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Aus: Ausgabe vom 01.03.2025, Seite 8 / Ausland
»Genocidio« in Guatemala

»García ist 92 Jahre alt, da bleibt nicht mehr viel Zeit«

Guatemala: Gedenken an die Opfer des Bürgerkriegs. Prozess gegen Exarmeechef droht Neustart. Ein Gespräch mit Raúl Nájera
Interview: Thorben Austen, Guatemala-Stadt
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Hier in Guatemala hat man am Dienstag den Tag der Würde der Opfer des Bürgerkrieges von 1960 bis 1996 begangen. Opferverbände hatten zu einer Demonstration aufgerufen und wollten Präsident Bernardo Arévalo sprechen. Er hat sie aber nicht empfangen. Wie stellt sich die Erinnerungspolitik der neuen, progressiven Regierung dar?

Es gibt einige Akte der Entschuldigung an die Opfer, in Kommissionen wird gearbeitet. Aber Handfestes gibt es bisher nicht. Das betrifft zum einen Fragen der Wiedergutmachung und Entschädigungen, aber auch die der Verschwundenen. Die Menschen wissen, wo die sterblichen Überreste liegen, in den Militärlagern und geheimen Friedhöfen, aber das ist die staatliche Aufgabe, hier für Klarheit zu sorgen. Ein Staat, der nicht weiß, wo 45.000 seiner Bürger sind, steht auf einem fragilen Fundament.

Der Völkermordprozess gegen den ehemaligen Armeechef Benedicto Lucas García droht zu platzen. Kurz vor der Urteilsverkündung im vergangenen Jahr konnte die Verteidigung eine komplette Neuverhandlung durchsetzen, mit einem anderen Gericht. Ihr Büro vertritt die Opfer in dem Prozess. Wie haben Sie reagiert?

Wir gehen juristisch gegen die Entscheidung vor und fordern die Fortsetzung mit dem alten Gericht. Es ist unzumutbar für die Zeugen und mit hohen Kosten verbunden, wenn jetzt alle nach 99 Verhandlungstagen noch mal in der Hauptstadt aussagen müssen. Die Entscheidung darüber kann aber Monate oder sogar ein Jahr dauern. Der Angeklagte García ist 92 Jahre alt, da bleibt nicht mehr viel Zeit.

Vom Menschenrechtsbüro des Erzbistums Guatemala wurde das am Dienstag vorgestellte Buch und die virtuelle Ausstellung mit dem Titel »Erinnerung der Opfer des Völkermordes« erarbeitet. Wie kam es dazu?

Die Idee entstand während unserer Recherchen und der Gespräche mit Opfern, um den Prozess gegen García vorzubereiten. Wir wollen die Opfer nicht nur mit Namen und Fotos darstellen, sondern auch möglichst viele Details zu ihrem Leben vorlegen. Es gibt viele Akten, in denen Geburtsurkunden der Opfer liegen, in manchen Fällen auch Sterbeurkunden. Wir wissen darüber hinaus nicht, wer diese Menschen waren. Das wollen wir herausfinden – was sie gerne gemacht haben, welche Rolle sie in ihren Gemeinden gespielt haben –, um ihnen die Würde zurückzugeben. Einige sagten uns, sie unterstützten das Projekt, weil der gute Name ihrer Familie erhalten bleiben soll. Auf Nachfrage, wie das gemeint sei, erklärten sie, ihre Angehörigen seien von Einsatzkräften des eigenen Staates ermordet worden, aber sie waren keine Kriminellen.

Warum gibt es neben dem Buch auch die Ausstellung?

Damit die Bevölkerung Zugang zu den Informationen bekommt. Bücher sind teuer und in Guatemala wenig verbreitet. Zugang zu Internet hat heute schon nahezu die gesamte Bevölkerung. In der virtuellen Ausstellung haben wir mittlerweile 3.500 Ermordete mit Namen, wenn möglich, Foto und Details der Lebensgeschichte erfasst und rufen Angehörige auf, uns weitere Informationen zu schicken, um die Ausstellung zu erweitern. Das Buch ist etwas weniger umfassend.

Wie wurde bisher an den Bürgerkrieg in Guatemala erinnert?

Es gibt eine Negation der Verbrechen von seiten des Staates. Ultrarechte Organisationen, aber auch staatliche Instanzen behaupten, die Verschwundenen wären gar nicht tot, sie lebten anderswo, in Europa. Die Zahlen sind aber eindeutig, 200.000 Menschen kamen im Bürgerkrieg ums Leben, weitere 45.000 sind bis heute verschwunden. Auch sagen die Ermittlungen von Wahrheitskommissionen eindeutig: Für 93 Prozent der Verbrechen waren staatliche Kräfte verantwortlich. Aber die Geschichte Guatemalas wurde bisher aus der Perspektive der Unterdrücker geschrieben.

Raúl Nájera ist Rechtsanwalt beim Menschenrechtsbüro des Erzbistums in Guatemala (ODHAG)

Virtuelle Ausstellung: www.memorial-genocidio-guatemala.org

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