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Aus: Ausgabe vom 01.03.2025, Seite 3 / Schwerpunkt
Syrien

»Wirtschaft teils noch unter Kontrolle von Warlords«

Syrien: Interimsregierung um nationale Einheit bemüht. Ökonomische Spaltung verhindert Wiederaufbau. Ein Gespräch mit Mohannad Dlykan
Von Marc Bebenroth
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Großauftrag Wiederaufbau: Eine Delegation der Bundesregierung besucht den Stadtteil Dschubar in Damaskus (15.1.2025)

Die neue Führung in Damaskus hat die seit langem regierende Baath-Partei von Syriens ehemaligem Präsidenten Baschar Al-Assad offiziell aufgelöst. An wen geht die Beute?

Auf der »Siegeskonferenz«, die Ahmad Al-Scharaa am 29. Januar mit den Führern einiger militärischer Gruppierungen abhielt, wurden mehrere Beschlüsse gefasst, darunter die Auflösung der Baath-Partei und der Nationalen Progressiven Front, einer Gruppe politischer Parteien, die seit den 1970er Jahren mit der Baath-Partei verbündet war. Wir sind grundsätzlich gegen jede Auflösung politischer Parteien von oben. Es ist in erster Linie das syrische Volk, das über das Schicksal jeder politischen Partei zu entscheiden hat. Die Wahrheit ist, dass die meisten Parteien der Nationalen Progressiven Front dem alten politischen Raum angehören und seit langem auf der Straße nicht mehr aktiv sind. Die Entscheidung von oben, sie aufzulösen, kann den Verdacht aufkommen lassen, dass Damaskus versucht, die politischen Aktivitäten im Lande zu kontrollieren und einzuschränken.

Wie wirken sich die jüngsten Entscheidungen der neuen Machthaber in Damaskus auf die Arbeit Ihrer kommunistischen Partei aus?

In der Partei des Volkswillens setzen wir unsere Arbeit normal, offen und auf breiter Ebene sowie in allen syrischen Provinzen fort. Wir verteilen unsere Zeitung Kassioun auf den Straßen Syriens, halten Aktivitäten, Seminare und Vorträge in den verschiedenen syrischen Provinzen ab. Wir arbeiten auch daran, ein möglichst breites Bündnis zwischen den nationalen Kräften zu bilden, unabhängig von ihrer ideologischen Zugehörigkeit, um die dringenden nationalen Aufgaben zu bewältigen. Ganz oben stehen die Vollendung der Vereinigung der syrischen Landesteile und die Erreichung des zivilen Friedens. Es gilt, die Wiederherstellung des einheitlichen nationalen Marktes vorzubereiten. Ohne diesen kann die syrische Wirtschaft nicht wieder in Gang kommen.

Der ehemalige Al-Qaida-Kämpfer Ahmad Al-Scharaa wurde zum Interimspräsidenten ernannt, die Verfassung wurde ausgesetzt. Was wurde in der Verfassung von 2012 geändert und warum hat die neue, von der NATO unterstützte Führung sie abgeschafft?

Die Behauptung, die neue Führung in Damaskus werde von der NATO unterstützt, ist bestenfalls eine ungenaue Annahme. Die NATO selbst ist seit Jahren gespalten und steuert auf schwerwiegendere Spaltungen zu, die in absehbarer Zeit zu ihrem endgültigen Zerfall führen werden. Eine realistische Betrachtung der Geschehnisse in Syrien in den vergangenen Jahren und in den letzten Tagen vor dem Sturz Assads lässt außerdem vermuten, dass die Angelegenheit im Rahmen einer klaren, sogar halb deklarierten türkisch-russischen Koordinierung stattfand. Das steht im völligen Gegensatz zur Berichterstattung, die behauptet, Washington und die zionistische Entität (der Staat Israel, jW) steckten hinter den Ereignissen.

Was die Aussetzung der Verfassung von 2012 betrifft: Sie muss in vielen Punkten radikal geändert werden. Was die neue Führung in Damaskus getan hat, ist im wesentlichen identisch mit dem traditionellen Rezept des Revolutionären Kommandorats, also der Aussetzung der bestehenden Verfassung, der Einleitung eines nationalen Dialogs und einer Verfassungserklärung.

Was bedeutet das für die politischen Grundrechte in Syrien?

Bereits unter Baschar Al-Assad herrschte in Syrien eine Militärdiktatur. Wahlen waren weitgehend eine Formalität, und es gab keine Grundrechte für die Bürger. Bislang ist der Spielraum für politische Aktivitäten viel größer als jemals zuvor in den vergangenen 50 Jahren. Die Zukunft hängt davon ab, inwieweit das syrische Volk in der Lage ist, aus seiner großen politischen Aktivität Kapital zu schlagen, indem es diese Aktivität organisiert und gestaltet. Wir haben ein Zeitfenster, das so gut wie möglich genutzt werden muss. Die neuen Behörden haben ihre eigenen Probleme, darunter die Frage der internationalen Anerkennung und der Sanktionen, die großen wirtschaftlichen und verwaltungstechnischen Probleme, für deren Lösung sie verantwortlich sind, sowie die mitunter widersprüchlichen Strömungen in ihren eigenen Reihen. All dies schafft einen breiten Raum für organisierte politische Aktivitäten.

Womit rechnen Sie für die kommenden Monate?

Das sozioökonomische Problem wird für die überwältigende Mehrheit der Syrer zum wichtigsten. Mehr als 90 Prozent leben unterhalb der Armutsgrenze in einem Land, das unter der gewaltigen Zerstörung seiner Infrastruktur leidet, das aufgrund der organisierten Vertreibung während des Krieges einen enormen Mangel an qualifizierten Kaderkräften hat und das unter den brutalen Sanktionen leidet, die in erster Linie vom amerikanischen Westen und in zweiter Linie von Europa verhängt wurden. Die Syrerinnen und Syrer in der Frage des Aufbaus eines neuen syrischen Wirtschaftsmodells zusammenzubringen ist nicht nur möglich, sondern notwendig.

Dieses neue Modell sollte sich in erster Linie auf die einheimischen Fähigkeiten stützen, für die wir als Partei ein klares Programm haben, mit dem in kurzer Zeit hohe Wachstums- und Entwicklungsraten erreicht werden können. Parallel dazu wird die Lösung des sozioökonomischen Problems angesichts der Sanktionen, die nicht so bald aufgehoben werden, Syrien objektiv zur Zusammenarbeit mit wirtschaftlich aufstrebenden Ländern, vor allem China und Russland, drängen. Den Äußerungen der neuen Führung in Damaskus ist zu entnehmen, dass sie diese Problematik rasch zu verstehen beginnt, was sie zu – für viele überraschenden – positiven Äußerungen gegenüber Russland und sogar gegenüber dem Irak und dem Iran veranlasst hat.

Das Treffen von Al-Scharaa mit dem Emir von Katar und dem Kronprinzen von Saudi-Arabien, Mohammed bin Salman, sorgte für Schlagzeilen. Was will er von beiden Ländern?

Die Hauptbotschaft, die Al-Scharaa bei seinen Treffen mit Vertretern Saudi-Arabiens, Katars und dann mit Vertretern einiger westlicher und östlicher Länder übermitteln wollte, ist, dass Syrien aktuell in dem internationalen Konflikt keine bestimmte Seite einnehmen und sich insgesamt distanzieren möchte – zumindest so lange, bis es in der Lage ist, den Wiederaufbau zu bewerkstelligen und seine Einheit wiederherzustellen. Was die arabischen Golfstaaten anbelangt, so könnte Damaskus bei der Finanzierung des Wiederaufbaus und der Wiederankurbelung der Wirtschaft auf ernsthafte Hilfe angewiesen sein. Aber diese Länder können wohl aufgrund der westlichen Sanktionen in naher Zukunft nichts bereitstellen.

Wie geht es mit der Aufteilung der natürlichen und staatlichen Ressourcen in Syrien voran?

Syrien ist de facto immer noch geteilt. Der Nordosten, der den größten Teil des unterirdischen Reichtums Syriens beherbergt, steht immer noch unter der Kontrolle der SDF (Syrische Demokratische Kräfte, jW). Die Ökonomie dort ist immer noch relativ isoliert vom Rest der syrischen Volkswirtschaft. Das sollte durch Dialog, Verständnis und Konsens statt durch Krieg gelöst werden. Wir hoffen, dass die Einigung, die in der Türkei zwischen Abdullah Öcalan und der türkischen Führung in der Kurdenfrage erzielt werden kann, positive Auswirkungen auf Syrien und die Lösung der Kurdenfrage in Syrien auf faire und demokratische Weise haben wird. Wir hoffen auch, dass der Abzug der US-amerikanischen Besatzungstruppen innerhalb kurzer Zeit erfolgen wird, was die Vereinigung des Landes erleichtern wird.

Die übrigen syrischen Regionen unter der neuen Führung in Damaskus sind tatsächlich immer noch nicht vollständig – ökonomisch – miteinander verbunden. Nach wie vor kontrollieren Warlords direkt oder indirekt die Wirtschaft mehrerer Regionen. Die Entscheidung, die bewaffneten Fraktionen aufzulösen, ist im Prinzip gut und notwendig. Aber ihre praktische Umsetzung erfordert noch weitere Schritte, vor allem die Einbeziehung der syrischen Öffentlichkeit durch eine echte und umfassende nationale Konferenz, die die politische Situation von einer »revolutionären Legitimität« in eine Legitimierung durch Wahlen, Gesetze und das Volk überführt.

Mohannad Dlykan ist Sekretär der kommunistischen syrischen Partei des Volkswillens (Hizb Alirāda aš-Ša’bia) und Redakteur des Parteiorgans Kassioun

Hintergrund: Konsolidierung der Machtbasis

Mit dem Machtwechsel in Damaskus ist in Syrien keineswegs Frieden eingekehrt. So hat allein Israels Luftwaffe in dieser Woche erneut Angriffe auf syrische Einrichtungen geflogen. Wie dpa in der Nacht zu Mittwoch berichtete, seien Augenzeugen zufolge militärische Ziele südlich der syrischen Hauptstadt das Ziel gewesen. Weitere Angriffe sollen einem Vertreter der südlichen Provinz Deraa zufolge auch dort erfolgt sein. Und auch die Türkei verfolgt im Norden Syriens weiterhin ihre Kriegsziele und hält, wie Israel, Territorien besetzt.

Innenpolitisch zeigt sich die De-facto-Regierung um den islamistischen Warlord Ahmed Al-Scharaa nach wie vor um die Konsolidierung ihrer Machtbasis bemüht. Dafür will man offenbar möglichst breite Allianzen mit anderen gesellschaftlichen Kräften schließen – nachdem außenpolitisch die Unterstützung des US-Imperialismus und seiner europäischen Verbündeten vorläufig gesichert scheint. So wurden diese Woche in Damaskus religiöse, politische und Vertreter der »Zivilgesellschaft« zu einem »nationalen Dialog« eingeladen. Im Fokus standen dpa zufolge Fragen zu politischen und wirtschaftlichen Reformen sowie die Ausarbeitung einer neuen Verfassung.

In einer Abschlusserklärung des Treffens vom Dienstag wurde demnach die Wahrung der Einheit Syriens betont. Das weitere Vordringen des israelischen Militärs werde kritisiert. Neben einer Übergangsverfassung spricht sich die Erklärung laut dpa für das Einsetzen eines vorübergehenden Legislativrats aus. Offiziell soll damit die »politische Stabilität« sichergestellt werden. Pro forma dürften die Forderungen zur Wahrung von Menschenrechten, von freier Meinungsäußerung sowie der Rechte von Frauen mit in die Erklärung aufgenommen worden sein.

Der offiziell zum Interimspräsidenten erklärte Ex-Al-Qaida-Kämpfer Al-Scharaa sah sich zuletzt in der Rolle eines Arztes – während der von dessen Kampfverbänden aus Damaskus vertriebene Langzeitpräsident Baschar Al-Assad tatsächlich ausgebildeter Augenarzt ist. Al-Scharaa zufolge lasse sich Syriens Zustand mit einem Patienten auf der Intensivstation vergleichen. Das Land sei verwundet, sagte Al-Scharaa vor Beginn des »nationalen Dialogs«. Zuvor hatte er am 29. Januar die Auflösung der Baath-Partei Al-Assads sowie sämtlicher bewaffneter Gruppen im Land verkündet.

Aufgelöst wurde außerdem die sogenannte Nationale Progressive Front. Ihr hatten auch beide namensgleichen kommunistischen Parteien Syriens (SKP) angehört. Die 2012 gegründete Partei des Volkswillens ist aus einer älteren Abspaltung von der SKP (Bakdash-Richtung) hervorgegangen. Sie war nicht Teil der Nationalen Progressiven Front, aber als Oppositionspartei legal und nach 2012 einige Jahre im Parlament vertreten. (mb)

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