Dein roter Faden in wirren Zeiten
Gegründet 1947 Montag, 17. März 2025, Nr. 64
Die junge Welt wird von 3005 GenossInnen herausgegeben
Dein roter Faden in wirren Zeiten Dein roter Faden in wirren Zeiten
Dein roter Faden in wirren Zeiten
Aus: Ausgabe vom 17.03.2025, Seite 10 / Feuilleton
Literatur

Die stolze Knorrigkeit

Literaturkritische Essays von Klaus Bellin und nachgelassene Prosa von Wulf Kirsten im Quartus-Verlag
Von Jens Grandt
10 Kopie.jpg
Zeitungsschweinehund Fontane: Unechte Korrespondenzen sind genausogut wie echte, mitunter noch ein bisschen besser

Ob Klaus Bellin immer ein Notizbuch zur Hand hat, wenn er durch die literarischen Landschaften streift, wissen wir nicht. Im letzten Feuilleton seines neuen Sammelbandes »Gegenwelten. Dichter zwischen Goethe und Fontane« kommt er auf Theodor Fontane als leidenschaftlichen Chronisten zu sprechen: auf dessen turbulente Tage in Leipzig, als er Mitglied des Herwegh-Klubs war, und auf den Apotheker, der sich 1848 unter die Barrikadenkämpfer mischte. Schließlich empfand er sich als einen »Zeitungsschweinehund« in Preußens Dienst, was er später zu verschleiern suchte.

Bellins Rückschau »Es war wie Glas zwischen uns. Die Geschichte von Mary und Kurt Tucholsky« wurde mehrmals aufgelegt. Aber weithin bekannt geworden ist er durch seine zahlreichen Rundfunkfeatures und Zeitungsbeiträge. Er hat eine ungewohnte Sicht auf seine Protagonisten; aus verqueren Winkeln oder im gezoomten Fokus entdeckt er überraschende Begebenheiten. Am Ende hat der Leser dennoch ein biographisches Gesamtbild vor Augen. Ein Meister des episodischen Essays.

Wie Goethes »West-östlicher Divan« entstand, erfahren wir im Eingangstext. Bellin setzt bei einem Tagebucheintrag vom 7. Juni 1814 an, während eines ersprießlichen »Frühlingsaufenthalts« mit seiner Frau Christiane in Bad Berka flüchtig notiert: »Hafis Divan«, und verfolgt den Schöpfungsakt bis zur letztgültigen Publikation 1827. Pikant die Geschichte mit der 31jährigen Marianne von Willemer (geborene Jung), die der 65jährige Goethe im August 1814 in Frankfurt am Main als »kleine Gefährtin« (ab September 1814 dann dritte Ehefrau) seines Brieffreundes Johann Jakob Willemer kennengelernt hatte und die ihm seine Suleika werden sollte. Sie hat den Sänger der Glückseligkeit wahrhaftig geliebt, so jedenfalls sprechen ihre Gedichte, die Goethe ohne Nennung ihres Namens in den »Divan« aufgenommen hat.

Deutlich wird, was uns nie vermittelt worden ist und Goethe selbst bezeugt: Der »Divan« ist »ein politisches Buch«, weil dem Menschen »die Entscheidungsfrage nach seiner Humanität gestellt wird«. Maßgeblich war ihm das Bemühen, dem deutschen Leser die als fremd empfundene orientalische Welt vertraut zu machen. Er entdeckt während seiner Studien ein so nicht erwartetes Gefühl der Verwandtschaft und Übereinstimmung. »Noch immer ist er, wenn es um die gerechte, vorurteilslose Beurteilung des Islam geht, der einsame Rufer«, schreibt Bellin. »Gegen Krieg, nationale Überhebung und chauvinistische Selbstsucht setzt Goethe (…) auf respektvolles Miteinander und gegenseitige Bereicherung.« Grund genug, diesen Text an den Anfang des Bandes zu setzen. Das Spektrum ist breit, Heinrich von Kleist kommt zu Wort mit seinen »Berliner Abendblättern«, die rebellische Bohemienne Rahel Varnhagen, Ludwig Börne, Nikolaus Lenau und viele andere – brillante Reflexionen über 32 Künstlerschicksale.

»Gegenwelten« ist in dem von Detlef Ignasiak 1996 gegründeten Quartus-Verlag erschienen. Neben der literarischen Halbjahreszeitschrift Palmbaum und diversen Einzelveröffentlichungen erscheint darin die von Jens-Fietje Dwars herausgegebene »Edition Ornament«. Sie hat es inzwischen auf 40 Bände gebracht. Besonders zu empfehlen: »Nachtfahrt. Autobiografische Prosa aus dem Nachlaß« des 2022 verstorbenen Lyrikers Wulf Kirsten. Wie Dwars im Nachwort anfügt, habe der ihm vertraute Kirsten stets betont, er sei kein Landschafter; das »Erhabene« der Naturlyrik sei ihm fremd. In dem kleinen Dorf Klipphausen nördlich von Dresden aufgewachsen, nach kaufmännischer Lehre und Lehramtsstudium, hatte er sein Debüt 1970 mit »satzanfang« im Aufbau-Verlag.

Darin schon das Gedicht »die erde bei Meißen«, stilprägend für seinen gleichnamigen Lyrikband von 1986. Kirsten erschließt uns die Poesie der Erde, der Arbeit an und auf ihr, die »stolze Knorrigkeit« (Hans-Dieter Schütt) des banal Vorhandenen, dabei regionale Sprachbilder einbeziehend. Er ist der Widerborstige. Dass er nach Weimar gezogen ist, konnten seine Verehrer nicht verstehen, aber eine Lektoratsstelle und sicher auch das Flair am Frauenplan lockten. Die Erde bei Meißen war ihm auch an der Ilm gegenwärtig.

Es ist Erinnerungsprosa. Manchmal weiten sich die Skizzen zu zeitgeschichtlichen Reflexionen wie in der Erzählung »Der Verschollene«: Ein Mitschüler, in den letzten Kriegswochen gezwungen, einem brutalen Sturmtrupp zu folgen, wird im November 1945 mitten aus dem Unterricht verhaftet, in Dresden eingesperrt, seitdem verliert sich jede Spur von ihm. Es ist beeindruckend, wie beharrlich Kirsten diesen individuellen Fall recherchiert.

Ebenso das Misstrauen der Bauern gegenüber neuen Lebensansprüchen, wie es einem Flüchtlingsvater mit seinen sieben Söhnen gelingt, von der Dorfgemeinschaft abgewiesen, in einem aufgelassenen Steinbruch eine Bleibe zu errichten. »Eine Stimme aus dem Dresdner Hinterland« bezeugt zum wiederholten Mal Kirstens Verbundenheit mit der Elbmetropole, und in »Umlenkung« gewährt er uns Einblick in die anregende wie strapaziöse Tätigkeit als Lektor. Das alles ist sehr lesenswert und mit wunderbar zu Kirsten passenden kargen Kaltnadelradierungen von Susanne Theumer illustriert.

Klaus Bellin: Gegenwelten. Dichter zwischen Goethe und Fontane, Quartus-Verlag, Bucha bei Jena 2024, 151 Seiten, 14,90 Euro

Wulf Kirsten: Nachtfahrt. Autobiografische Prosa aus dem Nachlass Hrsg. und gestaltet von Jens-Fietje Dwars, Quartus-Verlag, Bucha bei Jena 2023, 176 Seiten, 22 Euro

links & bündig gegen rechte Bünde

Jetzt den kostenlosen jW-Newsletter abonnieren – täglich das Beste aus der Tageszeitung junge Welt, direkt in Ihr Postfach. Ihre E-Mail-Adresse wird natürlich niemals an Dritte weitergegeben.

Ähnliche:

  • Der Verlag bezeichnete Hans Marchwitzas »Sturm auf Essen« als »R...
    26.11.2024

    Auf die Barrikaden

    Literarische Propaganda für den Klassenkampf. Das Experiment des Roten Eine-Mark-Romans 1930–1932
  • Ein bisschen Spaß muss sein. Wohnzimmerszene im Westdeutschland ...
    22.12.2023

    Das Ende der Gemütlichkeit

    Zwischen Nestbeschmutzung und notwendiger Aufklärung. Resonanzen auf einen Roman. Christian Geisslers »Anfrage« (Teil 2 und Schluss)
  • Der westdeutsche »Wehrbeitrag« ein Jahrzehnt nach dem Ende des Z...
    16.11.2023

    Atempause auf einem Schlachtfeld

    Vor 70 Jahren schrieb Wolfgang Koeppen seinen Roman »Das Treibhaus« über die Remilitarisierung in der Bundesrepublik

Mehr aus: Feuilleton