Schlags Küchelchen tot
Von Frank Schäfer
Die Wörter sind böse: Rolf Dieter Brinkmanns Lyrik war wie Napalm auf die deutsche Literaturlandschaft. Am 23. April ist er 50 Jahre tot und sein Zorn noch immer nicht kalt. Unser Autor geht in loser Folge der Faszination Brinkmann auf den Grund. (jW)
»Geboren zu Anfang des Krieges, in Norddeutschland, Vechta im südlichen Oldenburg, einer Kleinstadt von 15.000 Einwohnern, ein Schweinelandstrich, leeres Moor … viel krüppliges Grünzeug, katholisch verseucht«, beschreibt der 1940 geborene Rolf Dieter Brinkmann in der WDR-Radiosendung »Autorenalltag« seine Provenienz. Man hört sein Ressentiment. In den postum publizierten Kladden und Tagebüchern »Erkundungen für die Präzisierung des Gefühls für einen Aufstand« reflektiert er es. »Warum will ich meine Herkunft nicht akzeptieren? Weil sie voller Drohungen und Schmerzen ist.« Ein Kriegskind.
Brinkmanns wohnen in einem Haus am Bahndamm, Ortsteil Falkenrott, in der Nähe des Fliegerhorsts, wo seine Mutter als Küchenhilfe arbeitet. Ende August 1944 wird der Fliegerhorst bombardiert, Brandbomben fallen auf die Stadt. Im März des Folgejahres, kurz vor Kriegsende, erobern alliierte Bodentruppen den Landkreis Vechta. Die Sirene heult den ganzen Monat. Fliegeralarm. Man flüchtet immer wieder in die Schutzräume. Am 24. März 1945 wird der Flugplatz binnen einer halben Stunde regelrecht »umgepflügt«, am 2. und 3. April die Stadt erneut bombardiert. Am 12. April rücken »die Tommys« ein.
Seine früheste Erinnerung ist die einer existentiellen Bedrohung. »Einmachgläser springen von den Regalen im Keller nach einem dumpfen Luftdruck, dann ist vor dem Haus im Vorgarten Falkenrott ein riesiges, großes Loch, alle Fensterscheiben des Hauses sind geborsten, mir wird ein Federbett übergestülpt, und dann zersplittert Holz, und das Tacken eines Maschinengewehrs ist zu hören, Sand rieselt in der Dunkelheit auf die zusammengedrückte Menge in einem Erdbunker, und dann ziehen flach Flugzeuge/Tiefflieger über die vorwärtshastende, auseinanderreißende Frauenmenge und Kindermenge, und alle stürzen in einen Graben …«
Seine Mutter ermahnt ihn, den Mund geöffnet zu halten. Eine Vorsichtsmaßnahme gegen den Druck der Detonation. Um den Sohn zu beruhigen, singt sie ein altes Wiegenlied. »Eia, popeia, schlags Küchelchen tot, es frißt nur das Stroh und gibt uns kein Brot.« Die Verse sollen das Kind in Sicherheit wiegen und handeln doch nur wieder von Gewalt. Das »ist die erste Lektion« seiner jungen Existenz, und sie prägt ihn. Die frühkindliche Erfahrung ist Zerstörung, Verheerung, Angst. Brinkmann fühlt sich als Opfer des Krieges, aber er darf es nicht sein.
Denn jetzt »herrschte die dumpfe Atmosphäre einer Kollektivschuld, jetzt kamen die Grauenbilder, nachträglich dünn in der Gesamtatmosphäre eingelassen«, schreibt er in einem Brief an seine Frau Maleen, der in »Rom, Blicke« abgedruckt ist. »Und was hast Du damit zu tun gehabt? Was habe ich damit zu tun gehabt? Nichts, absolut nichts – aber der Druck war da, mal mehr, mal weniger – und dann wieder der kollektive Wahn: von außen verhängt – so, jetzt arbeitet mal als Volk die Schuld ab – jetzt leistet was – jetzt leistet Wiedergutmachung – voran! tüchtig! schuften! leisten! mitkommen! abarbeiten! Los! voran! wenn nicht, bleibste hängen! los! los!«
Es wird einem mulmig bei diesem Opferlamento, bei dem das Leid der anderen nur als Ursache für die gesellschaftliche Zwangsjacke der Nachkriegszeit in die Wertung kommt – und man fühlt sich an das bittere Bonmot des israelischen Psychoanalytikers Zvi Rix erinnert. »Auschwitz werden uns die Deutschen niemals verzeihen!«
»Trümmer, zerrissene Häuser, Betonbrocken, Brandphosphorbomben und blaue Narben am Körper eines Spielkameraden«, schreibt Brinkmann, »wie sieht das bei Dir aus, Maleen? – Nichts? Das weiß ich, daß es nicht stimmen kann – Du hast mich an den realen Eindruck der zeitungspapierumwickelten Schuhe im Bett gebracht – Mist, das ist es, was sich als erste Lebenskulisse ergab, unter dem nicht näher faßbaren Druck und der Bedrohung der Vernichtung – das ist unsere Generation, eine Gerümpel-Generation, hastig und mit Angst vor dem Krieg oder in den ersten Kriegstagen zusammengefickt – ein verworrenes Motiv: ehe der Mann in den Krieg zieht, macht er der Frau noch ein Kind – ›ich bin nur da, weil es einen Krieg gab‹ – und was ist dann Kindheit und Jugend? Nichts als eine einzige Entschuldigung.«
In dieser Selbstwahrnehmung als doppeltes Opfer, der Kriegs- und der unmittelbaren Nachkriegszeit, steckt womöglich der Kern seines Minderwertigkeitskomplexes, der sich später zum berüchtigten Wutkomplex auswächst. Brinkmann laboriert am Deutschsein. Auf ungute, auf sehr deutsche Weise.
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