden.
Sie sind 1982 geboren. Welche eigenen Erinnerungen haben Sie denn an die Garage?
Mein Großvater und mein Vater hatten in Eisenhüttenstadt eine Garage. Während mein Vater für seine eher wertvollen Zeichnungen von Segelflugzeugen eine Garage anmietete, die etwas weiter weg von unserer Wohnung lag, hatte mein Großvater später tatsächlich seinen Škoda Favorit in der wohnungsnahen Garage stehen, um ihn vor Wind, Wetter und Diebstahl zu sichern. Mein Opa hat die Garage, gelinde gesagt, genutzt, wie es sein sollte und es in der Vereinssatzung manifestiert war: zum Abstellen des Automobils.
Mit dem Ende der DDR kamen neue Verträge, Abkürzungen und Gesetze. Das SchuldRAnpG, also das Schuldrechtanpassungsgesetz, regelt den Verbleib von Gebäuden auf fremdem Boden und betrifft vor allem DDR-Verträge, die bis zum 2. Oktober 1990 geschlossen wurden. Was bedeutet das jetzt für Garagenbesitzer?
Was sie einst in Eigenleistung auf volkseigenem Boden errichtet haben, soll per Gesetz auf eigene Kosten wieder rückgebaut werden. Das ist äußerst frustrierend und frappierend, der Groll absolut nachvollziehbar. Das Gesetz ist für viele ein großes Problem. Gerade für die Garagenbesitzenden in boomenden Städten wie Dresden, Leipzig, Potsdam und natürlich Berlin, wo sie auf begehrtem Grund und Boden stehen. Denn dort könnte natürlich potentieller Wohnraum entstehen.
In Berlin-Karlshorst soll im 1. Quartal 2025 mit dem Abriss von 197 Garagen begonnen werden, um die Fläche zu entsiegeln und auf den neu gewonnenen Flächen Biotopstrukturen zu entwickeln. Andernorts, wie in Königs-Wusterhausen oder in Chemnitz, weichen sie, um Neubau Platz zu machen. Die Rendite von zehn Wohnungen bringt einfach mehr als die jährliche Garagenpacht. Was kann dann gegen den Abriss getan werden?
Bis heute prägen die Garagen das Stadtbild vieler ostdeutscher und osteuropäischer Städte. Leider liegt die Garage im toten Winkel der institutionellen Denkmalpflege. Sie kann mit allen Mitteln des hergebrachten Denkmalschutzes zum jetzigen Zeitpunkt nicht bewahrt werden. Dabei belegen die Autorinnen und Autoren des »Garagenmanifestes« sehr genau, weshalb die Ostgarage eine schützenswerte Alltagsarchitektur ist. Was ich entschieden sagen kann, ist, dass Garagen jahrzehntelang gehortetes kulturelles Erbe bedeuten.
Martin Maleschka studierte Architektur an der Brandenburgischen Technischen Universität Cottbus-Senftenberg und ist unter anderem als Fotograf, Autor und Künstler tätig. Seit 20 Jahren dokumentiert der heute 42jährige baukulturelle Zeugnisse, die zum Alltag in der DDR zwischen Thüringer Wald und Ostsee gehörten. Er hat einen Architekturführer zu baubezogener Kunst in der DDR (2019) und Eisenhüttenstadt (2020) veröffentlicht. In der Publikation »Das Garagenmanifest« hat er einen Fotoessay beigesteuert. Für seine Dokumentation gegen das Verschwinden des DDR-Erbes erhielt Maleschka 2024 die Silberne Halbkugel des Deutschen Nationalkomitees für Denkmalschutzes
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