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Aus: Ausgabe vom 26.02.2025, Seite 7 / Ausland
Knastsystem

Belgiens Haftanstalten überbelegt

Drei Personen auf neun Quadratmetern: Zuwenig Personal und menschenunwürdige Zustände
Von Gerrit Hoekman
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Die Zustände im Gefängnis von Gent spotten heute jeder Beschreibung (3.10.2012)

Die Gefängnisse in Belgien sind restlos überfüllt. Allein die Haftanstalt in der Stadt Gent hat nur Platz für 300 Personen, aber sie ist oft mit bis zu 500 belegt. Teilweise stecken drei Inhaftierte in einer Zelle von neun Quadratmetern, die nur für eine Person vorgesehen ist. Einer schläft auf einer Matratze auf dem Boden. Genau daneben steht das WC. Wer nachts auf die Toilette will, muss über ihn hinwegsteigen. »Die Menschen sitzen rund um die Uhr in zu engen Zellen. Das ist unmenschlich«, schlägt die Kontrollkommission in Gent Alarm. Seit 2019 wacht per Gesetz in allen 38 belgischen Justizvollzugsanstalten jeweils ein solches Gremium über die Zustände.

»Wir sprechen das Problem der Überbelegung schon seit Jahren an«, zitierte der flämische Sender Radio 2 am Montag den Vorsitzenden der Kommission in Gent, Pierre Lefranc. Weil der Knast in Gent zuwenig Wachpersonal hat, sind seit einem Jahr keine gemeinsamen Freizeitaktivitäten der Häftlinge mehr möglich. Weder Sport noch Kultur. Die Gefangenen haben pro Tag nur noch eine Stunde Hofgang, den Rest der Zeit hocken sie in ihrer viel zu engen Zelle aufeinander – Raucher und Nichtraucher zusammen. Wer im Gefängnis einer Arbeit nachgehen darf, kann sich glücklich schätzen, weil er für ein paar Stunden der Enge der Zelle entfliehen kann und die Maloche ein wenig Abwechslung in den eintönigen Alltag bringt.

Neben dem Etagenbett und der Matratze auf dem Boden sei nur noch Platz für einen einzigen Stuhl und einen einzigen Tisch, berichtete Lefranc. »Da ist es wichtig, dass man sich zurückziehen kann, um Musik zu hören, einen Film anzuschauen oder sich im Fitnessstudio auszutoben. Das sind aber alles Dinge, die jetzt nicht mehr möglich sind.« Nur ein kleiner Teil der Häftlinge in Gent sei verurteilt, die meisten säßen in U-Haft. »Das macht es noch bedrückender«, findet Lefranc. Bis das Freizeitprogramm vor einem Jahr in Gent eingestellt wurde, war die NGO De Rode Antraciet (Der rote Anthrazit) für die Gestaltung zuständig. Sport und Kultur seien »notwendig, um Frustrationen zu überwinden und eine Perspektive zu haben«, stellte Els Tijskens, die Vorsitzende der Vereinigung, gegenüber Radio 2 klar.

Erst einmal würde mehr Wachpersonal weiterhelfen. Dann wären wenigstens wieder Sport und andere Aktivitäten möglich. In den vergangenen Monaten ist die Turnhalle im Gefängnis von Gent renoviert und mit neuen Geräten bestückt worden. »Die Turnhalle könnte eigentlich sofort eröffnet werden, aber es gibt einfach nicht genug Personal«, so der Vorsitzende der Kontrollkommission. Jede neunte Stelle sei unbesetzt. »Wir tun unser Bestes, aber der Arbeitsmarkt ist angespannt«, erklärte Gents Gefängnisdirektorin Ann Demeyer am Montag im Radio 2.

Hinzu kommt, dass sich Bewerber einem strengen Auswahlverfahren unterziehen müssen. Das dauert. Viele verlieren die Geduld und suchen ihr Glück in einem anderen Job. »Wir plädieren schon seit einiger Zeit für schnellere Einstellungen«, sagte Frank Conings von der christlichen Gewerkschaft ACV. Zumal der Beruf des Gefängniswärters nicht gerade zu den attraktivsten gehört. Die Arbeitsbelastung ist enorm und die Bezahlung vergleichsweise gering. Auch mehrere Streiks der Schließer haben daran wenig geändert.

Gent ist in Belgien keine Ausnahme. Der Europäische Gerichtshof hat kürzlich die Überbelegung in den Haftanstalten in Saint-Gilles und Haren als entwürdigend und als Verstoß gegen das Menschenrecht angeprangert. Im September saßen in ganz Belgien 1.300 Menschen mehr im Gefängnis, als Plätze vorhanden waren. Vorübergehende Lösung: Gefangene wurden früher als geplant entlassen. Aber schon bald waren die Zellen wieder proppenvoll.

Das gesamte Gefängnissystem muss umgekrempelt werden. Kleine Einheiten statt großer Knäste würden mehr soziale Kontakte der Gefangenen untereinander und mit der Außenwelt bedeuten. Auch eine bessere Begleitung durch Psychologen und Sozialarbeiter ist nötig. »Wenn wir Menschen menschlicher behandeln, kommen sie auch menschlicher aus der Haft«, ist Els Tijskens von De Rode Antraziet überzeugt.

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  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Christel H. aus Aschersleben (27. Februar 2025 um 17:34 Uhr)
    Ich habe ein kleines Mathematikproblem. Wenn die Haftanstalt in Gent für 300 Häftlinge ausgelegt und mit 500 Personen überbelegt ist, dann können doch »nur« 200 Zellen mit zwei Personen belegt und die restlichen 100 Zellen mit jeweils einer Person und keinesfalls mit drei Personen belegt sein. Selbstverständlich ist auch die Doppelbelegung nicht in Ordnung, aber die Zahlen können so nicht stimmen.

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