Kunst der Distanznahme
Von Kai Köhler
Ich habe nur ein Meisterwerk komponiert«, soll Ravel (1875–1937) geäußert haben, »leider enthält es keine Musik.« Die Rede ist von »Bolero«. Eine einzige Melodie und eine davon abgeleitete Variante folgen in regelmäßigem Wechsel aufeinander, bis ganz kurz vor Schluss, ohne irgendwie verarbeitet zu werden. Zugleich ertönt ein ebenso statischer, anfangs allein von der kleinen Trommel gespielter Rhythmus. Die einzige, allerdings äußerst wirkungsvolle Änderung besteht in einer mit jedem Durchlauf wechselnden und immer stärkeren Instrumentation sowie – damit verbunden – in einem Anschwellen der Lautstärke von Melodie und Begleitrhythmus.
Spieltechnisch ist das nicht allzu schwierig. Dennoch misslingen viele Aufführungen. Verlangt ist nämlich zum einen melodisch absolute Gleichförmigkeit: Kein Musiker darf der Versuchung erliegen, seine Virtuosität herzuzeigen. Zum anderen übt die wachsende Lautstärke einen Sog aus, auch das Tempo anzuziehen. Aber auch hier wächst die Spannung gerade dann, wenn man ihm widersteht. Wenn die maschinenartige Steigerung kurz vor Ende in ihrer Einförmigkeit unerträglich wird, üben die unvermittelte Rückung in eine andere Tonart und dann der katastrophische Zusammenbruch ihre maximale Wirkung aus. Während eine Viertelstunde lang eigentlich nichts geschah, drängen sich in den wenigen Schlusstakten die Ereignisse derart, dass das Publikum der Uraufführung 1928 verwirrt war. »Hilfe, ein Verrückter!« soll eine Zuhörerin gerufen haben, was Ravel zufrieden kommentierte: »Sie allein hat die Sache verstanden.«
Ravels Orchester
Vom heute berühmten Meisterwerk ohne Musik aus lassen sich Linien ziehen zu wichtigen Merkmalen von Ravels Kunst. Die eine betrifft seine Orchesterbehandlung, die im »Bolero« simpler scheint als in anderen seiner Kompositionen. Doch sogar hier ist nichts so einfach wie es wirkt. Der Wechsel vom Solo zum Chorischen, bei gleichbleibender Einstimmigkeit, geht einher mit einer Verschmelzung mehrerer Tonarten. Instrumentalfarbe und Harmonik vermischen sich derart, dass die Wiederholungen der Melodie zunehmend uneindeutig werden und damit die Spannung auf eine Auflösung wächst, die gleichwohl auf sich warten lässt.
Ravel denkt fast durchgehend orchestral. Das zeigt sich darin, dass er mehrere seiner Klavierkompositionen später für große Besetzung umgearbeitet hat, und in einem seiner größten Erfolge: der virtuosen Instrumentierung von Modest Mussorgskis Klavierzyklus »Bilder einer Ausstellung« für großes Orchester. Nebenbei bemerkt: Für französische Komponisten aus Ravels Generation, die sich von deutschen Einflüssen und besonders von dem Richard Wagners befreien wollten, war russische Musik von großer Bedeutung. Die Künstlergruppe der »Apachen«, mit der der junge Ravel zusammen feierte, pfiff ein Motiv aus Alexander Borodins 2. Sinfonie als Erkennungszeichen. Mussorgskis Opern, zunächst in der abmildernden Bearbeitung Nikolai Rimski-Korsakows, übten in Frankreich großen Einfluss aus. Wie vom ein gutes Jahrzehnt älteren Claude Debussy lernte Ravel von Rimski-Korsakow, auch wenn er versuchte, als Mussorgski-Bearbeiter auf dessen rauhere Klangvorstellungen zurückzugehen.
Was aber macht Ravels Orchestrierungskunst aus? Er versteht sich auf Mischklänge, ohne dass darunter die Klarheit leidet. Jede Ebene des musikalischen Verlaufs hat ihr eigenes Timbre, wobei extrem tiefe Töne auffällig häufig vorkommen. Spieltechniken wie Glissandi und Tremolos sind ebenfalls oft zu finden. Sie verleihen Ravels Orchestersatz etwas Schillerndes, schwer Greifbares. Die Klangschichten dienen zum einen dazu, den Verlauf transparent zu machen. Zum anderen gewinnen sie einen Eigenwert, erlauben ästhetisch bestimmte Freude an der Kunst als Kunst.
Dabei verwendet Ravel auch große Besetzungen nur selten in ihrer ganzen Klangfülle. Die Vielzahl möglicher Farbmischungen dient ihm zur Steigerung der Raffinesse. Wo es laut zugeht, wo Ravel die Ereignisse zuspitzt, da bleibt es fast stets knapp. Und Knappheit ist überhaupt ein Merkmal seiner Musik. Keines seiner Werke dauert viel länger als fünfzig Minuten, und die meisten sind Miniaturen.
Formen
Viele Kompositionen Ravels sind Musik über Musik. Das unterscheidet sie von denen Debussys, mit denen sie oft unter dem Begriff »Impressionismus« zusammengeworfen werden. Debussy versucht, ein musikalisches Bild einer Sache zu geben. Wenn er »Nuages« komponiert, soll mit musikalischen Mitteln die Vorstellung von Wolken entstehen, beim »Jeux des vagues« die von Wellenbewegungen. Ravel dagegen geht von Kompositionsweisen, Gattungen und Formen aus, die er in seinen eigenen Stil einschmilzt.
Die einfachste Weise ist die der Imitation; die kurzen Klavierstücke »À la manière de Borodine« und »À la manière de Chabrier« stellen das Besondere der Schreibweise dieser beiden Komponisten heraus. In anderen Fällen greift Ravel musikalische Genres auf und versucht, deren Essenz zu vermitteln. Sein »Bolero«, mit seiner im Idealfall kaum aushaltbaren Spannung, soll mehr Bolero sein als jeder seiner volksmusikalischen Vorgänger. Ein anderes Orchesterwerk, auf das zurückzukommen sein wird, ist selbstbewusst »La Valse« betitelt – nicht ein weiterer Walzer nach vielen anderen also, sondern der Walzer schlechthin.
Zugleich ist stets Vorsicht am Platze. Zuweilen werden bei Ravel die Erwartungen nicht nur übererfüllt, sondern zugleich unterminiert. Ein frühes Klavierwerk heißt »Menuet antique«. Freilich ist das Menuett eine neuzeitliche Tanzform, die Antike kannte sie nicht. »Majestueusement« soll der Beginn vorgetragen werden. Doch der Auftakt wirkt eher hinkend, und erst allmählich wird der Dreivierteltakt, den die Gattung fordert, klarer. Auch im Fortgang verwischt Ravel systematisch die Taktgrenzen, durch irreguläre Akzente und durch Nebenstimmen, die sich dem Schema nicht fügen. Auch tonartfremde Töne irritieren.
Das Ergebnis ist freilich ein ganz anderes als bei den Tanzkarikaturen bei Gustav Mahler oder etwas später Alban Berg, die für die Schrecken des Weltlaufs stehen. Ravel geht es hier nicht darum, eine Idylle zu zerstören, sondern um den ästhetischen Reiz. Ein Tanztyp ist aufgerufen und in die Ferne gerückt. Man hört das Muster, man hört pikante Details, aber das Ergebnis entzieht sich einem direkten Zugriff. Es bleibt eine sentimentale Distanz, mit einer Prise Trauer, die man durchaus genießen kann.
Exotismen
Das »Menuet antique« ist gelungen, weil es offenkundig eine Fälschung ist. Fälschungen sind auch Ravels Exotismen, die Klischees geradezu herzeigen und so das Künstliche, Gemachte betonen. Dafür steht bereits »Asie« aus dem Liederzyklus »Schéhérazade« von 1903. In dem Text Tristan Klingsors erscheint Asien als das Fremde schlechthin, als »fernes altes Märchenland«. Eine Sehnsuchtsreise durch Persien, Indien und China führt denn auch zu Düften und Farben, despotischen Wesiren, geheimnisvollen Prinzessinnen, dickbäuchigen Mandarins, Rosen und Blut sowie einer wunderschönen chinesischen Landschaft – nämlich auf einer Tuschzeichnung. Und nach der Reise gelte es, von ihr denjenigen zu erzählen, die neugierig sind auf Träume.
Der ideologiekritische Hinweis auf die kolonialistische Unterdrückung zielte ins Leere. (Unverkennbar antikolonialistisch wird dann der zweite der drei »Chansons madécasses« von 1925 sein.) Erkennbar geht es nicht um Realität, sondern um ein ästhetisches Spiel mit weltenthobenen Vorstellungen. Die Orchesterbegleitung der Singstimme in »Asie« ist so farbenreich wie zurückhaltend. Muster asiatischer Musik klingen an, ohne zu dominieren. Noch ist die Komposition schillernd, schwer greifbar. Sie zielt erkennbar auf sinnliche Erfahrung und Distanz zugleich.
Diese Einheit bleibt, doch später werden die Konturen klarer. Mit der Suite »Ma mère l’oye« (1908–10) vertont Ravel eine Reihe von Märchen, und der Satz »Laideronnette, Impératrice des Pagodes« ist musikalisch eine viel deutlichere Chinoiserie als »Asie«. Die beiden »Mélodies hébraїques« von 1914 klingen dann jüdischer als jede jüdische Musik. Ravel hat keine geistliche Musik geschrieben und dürfte in keiner Weise religiös gestimmt gewesen sein. Wenn er dennoch ein Kaddisch komponierte, ging es ihm nicht um die Frage nach Tod und Gott, sondern darum, das musikalisch Wesentliche dieser Totenklage zu erfassen und zu perfektionieren.
Spanisches
Eine Ausnahme gibt es möglicherweise: Spanien, das von dem frühen Klavierstück »Habanera« (1895) und dem »Alborada del gracioso« aus dem Klavierzyklus »Miroirs« (1904/05) Ravels Schaffen durchzieht. Seine Mutter war baskischer Herkunft. Der Komponist verbrachte viele seiner Urlaube in Saint-Jean-de-Luz, also im Baskenland, wo die Familie gewohnt hatte, bevor sie in Ravels Geburtsjahr nach Paris umzog. Doch liegt der Ferienort auf der französischen Seite der Grenze. Es ist bezeichnend, dass Ravel das für ihn musikalisch so wichtige Land erst 1924, als immerhin fast Fünfzigjähriger, besuchte. Auch hier gilt, dass die musikalisch vermittelte Essenz für ihn wichtiger war als irgendeine Realität. Neben dem »Bolero« sind hier vor allem zwei Werke zu nennen.
Das eine ist die erste von Ravels beiden Opern, »L’heure espagnole«, uraufgeführt 1911. Die spanische Stunde, die der Titel benennt, ist die einzige in der Woche, in der Conceptión nicht von ihrem Ehemann überwacht wird. Dann nämlich ist der Uhrmacher außer Haus, um die städtischen Uhren zu kontrollieren. Diesmal wartet leider ein Kunde auf die Rückkehr des Uhrmachers, der starke und nicht sehr redegewandte Maultiertreiber Ramiro. Zudem deklamiert der Geliebte, ein junger Dichter, Verse, statt zur Sache zu kommen. Dass ein aufdringlicher alter Bankier die Abwesenheit des Gatten ausnutzen will, um sich als Liebhaber zu etablieren, vereinfacht die Sache nicht. Keiner der Männer darf die je anderen sehen; Poet und Bankier verstecken sich abwechselnd in zwei großen Standuhren, die Ramiro hoch ins Schlafzimmer trägt und wieder zurück ins Geschäft, je nach Erfordernis. Der Ausgang ist absehbar. Der fette Bankier steckt in der Standuhr fest, und der Dichter begreift nicht, dass Conceptión gerade an seinen Verse wenig Interesse hat. Zum Zug kommt Ramiro, der seine körperliche Tauglichkeit durchs mühelose Tragen der Uhren samt menschlichem Inhalt erwiesen hat.
1911 schimpfte die Kritik über »musikalische Pornographie«. An diesem Unfug ist immerhin richtig, dass es in der Oper nicht um Gefühle geht, sondern um Sex, den Conceptión dringend will, und zwar bevor ihre freie Stunde abgelaufen ist. Das Ticken der Uhr, das in die Partitur eingeht, markiert diese Zeitnot und nimmt das Maschinenhafte vorweg, das später den »Bolero« auszeichnet. Wie aber steht es um das Spanische?
Rhythmen von Bolero und Habanera durchziehen das Werk, doch sind sie vielfach gebrochen eingesetzt. Der leidenschaftliche Dichter tritt musikalisch mit spanischer Glut auf, doch gilt seine Leidenschaft nur den Ideen für künftige Gedichte, die er in sein Notizbuch schreibt, und nicht der ungeduldigen Frau. Ein ähnlicher Rhythmus ist dem störenden Bankier zugeordnet; doch leise, langsam und hinkend, denn dem Alten mangelt es an Beweglichkeit. Am deutlichsten wird das spanische Kolorit, wenn der Dichter ein Abschiedslied auf die Geliebte intoniert (als hätte die nicht die ganze Zeit auf ihn gewartet) und wenn Conceptión ihr »lächerliches Abenteuer«, nämlich das dauernde Verstecken ihrer versagenden Verehrer, beklagt. Das Exotische ist hier das Uneingelöste, Abwesende.
Die Kurzoper ironisiert die Leidenschaft, die Spanien zugeschrieben wird. Der biedere Ehemann, der nichtsahnend am Ende glücklich ist, den Verehrern seiner Frau Uhren verkaufen zu können, hört auf den Namen Torquemada und erweist sich als Schrumpfform des gefürchteten Generalinquisitors aus dem 15. Jahrhundert. Ganz anders geht es in der »Rapsodie espagnole« (1907/08) zu. Hier werden einerseits folkloristische Klischees übererfüllt, von Tanzrhythmen bis zur Instrumentation, die Tamburin und Kastagnetten einschließt. Doch nutzt Ravel nur an wenigen Stellen die Klangmacht des großen Orchesters. Ein gleichsam schleichendes, abwärtsgerichtetes Vierton-Motiv gibt im Präludium den Ton vor und erscheint auch in zwei der drei weiteren Sätze. Über weite Strecken wirkt die Stimmung bedrohlich, gerade weil die Mittel zunächst sparsam eingesetzt sind. Stets kann sie umschlagen, ein scharf markiertes Trompetenmotiv etwa verwandelt sich übergangslos in eine sanft lockende Version der Streicher.
In den ersten drei Teilen bereiten nur wenige, sehr kurze Ausbrüche auf den Schlusssatz vor, der »Feria« überschrieben ist. Auf diesem Jahrmarkt geht es hoch her, und besonders eine in sich kreisende Melodie vermittelt den Eindruck einer sich unaufhaltsam steigernden Bewegung. Gegen Ende baut Ravel auch das Vierton-Motiv ein. Klar ist: So ausgelassen das Geschehen ist, gleich werden die Messer herausgeholt. Und so komponiert denn auch Ravel keinen freudigen Abschluss, sondern einen der katastrophischen Zusammenbrüche, die er gern an Werkenden plaziert.
Katastrophen
Die letzten Takte der »Rapsodie espagnole« bringen mit der Gleichzeitigkeit verschiedener Motive und Rhythmen nochmals eine Verdichtung. Der Bewegungstyp geht ins Brutale über; was der Werkbeginn angedeutet hatte, erfüllt sich nun. Sinnlichkeit und Leidenschaft, die exotisierend aus zentraleuropäischer Sicht vor einem Jahrhundert Spanien zugeschrieben wurden, entpuppen sich als zerstörerisch.
Ähnliches ereignet sich in mehreren Schlussabschnitten von Ravels Kompositionen nach Tänzen, sei es beim Bersten der »Bolero«-Maschine oder beim »Danse générale«, der das Ballett »Daphnis et Chloé« beschließt und der von heiterer Ausgelassenheit zu einem Bacchanal von frenetischer Ekstase umschlägt. Nirgends aber hat Ravel die Katastrophe eindrucksvoller auskomponiert als in »La valse«.
Hier nun geht es nicht um exotische Fernen oder einen antiken Stoff, sondern um die wichtigste Tanzform des bürgerlichen Europa. Man könnte einwenden, dass Ravel mit der Szenenanweisung für eine geplante Ballettaufführung »La valse« in zeitliche Ferne gerückt hat, nämlich in eine »kaiserliche Residenz von 1855«. Doch zur Zeit der Uraufführung 1920 war es naheliegend, diesen Walzer als Kommentar zum Zusammenbruch bürgerlicher Idealvorstellungen im Ersten Weltkrieg zu hören.
Das Stück beginnt in den tiefsten Registern des Orchesters, und erst allmählich treten aus einer hinkenden Bewegung Dreivierteltakt und einzelne Motive hervor. Was zunächst folgt, übertrifft einerseits die meisten Walzer an instrumentalem Glanz und einschmeichelnder Melodik. Andererseits irritieren bereits in der ersten Werkhälfte befremdliche Begleitfiguren und brutale Unterbrechungen. Der Eindruck, dass mit diesem Walzer etwas nicht stimmt, verfestigt sich durch ein manisch in sich kreisendes Thema. Immer mehr tritt das Albtraumhafte dieser Walzerwelt in den Vordergrund. In der Schlusspassage zersetzt sich auch der Dreiertakt. Nun hat man es nicht mehr mit harmlosen Nebenakzenten zu tun, wie sie in der Gebrauchsmusik Tänzern und Publikum einen zusätzlichen Reiz bieten, sondern der Bewegungstypus überhaupt wandelt sich vom Tanz zum Maschinenhaften, ohne dass sich der Zugriff für mehr als nur einen Moment lockern würde. Dieser Moment ist einer der ganz wenigen in Ravels Gesamtwerk, in denen unmaskierte Subjektivität sich ausspricht: Die Streicher formulieren etwas wie einen kurzen Klage- oder Hilferuf. Er bleibt folgenlos, und mit ihm als Kontrast wirkt die abschließende Katastrophe noch stärker. In beschleunigter Bewegung geht in wohlorganisiertem Chaos zuerst jede metrische Orientierung verloren, bis nur noch maschinelles Stampfen und eine vernichtende Schlussformel im Vierertakt übrigbleiben.
Distanz, Ausbrüche, Trauer
»La valse« markiert ein zuvor und auch später nicht erreichtes Extrem in Ravels Werk. 1914 lagen zwar bereits Skizzen für eine Komposition vor, die »Wien« heißen sollte, die endgültige Ausformung dürfte aber möglicherweise durch Ravels Kriegserlebnis befördert sein.
Ravel verabscheute den Krieg, hielt es aber für seine Pflicht, sich im September 1914 als Freiwilliger zu melden. Er wurde abgewiesen, da er zwei Kilogramm zuwenig wog, und versuchte darum, als Flieger unterzukommen. Im November 1915 schaffte er es, Soldat zu werden, im März 1917 wurde er nach schwerer Krankheit ausgemustert. Militärisch hatte er sich als Patriot erwiesen, auf dem Gebiet der Musik wies er eine Abgrenzung zurück. 1916 weigerte er sich, der »Ligue Nationale« beizutreten, die eine Abgrenzung von der Kunst aus Feindstaaten forderte. Er betonte die Qualität von Werken etwa von Arnold Schönberg und Béla Bartók und erkannte die Gefahr für französische Komponisten, »systematisch die Produktion ihrer ausländischen Kollegen zu ignorieren und so eine Art nationaler Sippschaft zu bilden«.
Dieser Abschnitt markiert eine Ausnahme in Ravels Leben. Nie zuvor und nie danach hat er sich mit Politik befasst. An seiner Kunst, der Musik, interessierte ihn das Künstliche, das eine Distanznahme zur Außenwelt ermöglicht. Man mag einwenden, dass dies in einem Spannungsverhältnis steht zu den Ausbrüchen, die die ästhetischen Welten, die Ravel konstruiert hat, gefährden. Doch bewahrt gerade die untergründig vorhandene oder zuletzt offen zutage tretende Gefahr jene Welt vor Sterilität. Auf Dauer ist Distanz zum Außen im Kunstwerk nur möglich, wenn das Außen doch immer noch droht.
Anders verhält es sich mit der kleinen Form. Kurz vor Kriegsbeginn skizzierte Ravel eine Klaviersuite, die in ihrer endgültigen Form 1917 sechs Sätze umfasste; vier davon hat Ravel 1919 orchestriert. Sie tragen den Titel »Le tombeau de Couperin«. Warum Grabmusiken? Alle Sätze sind im Krieg gefallenen Freunden Ravels gewidmet. Und warum Couperin? Weil die höfische französische Musik um 1700, für die dieser Komponist steht, mit Affektkontrolle verbunden ist. Dabei ist Affektkontrolle keineswegs mit Gefühlsarmut zu verwechseln. Doch geht es nicht darum, Emotionen auf immer genauere Weise individuell nachzuzeichnen. Das Mittel ist vielmehr ein innovativer Umgang mit einem vorhandenen Repertoire an Formen.
Ravel benennt und benutzt deren sechs, wobei neben Präludium, Fuge und Toccata drei überkommene Tanzformen sind: Forlane, Rigaudon und Menuett. Besonders diese Tanzsätze sind durch ein Spannungsverhältnis von formaler Vorgabe und deren subtiler Durchbrechung durch moderne Mittel gekennzeichnet. Das Taktschema bleibt stets spürbar, wird aber durch Gegenstimmen und Triller unterminiert. Molltonarten herrschen vor, doch sogar sie werden durch milde Dissonanzen ins Uneindeutige gerückt.
Anders als in »La valse« zertrümmert hier Ravel nicht die musikalischen Muster, von denen er ausgeht. Die Mittel, mit denen er sie verfremdet, sind äußerst zurückhaltend. Gerade dadurch entsteht die spezifische Ästhetik dieses Werks. Die Formen sind alle noch unverkennbar da, und sie sind gerade nur soweit ins Uneigentliche gerückt, dass deutlich wird: Unter einer Oberfläche, die die Grenzen gesellschaftlicher Verbindlichkeit nicht verletzt, verbirgt sich nur notdürftig äußerste Trostlosigkeit.
Vielleicht ist diese äußerst gemessene Totenklage das nötige Werk für unsere Gegenwart, in der Verletztheit aggressiv hergezeigt und mit einem Argument in der Sache verwechselt wird. Gefühle lassen sich auch diskret vermitteln. Dies dient dem gesellschaftlichen Miteinander, setzt freilich Hörer voraus, die nicht erst aufs laute Schreien reagieren.
Die Zauberoper
Die verschiedenen Aspekte der Ästhetik Ravels wirken freilich in einer anderen Komposition am menschenfreundlichsten zusammen. Es handelt sich um die Oper »L’enfant et les sortilèges« auf einen Text der Sidonie-Gabrielle Colettes, uraufgeführt 1925. Das Kind, das es hier mit Zaubereien zu tun bekommt, ist zu Beginn ein unartiges. Die Mutter mahnt, endlich die Hausaufgaben zu erledigen, und bekommt nur die Zunge herausgestreckt. Stubenarrest! In einer Wutorgie zerstört das Kind alles Erreichbare. Nun aber erwachen die demolierten Gegenstände zum Leben. Manche beklagen ihr Schicksal, andere bedrängen den Übeltäter. Endlich fallen die Wände, und das Kind findet sich im nächtlichen Garten wieder, der nur auf den ersten Blick idyllisch ist. Bald ertönt das Jammern der Bäume, deren Rinde das Kind aufgeschlitzt hat. Eine Libelle beklagt den aufgespießten Geliebten, eine Fledermaus die erschlagene Gattin. Die Tiere stürzen sich auf das Kind, das dem Getümmel entkommt. Es hat die Lektion gelernt und verbindet einem verletzten Eichhörnchen die Pfote. Doch ist das Kind selbst lädiert. Die Tiere, versöhnt, rufen nach der Mutter, die absehbar erscheinen wird.
Das Stück von nur etwa einer Dreiviertelstunde Spielzeit kennt drei gewalttätige Ausbrüche. Sie sind, wie alle derartigen Passagen bei Ravel, knapp gehalten. Den Rahmen bilden spiegelbildlich der Gewaltausbruch des Kindes zu Beginn und der Angriff der Tiere gegen Ende. Alptraumartiger noch ist eine Episode kurz vor Schluss der Zimmerszene. Ein Mathematiker entspringt dem zerrissenen Schulbuch, und zusammen mit dem Chor der Ziffern malträtiert er das Kind, während sie Zahlen, Maßeinheiten und Fragmente von Textaufgaben singen.
Das Schlimmste – und Wirksamste – aber sind vielleicht nicht die körperlichen Schmerzen, sondern die seelischen. Auch das Märchenbuch ist zerrissen, und die Prinzessin klagt, dass ihre Geschichte unterbrochen ist, der Retter nicht kommen wird und sie nun auf ewig dem bösen Zauberer ausgeliefert ist. Dass das Kind sich als Ritter mit Degen imaginiert, nützt gar nichts. Machtlos muss es sehen, wie seine erste Geliebte hilferufend im Boden versinkt.
Wenn das schwarze Pädagogik ist, so ist sie abgemildert dadurch, dass die Lösung zuletzt durch Zuwendung und Fürsorge erreicht wird. Das Kind lernt Mitempfinden und wird erst dadurch zum sozialen Wesen. Musikalisch ist dies mittels einer Folge von Miniaturen gestaltet. Viele von ihnen sind wieder einmal Tänze. Die Schäfer und Schäferinnen, die auf der Tapete in Liebe vereint waren und nun auf verschiedenen Fetzen getrennt sind, trauern mit einer eintönigen, altfranzösischen Tanzweise. Die demolierte englische Teekanne und die gleichfalls angeknackste chinesische Tasse wachsen auf menschliche Größe und boxen bzw. piksen ihren Feind zu Foxtrott-Klängen.
Das Formprinzip dieser Oper ist charakteristisch für einen großen Teil von Ravels Werk. In der Miniatur verbirgt sich oft genug Monströses; Leichtigkeit und punktueller Exzess stehen in einem Spannungsverhältnis. Musik aller Zeiten und Stilebenen bildet das Material, doch nicht in Form einer Montage, sondern stets eingeschmolzen in Ravels Personalstil. Was »L’enfant et les sortilèges« von den meisten anderen seiner Werke indessen unterscheidet, ist der unvermittelte Ausdruck von Leid und Mitgefühl, etwa im sacht gehaltenen Trauerwalzer der Libelle. Wie in »Le tombeau de Couperin« formuliert Ravel das Verlustgefühl durch milde Melancholie. Dies ist beispielhaft für seine Kunst der Distanznahme.
Kai Köhler schrieb an dieser Stelle zuletzt am 3. Januar 2025 über die Ausrufung des Ausnahmezustands durch Südkoreas Präsident Yoon Suk Yeol: »Der vereitelte Putsch«
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