Syrische Phantome
Von Wolfgang Nierlin
Immer nur spaltbreit fällt Licht auf die Leinwand. Hinter der Plane, die sich im Fahrtwind und auf holprigem Gelände für Augenblicke hebt, kauern dicht gedrängt dunkle Gestalten auf der Ladefläche. Sie kommen aus einem sehr realen brutalen Alptraum und werden kurzerhand irgendwo in der Wüste ausgesetzt. Schmutzig, ausgemergelt und erschöpft, wie sie sind, schleppen sie ihre malträtierten Körper in eine ungewisse Zukunft oder brechen gleich an Ort und Stelle zusammen. Die bärtigen, verwahrlosten Männer sind Opfer der Assad-Regierung, die während des syrischen Krieges 2014 aus dem berüchtigten Saidnaja-Gefängnis entlassen werden. Sie sind mit ihren Wunden und Traumata jetzt sich selbst überlassen. Nach einem Zeitsprung von zwei Jahren arbeitet Hamid (Adam Bessa), einer der Überlebenden, auf einer Baustelle in Strasbourg und wohnt in einer dunklen Kellerwohnung. Der schweigsame, in sich gekehrte Mann ist schwer traumatisiert. Er wurde nicht nur gefoltert, sondern hat während des Krieges auch seine Frau und seine kleine Tochter verloren.
In Jonathan Millets Psychothriller »Die Schattenjäger« (»Les fantômes«), der von wahren Begebenheiten inspiriert wurde und mit minimalen Mitteln große Wirkung erzeugt, gehört Hamid zu einem Untergrundnetzwerk von Zivilisten, die im geheimen versuchen, flüchtige Kriegsverbrecher aus Syrien aufzuspüren. So ist der unnahbar und undurchdringlich erscheinende junge Mann, der in Aleppo als Literaturprofessor gearbeitet hat, auf der Spur eines gewissen Harfaz (Tawfeek Barhom), der im Foltergefängnis unter dem Namen »der Chemiker« firmierte. Hamid hat nur spärliche Anhaltspunkte. Unter den Exilanten der syrischen Community begegnet man sich mit Misstrauen. Und die Mitstreiter seiner Gruppe, mit denen er, getarnt durch ein Videokriegsspiel, kommuniziert, sind skeptisch und raten zur Vorsicht. Doch Hamid folgt seiner Intuition, achtet auf Gerüche, Stimme und Schritte und kommt so seinem mutmaßlichen Peiniger, der als Phantom einer schrecklichen Vergangenheit in der elsässischen Metropole Chemie studiert, immer näher.
Diese Momente verstärkt der Film durch intensive Nahaufnahmen und die starke physische Präsenz des Protagonisten. Dessen Traurigkeit verdichtet der französische Regisseur noch dadurch, dass er Hamids akribische Verfolgerperspektive mit den mündlich überlieferten Zeugnissen von Folteropfern verbindet. Während der einsame Beobachter immer drängender Harfaz belauert, durchlebt er Tiefpunkte der Verzweiflung. Auf dem Höhepunkt der Konfrontation stehen seine übermächtigen inneren Wunden, die seine vergangene Gefangenschaft zu konservieren scheinen, der optimistischen Vorwärtsgewandtheit seines Gegenspielers gegenüber. Die Beziehung der beiden ist komplex. Doch Jonathan Millet interessiert sich in seinem beeindruckenden Spielfilmdebüt aus nachvollziehbaren Gründen weniger dafür, wie der Täter mit seiner Schuld leben kann, sondern er erzählt, wie es dem Opfer gelingt zu überleben und aus der parallelen Schattenwelt herauszutreten.
»Die Schattenjäger«, Regie: Jonathan Millet, Frankreich/Belgien/BRD 2024, 106 Min., Kinostart: heute
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Leserbrief von Onlineabonnent/in Klaus W. aus Leipzig (13. März 2025 um 13:40 Uhr)Hätten sie doch beim BND nachfragen können, die standen doch neben den Folterern und haben zugesehen und ihre Fragen gestellt.
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Leserbrief von Onlineabonnent/in Franz S. (13. März 2025 um 10:36 Uhr)»Die bärtigen, verwahrlosten Männer sind Opfer der Assad-Regierung, die während des syrischen Krieges 2014 aus dem berüchtigten Saidnaja-Gefängnis entlassen werden.« Dieser Film, der sich offensichtlich an die herrschende Sichtweise über Syrien anpasst, wird sicherlich ein Kassenschlager.
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