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Aus: Ausgabe vom 01.03.2025, Seite 6 / Ausland
Brief aus Jerusalem

»Es gibt soviel zu tun«

Brief aus Jerusalem. Die israelische Anwältin Lea Tsemel hilft seit Jahrzehnten palästinensischen Gefangenen
Von Helga Baumgarten
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Streitbare Kämpferin für Gerechtigkeit: Lea Tsemel auf der XXV. Rosa-Luxemburg-Konferenz (Berlin, 11.1.2020)

Ehe ich überhaupt meine erste Frage stellen konnte, stand Lea Tsemel auf, um mir zu zeigen, wie palästinensische Gefangene im Ofer-Gefängnis zwischen Jerusalem und Ramallah gequält werden: Sie legte die Hände hinter ihrem Kopf zusammen: »So müssen die Palästinenser ihre Hände, brutal mit Metallhandschellen gefesselt, halten. Wenn ein Wärter kommt, müssen sie sofort mit dem Kopf runter, sonst werden sie zusammengeschlagen.« Der Palästinenser, den sie verteidigt, wurde in einer Art Käfig festgehalten, gefesselt, wie von ihr beschrieben: Sie konnte mit ihm nur durch ein Loch in der Wand reden.

Spätestens seit Beginn der siebziger Jahre verteidigt Tsemel Palästinenser: Männer, Frauen, Kinder, die von der Armee, dem Geheimdienst oder der Polizei festgenommen worden sind. Wie und warum hat sie diese Arbeit begonnen? Der Auslöser, so berichtet sie, war der Juni-Krieg 1967. Vor dem Krieg war sie als Jurastudentin eine überzeugte Zionistin. Als der Krieg begann, war sie freiwillig aktiv im Zivildienst. Wie alle Israelis besuchte sie, sobald es möglich wurde, die Altstadt. Dort allerdings sah sie, wie das Viertel Maghrebi, direkt an der Klagemauer gelegen, zerstört und die palästinensischen Bewohner vertrieben wurden. Eine Fahrt hinunter nach Jericho vervollständigte den Eindruck: Eine nicht enden wollende Schlange von Flüchtlingen. Das weckte zuerst Schuldgefühle in ihr. Der Schritt hin zur politischen Aktivität folgte. Die Verhaftung von Khalil Toumeh (ein palästinensischer Matzpen-Aktivist, der vor kurzem im Exil in Deutschland starb), einem Mitstudenten an der Hebräischen Universität in Jerusalem, brachte sie schließlich dazu, sich der linksradikalen Organisation Matzpen anzuschließen.

Neben Felicia Langer, eine Generation älter als Lea Tsemel, gehört sie zu den ersten jüdischen Anwälten, die Palästinenser verteidigten. Eigentlich hatte sie gehofft, ihre praktische Ausbildung bei Langer machen zu können. Aber die ideologischen Unterschiede waren anfänglich wohl zu groß zwischen einem Mitglied der Kommunistischen Partei und einem Mitglied in Matzpen. Erst später kooperierten sie in zahlreichen Fällen.

2019 drehte die Regisseurin Rachel Leah Jones zusammen mit Philippe Bellaiche den Film »The Advocate« über Lea Tsemel und ihre Arbeit. Die Uraufführung war im Januar 2019 auf dem Sundance Festival. Der Film wurde mehrfach preisgekrönt und gewann schließlich den Emmy-Preis für den besten Dokumentarfilm. Im Film berichtet Lea Tsemel über einige ihrer besonderen Fälle. Da ist zum Beispiel der dreizehnjährige Ahmed. Zusammen mit seinem 15jährigen Cousin Hassan wagte er sich aus Beit Hanina hinunter in die Siedlung Pisgat Zeev. Dort attackierte Hassan einen israelischen Jugendlichen mit einem Messer und wurde sofort von der Polizei erschossen. Ahmed wurde verhaftet und angeklagt wegen zweifachen versuchten Mordes. Vor Gericht wurde zwar nicht bewiesen, dass er an der Messerstecherei beteiligt war. Am Urteil änderte das nichts: neuneinhalb Jahre Haft. Ahmed ist heute 20 Jahre alt. Bei den bisherigen Gefangenenaustauschen ist er nicht freigekommen, obwohl es ihm sehr schlecht geht: Psychisch ist er wohl für immer geschädigt. Lea Tsemel hofft, dass er im April aus der Haft entlassen wird.

Heute ist sie entsetzt über die Misshandlung von palästinensischen Gefangenen. Die Gefängnisverwaltung tobe sich an den Palästinensern aus in Rache für das, was in ihrer Phantasie mit den Israelis passiert, die nach Gaza entführt wurden: Aushungern, Demütigungen, keinerlei Kontakt mit der Außenwelt, unvorstellbare Bedingungen in den Zellen mit zu vielen Gefangenen, nicht genug Matratzen und Decken. Schließlich erklärt sie eine wichtige israelische Methode, um insbesondere den Palästinensern aus Gaza den Schutz der Genfer Konvention zu verweigern: Sie werden einfach vom Militärkommandeur als »illegale Kämpfer« definiert. Für sie ist diese Methode schlimmer als die weitverbreitete Administrativhaft, bei der man zumindest alle sechs Monate einem Richter vorgeführt werden muss.

Aufgeben kann sich Lea nicht vorstellen: »Es gibt noch soviel zu tun«, sagt sie und verabschiedet sich zum nächsten Termin vor Gericht.

Dies ist der 28. »Brief aus Jerusalem« der emeritierten Professorin für Politik der Universität Birzeit.

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