Dein roter Faden in wirren Zeiten
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Aus: Ausgabe vom 11.03.2025, Seite 8 / Ansichten

Canossa in der Wüste

Selenskijs unernste Friedensbekenntnisse
Von Reinhard Lauterbach
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Die einstige Lichtgestalt der westlichen Welt wurde von der Trump-Regierung demontiert (Brüssel, 6.3.2025)

Wenn es sich nicht angesichts des kriegerischen Kontexts verböte, könnte man über die jüngsten Bekundungen des ukrainischen Präsidenten Wolodimir Selenskij nur bitter lachen: Die Ukraine sei von der ersten Sekunde an für Frieden gewesen. Als hätte nicht seine Seite im Frühjahr 2022 auf britisches Insistieren hin die Friedensgespräche mit Russland abgebrochen und im Herbst desselben Jahres Gespräche mit Wladimir Putin per Gesetz ausdrücklich verboten.

Aber seine Aussage ist zum jetzigen Zeitpunkt auch ein Indiz für die veränderten objektiven Rahmenbedingungen. Selenskij weiß: Wenn er sich jetzt nicht bewegt, dann wird er derjenige sein, der die ukrainische Niederlage eingestehen muss und damit einen Schlussstrich unter seine eigene politische Laufbahn zieht. Gerade bricht die im vergangenen Sommer begonnene ukrai­nische Offensive auf russisches Territorium im Gebiet Kursk spektakulär zusammen. Die Verluste der ukrainischen Armee allein dort gehen offenbar in die Zehntausende, mit steil steigender Tendenz in den vergangenen Tagen und Wochen: Noch vor zwei Wochen gab die Ukrai­ne an, sie habe noch etwa 40.000 Soldaten im Kursker Gebiet stehen, jetzt wird die Zahl der Ukrainer, die rund um Sudscha eingekesselt sind, mit knapp 10.000 angegeben. Von einem organisierten Rückzug ist nichts bekanntgeworden. Wo also sind die übrigen geblieben? »The answer, my friend, is blowing in the wind«, könnte man Bob Dylan zitieren.

Aber immer noch fehlt Selenskijs Bekenntnissen zum Frieden der Ernst. Er macht sie erkennbar nur, um zu erreichen, dass die USA ihm wieder Waffen liefern. Natürlich, um den Krieg weiterführen zu können. Die mangelnde Seriosität der ukrainischen Position wird auch daran ersichtlich, dass er sich der in Frankreich entwickelten Forderung angeschlossen hat, als »ersten Schritt« eine einmonatige Waffenruhe zur See und in der Luft auszurufen. Glaubt er wirklich, dass Russland, das den Luftraum über dem Kampfgebiet weitgehend beherrscht, sich darauf einlässt? Und selbst wenn sich Moskau unter dem Druck von Trumps Sanktionsdrohungen entscheiden sollte, diese Forderung anzunehmen – die im Kursker Gebiet mutmaßlich verlorenen mehreren zehntausend Soldaten wird der ukrainische Präsident nicht so schnell ersetzen können, um den Krieg mit Aussicht auf Erfolg fortzusetzen.

So bleibt ihm nur der Versuch, sich unter die Fittiche des US-Adlers zu begeben, in der – sicherlich begründeten – Hoffnung, dass völlige Willfährigkeit ihm zumindest das politische Überleben sichert. Der Preis dafür wird ein noch stärker knebelndes Rohstoffabkommen sein, das den natürlichen Reichtum der Ukraine den USA ausliefert. Um von diesem Abkommen profitieren zu können, braucht auch Trump einen Waffenstillstand. Denn sonst investiert kein US-Kapital in der Ukraine. Selenskijs Canossagang führt ihn dieser Tage nach Dschidda.

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  • Leserbrief von Fred Buttkewitz aus Ulan - Ude (11. März 2025 um 01:58 Uhr)
    »Die Ukraine sei von der ersten Sekunde an für Frieden gewesen. Wann war denn diese erste Sekunde? 1918, als die Ukraine beim Raubfrieden von Brest-Litowsk quasi mit vorgehaltener Pistole durch Deutschland von Sowjetrussland abgespalten wurde und anschließend gegen Russland Krieg führte? 1941, als in der Westukraine die Wehrmacht mit Blumen empfangen wurde mit anschließenden Judenprogromen, der Sowjetarmee durch ukrainische SS-Divisionen in den in Rücken fallend ? 1945–1951, als vom Westen finanzierte Reste von Banderatruppen aus tiefen Wäldern heraus die Dorfbevölkerung terrorisierten? Nach 1956, als Chrustschow die nach Kanada emigrierten ukrainischen Nazis begnadigte und zurückkehren ließ, die anschließend über ihre Kinder und Enkel bis heute dort weiter wirken? 1991, als die Ukraine die von Lenin und Chrustschow (ohne die Russen zu fragen) der Ukraine angegliederten Gebiete (Donbass und Krim) vor der Selbstständigkeit trotz dortiger Volksabstimmungen für Russland nicht zurück erstattete? 2010, als Nazi-Massenmörder offiziell zu Staatshelden erklärt wurden und die Kinder aller Russen zwangsweise in diesem Geiste unterrichtet wurden, also quasi eine HJ, die gegen die Eltern und deren Traditionen und Ideale aufgehetzt wurde? Frieden statt Krieg muss zuerst im Innern eines Staates herrschen. Stellen Sie sich ein Deutschland vor, bei dem an der Ostgrenze der Besucher durch Stalinbilder begrüßt wird, und an der Westgrenze Blumen an Hitler-Denkmälern liegen. So war die Ukraine bis 2022. Die Ostukraine sollte zwangsweise die Ideologie der Neonazisten aus Galizien übernehmen. Eine Föderalisierung der Ukraine wurde seit Gründung von allen Präsidenten abgelehnt, die Selbstbestimmung der Krim abgeschafft sowie das Amt der Gouverneure, MInsk I und II torpediert. Das hätte die Macht des Präsidenten beschnitten. Im Frühjahr 2021 gab es die Anweisung Selenskijs, Krim und Donbass mit Gewalt zurückzuerobern. Wann war nun diese Sekunde Frieden?
  • Leserbrief von Istvan Hidy aus Stuttgart (10. März 2025 um 20:58 Uhr)
    Im Gegensatz zur Behauptung im Artikel: »Selenskyj weiß: Wenn er sich jetzt nicht bewegt, dann wird er derjenige sein, der die ukrainische Niederlage eingestehen muss und damit einen Schlussstrich unter seine eigene politische Laufbahn zieht.« Welche Alternative hat er? Keine! Er wurde 2019 für den Frieden gewählt, doch es gelang ihm nicht, den Konflikt im Donbass zu lösen – was schließlich zum Krieg führte. Wer, wenn nicht er, trägt dafür die Verantwortung? Selenskyj war es, der den Friedensvorschlag von Ankara auf Anraten von Boris Johnson ablehnte und nun die Konsequenzen tragen muss. Seitdem zählt die Ukraine nicht nur Hunderttausende Tote und Verletzte, sondern ist auch ein vom Krieg gezeichnetes Land mit einer Schuldenlast, die niemals getilgt werden kann. Wer sollte die Verantwortung übernehmen, wenn nicht der Präsident, der sein Land in diese Lage manövriert hat?

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