Pflegekasse vor Kollaps
Von Oliver Rast
Mist, Warteschleife. »Zur Zeit sind alle Leitungen belegt.« Und: »Bitte haben Sie einen Moment Geduld.« Okay, denkt der wissbegierige Reporter, durchhalten. Nach drei, vier Anläufen ein weiterer. Einer noch. Dann Volltreffer: freie Leitung! Dienstag vormittag, 9.58 Uhr. Eine freundliche Stimme aus der Telefonzentrale grüßt mit schwäbischem Akzent: »SVLFG, Sozialversicherung für Landwirtschaft, Forsten und Gartenbau, einen schönen guten Tag.«
Der Autor kommt höflich, aber bestimmt zur Sache: Die Pflegekasse der SVLFG sei nach einem Zeitungsbericht faktisch zahlungsunfähig, müsse über den Ausgleichsfonds der Kassen finanziell gestützt werden. Das Besondere: Dies ist ein Novum in der Geschichte der deutschen Pflegeversicherung. »Haben Sie hierzu einen Ansprechpartner für mich?« Nicht sofort. Einer, der Auskunft geben könnte, sei gerade offline. »Aber«, sagt die Stimme in der Leitung, »wir haben doch heute morgen eine Mail erhalten. Einen kleinen Augenblick, bitte.« Eine Suche im virtuellen Postfach schließt sich offensichtlich an. Nach einer Dreiviertelminute ein hörbares Aufatmen. Gefunden! Die interne Mail sei mit »Sprachregelung Liquidität« überschrieben, so die Stimme. »Ich kann sie Ihnen vorlesen, wenn Sie möchten.« Der Autor flugs: »Sicher doch, sehr gerne.« Der Inhalt zusammengefasst: Die SVLFG kenne entsprechende Pressemeldungen zur Finanzhilfe aus dem Ausgleichsfonds, die Versicherten müssten sich aber keine Sorgen machen, alle Leistungen würden erbracht.
Das Bundesamt für Soziale Sicherung (BAS) verwaltet den Ausgleichsfonds. Ein Sondervermögen, das allen Pflegekassen zusteht. Es diene der Erfüllung besonderer Finanzierungsaufgaben, in erster Linie der Durchführung des Finanzausgleichs zwischen den Pflegekassen, verlautbart die Bundesbehörde auf ihrer Homepage. Besser gesagt, die, die finanziell straucheln, werden durch finanzstarke Kassen unterstützt.
Alles tutti? Mitnichten. Zunächst: Die Pflegekasse ist an die jeweilige Krankenkasse angegliedert. Im Falle der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) SVLFG mit ihren knapp 490.000 Mitgliedern heißt das: Die Versicherten der Landwirtschaftlichen Krankenkasse (LKK) sind automatisch bei der Landwirtschaftlichen Pflegekasse (LPK) versichert. Wichtig dabei zu wissen: Krankenkassen haben unterschiedliche Beitragssätze, während die Pflegekassen durchweg den gleichen Beitragssatz vom Bruttolohn ihrer Mitglieder einziehen. Ein fixer Satz also, den nur die Bundesregierung anheben kann. Was bisweilen passiert. Zum Jahreswechsel etwa – um 0,2 Prozentpunkte auf 3,6 Prozent.
Reicht das? Wohl nicht. Der Beitragssatz für die Pflegekassen dürfte in den kommenden Jahren stark steigen, womöglich auf mehr als fünf Prozent, berichtete das Springer-Blatt Welt am Montag nachmittag online. Die Zeitung beruft sich dabei auf eine Prognose des IGES-Instituts im Auftrag der Krankenkassen DAK-Gesundheit. Zuvor hatte DAK-Chef Andreas Storm gegenüber Bild gefordert, binnen zweier Monate einen Gesundheits- und Pflegegipfel im Kanzleramt einzuberufen, »um die desaströse Finanzlage der Kassen zu stabilisieren«. Schnell soll das vonstatten gehen.
Bloß, wie soll das funktionieren? Ideen hat das kapitalnahe Institut der deutschen Wirtschaft Köln (IW Köln). Klar, Auslöser für die »Kostenexplosion« sind die Zunahme von Pflegebedürftigen und mehr Leistungen, die aus der Pflegekasse gezahlt werden. Dem Statistischen Bundesamt zufolge galten Ende 2023 knapp 5,7 Millionen Personen als pflegebedürftig. Oder: »Gegenüber dem Jahr 2016 hat sich die Zahl Pflegebedürftiger verdoppelt«, steht im IW-Gutachten »Anforderungen an ein zukunftsfähiges Pflegewesen«, das jW vorliegt.
Kürzungspotential soll es laut den Gutachtern besonders beim Pflegegeld geben. So machten rund 28 Prozent der Geldleistungen Ausgaben der sozialen Pflegeversicherung gesetzlich Versicherter aus. Übersetzt: Statt neue Finanzierungsquellen anzuzapfen, seien angeblich versicherungsfremde Leistungen zu begrenzen. »Bislang wird weder sichergestellt, dass die Mittel zweckgebunden für pflegebezogene Aufwendungen eingesetzt werden, noch werden Qualitätsstandards analog zur professionellen Pflege angelegt.« Anders ausgedrückt, chronisch Kranken aus der GKV drohen Leistungsstreichungen.
Zurück zur SVLFG. Wie dramatisch ist die Situation, wie hoch ist die Finanzspritze durch das BAS? »Der bereits aktuell konkrete Hilfebedarf beläuft sich auf 8,5 Millionen Euro«, sagte dessen Pressesprecher Michael Mühlhoff am Dienstag gegenüber jW. Ohne die Bewilligung dieser Hilfe könnten Zahlungsstockungen nicht sicher ausgeschlossen werden, so Mühlhoff weiter. Ferner sei die Finanzlage der sozialen Pflegeversicherung insgesamt angespannt. Weitere Pflegekassen könnten Finanzhilfeanträge stellen. Das bedeutet wohl: Die De-facto-Insolvenz der SVLFG ist erst der Auftakt, der Beginn einer Reihe zahlungsunfähiger Pflegekassen. Mühlhoff versucht zu beruhigen: »Der oder die einzelne Pflegebedürftige einer betroffenen Pflegekasse hat keinen Grund zur Sorge, dass die Leistungen der Pflegeversicherung nicht weiter in vollem Umfang gewährt werden.« Abwarten.
Abwarten? Zahlreichen bei der SVLFG versicherten Landwirten ist der Geduldsfaden längst gerissen. Gleichfalls wegen der Pflegekasse? Nein, wegen der Krankenkasse. Denn die neue Beitragsberechnung sei oft fehlerhaft gewesen, berichtete das Fachportal Agrar heute am Dienstag. Die Drähte in der Telefonzentrale dürften glühen. Warteschleife, Mist.
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