Dein roter Faden in wirren Zeiten
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Aus: Ausgabe vom 13.03.2025, Seite 11 / Feuilleton
Kino

Wissen und Nichtwissen

Walter Salles’ Spielfilm »Für immer hier«
Von Holger Römers
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Allmähliche Bewusstwerdung: Fernanda Torres als Eunice Paiva

Zu Beginn von »Für immer hier« sieht man Eunice Paiva (Fer-nanda Torres) im Meer treiben, dessen Wasser ihre Ohren bedeckt, während die Augen in die Sonne blinzeln. Zwar kann die fünffache Mutter einen Hubschrauber nicht überhören, aber das ausgelassene Treiben ihrer Familie getrost ignorieren. Am Strand hat soeben ihr einziger Sohn einen streunenden Hund adoptiert, woraufhin eine seiner Schwestern ihn ermahnt, die Erlaubnis der Mutter einzuholen. Die ist jedoch, wie sich aus dem Blickwinkel des Jungen zeigt, weder zu sehen noch zu hören. Also rennt Marcelo (Guilherme Silveira) kurzerhand zu Vater Rubens (Selton Mello), um ihn mit einer Lüge zur Zustimmung zu drängen.

So erreicht die schwungvolle Beiläufigkeit, mit der Regisseur Walter Salles das Familienleben seiner Figuren in der ersten halben Stunde schildert, gleich eine unaufdringliche Pointe: Denn es spricht Bände darüber, was Rubens vom Freund seiner ältesten Tochter Vera (Valentina Herszage) hält, dass er den Straßenköter auf dessen Namen tauft. Derweil haben Inszenierung und Montage uns deutlich bewusst gemacht, dass Marcelo vom idyllischen Strand bloß über eine Straße treten musste, um das geräumige zweistöckige Elternhaus zu erreichen, in dem Meeresrauschen abends die Schlafzimmer füllt.

Da mag der Eindruck entstehen, der Alltag dieser Familie gleiche ewigen Ferien – zumal aus Kindersicht. Wie eine abschließende Episode andeutet, die gut vier Jahrzehnte später in São Paulo angesiedelt ist, basiert der Film auf den 2015 publizierten Erinnerungen des realen Marcelo Rubens Paiva, dem Sohn des 1971 von den Militärs ermordeten Politikers Rubens Paiva. Die politischen Umstände im Jahr 1970 in Rio de Janeiro können die Erwachsenen nicht völlig ausblenden: Vera gerät in eine Straßenkontrolle, bei der ebenso waffenstarrend wie grob nach »Terroristen« gesucht wird. Deshalb überredet Eunice ihren Ehemann dazu, die Tochter zum Studium nach London zu schicken. Dort wird sie bei Freunden der Familie wohnen, die gerade ihre Flucht vor den zunehmenden Repressionen der Militärdiktatur vorbereiten.

Allerdings ist vorstellbar, dass Eunices Sorgen mit der Planung von Veras Auslandsstudium tatsächlich vorerst erledigt sind. Denn ihre beruflichen Aufgaben beschränken sich offenbar auf Kindererziehung und Haushalt – wobei ihr eine Hausangestellte das meiste abzunehmen scheint. Jedenfalls ist Eunice kaum bei einer anderen Tätigkeit zu sehen als beim Kredenzen von Soufflés. Um so bezeichnender, dass sie später, als sie bereits seit einem Vierteljahrhundert im fernen São Paulo lebt, zu Protokoll gibt: »Erholen kann ich mich nur am Strand.« In der Zwischenzeit haben wir sie freilich nur ein zweites Mal am Strand in Rio gesehen, in einer Variation jenes Anfangsbildes – wobei ihr »Toter-Mann-Spielen«, das reglose Liegen an der Wasseroberfläche, wie ein böses Omen wirkt.

Nach gut einer halben Stunde Filmdauer offenbart nämlich die Freizügigkeit, die bis dahin das Leben der Familie prägte, eine brutale Kehrseite: Nun stehen Bewaffnete im Haus, die, nachdem Rubens zur »Befragung« mitgenommen worden ist, noch tagelang bleiben, bis auch Eunice und ihre zweitälteste Tochter verhaftet werden.

Damit geht eine Verschiebung der Erzählperspektive einher: Nachdem sie zuvor zwischen den Mitgliedern der Familie gewechselt hat, bleibt sie für den Rest der gut anderthalb Stunden langen Rio-Episode an Eunice gebunden. So vermittelt sich die allmähliche Bewusstwerdung dieser Frau – sowie deren Grenzen, die nicht nur aus der Informationsverweigerung des Staates und dem Verlust des Zeitgefühls während einiger Tage Haft herrühren. Selbstverständlich weiß Eunice, was uns das Drehbuch erst bei Rubens’ Verhaftung mit wenigen Halbsätzen vermittelt: dass der Betreiber eines Bauingenieurbüros einst Abgeordneter der Arbeiterpartei und nach dem Putsch im Exil gewesen ist. Allerdings hatte sie offenbar nicht mehr Indizien für aktuelle politische Aktivitäten als wir Zuschauer: nämlich gelegentliche Anrufe von Unbekannten, die an der Türschwelle Päckchen in Empfang nahmen.

Als weitere Folge der patriarchalen Rollenverteilung erweist sich nun das fehlende Zugriffsrecht aufs Familienkonto. Allerdings vergeht eine ganze Weile, bis Eunice von Rubens’ Geschäftspartner und Freund Auskunft über die Oppositionstätigkeit verlangt. Und dann liefert sie selbst die Begründung für die Heimlichtuerei der Männer: dass diese ihre Frauen beschützen wollten. Als das Regime unter der Hand Rubens’ Foltertod einräumt, stimmt Eunice folgerichtig der Oppositionstaktik zu, weiter öffentlichkeitswirksam die Freilassung des Ehemannes zu fordern – obwohl das heißt, dass sie ihren Kindern noch jahrelang die Todesnachricht verheimlichen wird.

Als 1996 die zweite Episode dieses klugen, dieses Jahr mit dem Auslands-Oscar ausgezeichneten Films beginnt, hat Eunice zwischenzeitlich Jura studiert und vertritt die Interessen indigener Gruppen. Indem seine Dramaturgie weiter regelmäßig Familienfotos, private Super-8-Filme, Zeitungsausschnitte und Akten einfließen lässt, führt Salles uns indes vor Augen, dass die Protagonstin nie weitere Mittel verfügbar hatte, um ihr Nichtwissen bezüglich Rubens’ Verbleib zu beherrschen. Und indem er die Erzählperspektive noch einmal verlagert, wirft der 1956 geborene brasilianische Filmemacher schließlich die durchaus nicht simple Frage auf, inwiefern solches Nichtwissen jemals als Segen wirken mag – oder stets ein Fluch bleibt.

»Für immer hier«, Regie: Walter Salles, Brasilien/Frankreich 2024, 137 Min., Kinostart: heute

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