Ukraine entwickelt selbst
Von Lars Lange
In unterirdischen Fabriken und verstreuten Werkstätten vollzieht die ukrainische Rüstungsindustrie eine bemerkenswerte Transformation. Während russische Raketen auf Kraftwerke und Industriezentren niedergehen, arbeiten Ingenieure an Drohnensystemen, die nicht mehr nur ergänzendes Element, sondern zum Rückgrat moderner Kampfhandlungen geworden sind. Mit dieser dezentralen Produktion kann Kiew trotz knapper Ressourcen seine Verteidigungslinien erfolgreich unterstützen und den russischen Vormarsch verzögern – eine Leistung, die nicht primär den westlichen Hightechwaffen wie Himars oder Atacms zu verdanken ist.
Die Dimensionen des Wandels sind markant. In den frühen 1990er Jahren beschäftigte der ukrainische Industriekomplex über 2,5 Millionen Arbeiter in fast 1.800 Unternehmen. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion erbte die Ukraine etwa 30 Prozent der sowjetischen Rüstungsindustrie. Heute umfasst die Branche noch etwa 300.000 Beschäftigte in über 500 Unternehmen, viele davon mit Fokus auf Drohnen- und Raketenproduktion. Die Ereignisse von 2014 in der Ostukraine und die militärische Eskalation 2022 machten eine grundlegende Neuausrichtung der Branche notwendig.
Die aktuelle Entwicklung konzentriert sich auf die Drohnenproduktion. Laut offiziellen Angaben werden monatlich etwa 200.000 Drohnen produziert, wobei die Pläne für 2025 bis zu drei Millionen Einheiten vorsehen. Eine FPV-Drohne für 300 bis 500 US-Dollar ist kostengünstiger und präziser als konventionelle Munition für mehrere tausend Dollar. Ukrainischen Militärangaben zufolge wurden im Januar bereits 66 Prozent der russischen Ausrüstungsverluste durch verschiedene Arten von Drohnen verursacht.
Ein Beispiel für die adaptive Produktion ist die »Cobra« – eine in Kriwoi Rog entwickelte Einwegangriffsdrohne mit 300 Kilometern Reichweite. Bei Produktionskosten von etwa 2.000 US-Dollar pro Einheit kann ein Team von zehn Arbeitern eine Drohne innerhalb von drei Stunden fertigen. Dabei liegt der Fokus auf lokalen Komponenten: Die Elektronik, Motoren und Servos (Ansteuerungs- und Antriebseinheit) werden bereits in der Ukraine hergestellt, weitere Teile sollen folgen. Das Projekt wird, wie viele ukrainische Militärtechnologien, durch Crowdfunding finanziert. Die dezentralisierte Tiefenfertigung und die Verlegung von Produktionskapazitäten ins Ausland schaffen eine Struktur, die schwer zu stören ist.
Parallel zur eigenständigen Produktion verstärkt die Ukraine die internationale Zusammenarbeit im Rüstungsbereich. Der deutsche Konzern Rheinmetall plant drei Militärfabriken im Land. Das erste Werk für Ausrüstungsreparaturen ist bereits in Betrieb, ein Munitionsproduktionswerk im Bau und ein drittes für Flugabwehrsysteme geplant. Weitere westliche Unternehmen wie KNDS, Bayraktar oder Aerovironment eröffnen ebenfalls Produktionsstätten und Joint Ventures mit ukrainischen Herstellern. Um die Entwicklung der Rüstungsindustrie weiter zu stimulieren, hat Kiew mehr als 1,5 Milliarden US-Dollar von neun westlichen Geberländern für Investitionen eingeworben.
Trotz beeindruckender Fortschritte gibt es erhebliche Herausforderungen. Die ständigen russischen Angriffe auf die Energieinfrastruktur beeinträchtigen die Produktionskapazitäten. Zudem bleibt die Frage der langfristigen westlichen Unterstützung, besonders aus den USA, ein kritischer Faktor für die Zukunft. Militärexperten wie Patricia Marins prognostizieren dennoch eine bedeutende Rolle der ukrainischen Drohnentechnologie: »Sowohl Russen als auch Ukrainer werden diesen Markt in der Nachkriegszeit dominieren.« Alle, die nicht über diese Expertise verfügten, würden obsolet und damit auch militärisch nicht mehr in der Lage sein, sich an einem realen Konflikt zu beteiligen, so Marins. Diese Einschätzung bestätigte ein führender Kommandeur des ukrainischen Militärs am Mittwoch gegenüber Reuters: »Nach dem, was ich sehe und höre, ist keine einzige NATO-Armee bereit, der Drohnenkaskade Widerstand zu leisten.«
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