Kategorisch unfrei
Von Günseli Yilmaz
Im gesamten deutschsprachigen Raum gründeten sich in den vergangenen Jahren viele neue Frauenorganisationen. Neben den bestehenden queerfeministischen, autonomen Zusammenschlüssen erkannten auch sozialistische Gruppen die Notwendigkeit, gesonderte Orte für Frauen zu schaffen, in denen sie sich in bezug auf ihre eigene Situation bilden und zusammenschließen können. Mittlerweile ist in fast jeder größeren Stadt der Bundesrepublik mindestens eine feministische Organisation aktiv. Oftmals sind diese Gruppierungen nur schwer voneinander zu unterscheiden. Hinsichtlich ihrer Präsenz in den sozialen Medien, der Aktionen und Demonstrationen, die sie veranstalten, gleichen sich alle Gruppen. Namentlich unterscheiden sich die marxistischen Gruppen manchmal, weil sie mit dem Frauenbegriff agitieren, was queerfeministische Vereinigungen eher vermeiden. Inhaltlich sind sie allerdings kaum zu unterscheiden: Sie kämpfen alle gegen das Patriarchat, viele von ihnen bezeichnen sich selbst auch als antikapitalistisch oder intersektional.
Als Frau und damit potentiell Betroffene ist der Einsatz, den die feministischen Organisationen leisten, zu begrüßen. Zugleich werfen das politische Selbstverständnis der Gruppen und die daraus resultierende Form des politischen Engagements einige Fragen auf. Wieso verwenden alle den Begriff »Patriarchat«? Was bedeutet es, antikapitalistisch zu sein oder gar intersektional?
Nicht erst seit dem Erstarken der AfD und anderer rechter Organisationen hat diese Gesellschaft ein Problem mit Frauen. Deswegen sprechen die meisten Frauengruppen – auch die dezidiert marxistischen – vom Patriarchat, einem scheinbar ewigen Übel, das seit Tausenden von Jahren über uns liegt und uns beherrscht. Manche sprechen sogar von einer ausbeuterischen Symbiose von Patriarchat und Kapitalismus, die die Situation der Frauen im Kapitalismus weiter verschlechtert haben soll. Aber wer oder was ist eigentlich das Patriarchat?
Eine Lücke schließen
In der zeitgenössischen Verwendung beschreibt der Begriff Patriarchat eine Ordnung, in der Männer das Sagen haben und aus diesem Grund alles zu ihren Gunsten gestalten. Dieses Patriarchat, die Herrschaft der Männer, existiere schon länger als die bürgerliche Gesellschaft und habe folglich große gesellschaftliche Umbrüche wie etwa die Französische Revolution überdauert. Obwohl das Patriarchat ein Herrschaftsverhältnis beschreibt, wird es in seiner Verwendung oft zum Subjekt verkehrt. So liest man häufig den Satz: »Das Patriarchat tötet.« Aber eigentlich tötet nicht das Patriarchat Frauen, sondern Männer. Bei der Verwendung des Begriffs in dieser Weise verschwinden die eigentlich Tätigen, die Männer, hinter dem Patriarchat.
Seit den 1970er Jahren tauchte der Begriff immer häufiger in linken, feministischen Theorien auf. Er sollte eine Lücke schließen: Bei der Suche nach einer theoretischen Ursache der Frauenunterdrückung verzweifelten damals viele Theoretikerinnen. Gleichzeitig wurde das Subjekt des Feminismus in Frage gestellt. Die bisherige feministische Theorie wurde dafür kritisiert, nicht alle Frauen vereinigen zu können. Als Reaktion darauf suchte man händeringend nach einigenden Momenten in der Unterdrückung. So entstand die Bewegung, die Lohn für Hausarbeit forderte, da Frauen global für die Hausarbeit (heutzutage eher als Care-Arbeit gefasste Fürsorgetätigkeiten) verantwortlich gemacht wurden (im Gegensatz zu Männern). Ihre Vertreterinnen, Mariarosa Dalla Costa, Selma James und Silvia Federici, verstanden sich als marxistisch-feministisch. Die Hausarbeit als bestimmender Faktor des Subjekts Frau, also einer Tätigkeit, die alle Frauen gleichermaßen verrichten müssen, wurde unter anderem von Angela Davis kritisiert und zurückgewiesen: Sie befürchtete, dass durch die Forderung nach Lohn für Hausarbeit die Fürsorge als Tätigkeit an die Weiblichkeit gekoppelt werde. Andere marxistisch-feministische Theoretikerinnen, beispielsweise Lise Vogel und Frigga Haug, unterstellten den Vertreterinnen der Hausarbeitsdebatte, dass sie keine ausreichenden Kenntnisse über den Marxismus besäßen, weil sie in zwei Systemen denken würden: einer privaten und einer öffentlichen Sphäre. Mit ihrer Forderung würden sie die Trennung der Bereiche untermauern und die Unterdrückung der Frauen fälschlicherweise lediglich in der privaten Sphäre verorten.
Aus diesen Gründen scheiterte die Hausarbeitsbewegung. Als Folge dieses Scheiterns distanzierten sich die Theoretikerinnen dieser Zeit entweder vom Marxismus oder vom Feminismus, es kam zu einem Bruch, der den marxistischen Feminismus nachhaltig beschädigte. In der Abkehr vom Marxismus entstand ein neuer linker Feminismus, dessen Vertreterinnen den Patriarchatsbegriff als einigendes Moment aller Frauen aufgriffen. Auch die Psychoanalyse gewann immer mehr an Einfluss in der feministischen Theorie, beispielsweise bei Shulamith Firestone, die auch Themen wie Sexualität und Körper in ihre Untersuchungen mit aufnahm. Man sprach nun von der Pathogenese des Subjekts, Heteronormativität und dem Patriarchat als Grundlage der Gesellschaft, in der die Subjekte sozialisiert werden. Dieser Einfluss der Psychoanalyse, insbesondere durch Jacques Lacans Untersuchungen, bildete die Grundlage für Butlers Schrift »Das Unbehagen der Geschlechter«, die den Beginn der queerfeministischen Theorie einläutete. Butlers bewusste Abkehr von der Produktionsweise als ordnungsbestimmendem Faktor hin zur heterosexuellen Matrix besiegelte den Triumphzug des antimarxistischen Feminismus, wobei auch Butler die Patriarchatstheorie ablehnt.
Einige linke Feministinnen behaupten mittlerweile sogar, dass auch Männer unter dieser »patriarchalen Sozialisierung« leiden würden. Möglicherweise möchten sie mit dieser Behauptung Männer dazu bewegen, ihre eigene Vormachtstellung zu überdenken. Diese populäre Aussage beweist, dass der Patriarchatsbegriff im Laufe der Zeit weiter an Bestimmung verloren hat. Denn wenn das Patriarchat ein Herrschaftsverhältnis beschreibt, in dem die Männer die Macht besitzen, lässt sich nur schwer begründen, warum die Herrschenden vergleichbare Schäden davontragen sollen wie die Unterdrückten. Um solche gedanklichen Verrenkungen zu erklären, wird auf neue Phänomene zurückgegriffen, die ebenso unzureichend bestimmt sind. Die sogenannte toxische Männlichkeit taucht immer häufiger in den Debatten der politischen Linken auf. Ihr Ursprung liegt ebenfalls in der Psychoanalyse. Mit seinem Buch »Männerphantasien« (1977) läutete Klaus Theweleit ein, womit sich bis heute auch im Sinne des Feminismus beschäftigt wird: Männlichkeit und die Pathogenese des Subjekts.
Dem Marxismus fremd
Wem der Marxismus und die Philosophie als Wissenschaft nicht gänzlich fremd sind, dem entging bei diesem kurzen Abriss des neuen linken Feminismus nicht, dass dieser auf Begriffen und Konzepten basiert, die außerhalb der Philosophie liegen. Tatsächlich etablierten die Sozialwissenschaften das Patriarchat als feministische Kategorie. Im Marxismus und der feministischen Theorie, die aus der Philosophie stammen, blieb die Patriarchatstheorie fremd und unbestimmt. Zwar verwendeten Friedrich Engels, August Bebel und Alexandra Kollontai den Begriff Patriarchat als Bezeichnung für das Vaterrecht, das in Stammesgesellschaften gegolten habe, aber ihre Verwendung unterscheidet sich wesentlich von der zeitgenössischen Patriarchatstheorie. In ihren Abhandlungen zur Situation der Frau widmen sich die sozialistischen Wissenschaftlerinnen einer ausgiebigen historischen Untersuchung der Organisation von Familie. Dabei stoßen sie auf die patriarchale Familienstruktur, in der der Mann und seine Söhne als Vorsteher der Familie fungieren. Mit der Untersuchung der Familie gelangen sie zu den unterschiedlichen Formen der Organisation der Arbeit im Laufe der Jahrhunderte. Marx und Engels schreiben von einer naturwüchsigen Arbeitsteilung und der davon abgeleiteten Teilung der Arbeit unter den Geschlechtern. Bei diesen Abhandlungen wird die Unterdrückung der Frau vor allem im Privaten, in der Familie und der durch sie geregelten Erbfolge vermutet. Der Patriarchatsbegriff beschreibt in diesen Erklärungsansätzen einen Istzustand und gilt nicht als Ursache der Unterdrückung der Frau, er dient zur Beschreibung einer bestimmten Familienordnung, die die Eigentumsverhältnisse zuungunsten der Frau regelt. Auch in diesen Ansätzen wird die Stellung der Frau in Gesellschaft und Familie durch ihre natürliche Konstitution bestimmt.
Obwohl der verwendete Patriarchatsbegriff von Marx, Engels, Bebel und Kollontai sich wesentlich von der Patriarchatstheorie unterscheidet, ist diese mittlerweile auch für dezidiert marxistische Gruppierungen nicht mehr wegzudenken. Dass sie sich nur in Abkehr vom Marxismus im Feminismus durchsetzen konnte, wird dabei nicht berücksichtigt. Dass sie Ausdruck der Kapitulation feministischer Theoretikerinnen ist, die Frauenunterdrückung zu erklären, findet ebenfalls keine Beachtung. Dass sie theoretische und praktische Probleme im feministischen Kampf nach sich zieht, interessiert kaum.
Die Patriarchatstheorie beschreibt einen Istzustand, die Vorherrschaft der Männer gegenüber den Frauen. Darin ist weder die Überwindung der Vorherrschaft der Männer enthalten noch angelegt, die eigene Unterdrückung aufzuheben. Denn was würde es bedeuten, das Patriarchat zu stürzen? In der »Me too«-Bewegung bekamen wir einen Vorgeschmack auf den feministischen Kampf, der sich gegen das Patriarchat richtet: Obwohl die Männer namentlich bekannt waren, wurden nur wenige belangt, die viel beschriebene patriarchale Ordnung Hollywoods erholte sich zu schnell und wurde weder wesentlich umstrukturiert noch gestürzt.
Die Patriarchatstheorie gleicht einem Poltergeist, dessen Anwesenheit immer dann imaginiert wird, wenn das Phänomen der Frauenunterdrückung erscheint, das nicht anders erklärt werden kann oder soll. Und darin liegt der eigentliche Grund ihrer Popularität: Es mangelt an einer theoretischen, marxistischen Erklärung für die Frauenunterdrückung. Ihre Suche wurde schon vor einigen Jahrzehnten aufgegeben.
Trotzdem sollte man sich nicht mit fadenscheinigen Begründungen zufriedenstellen und zumindest an dem Anspruch festhalten, die Suche nach der theoretischen Ursache nicht aufzugeben und den Erklärungszusammenhang nicht durch eine einfache Diagnose zu ersetzen.
Theoretischer Mischmasch
Bei der Lektüre populärer marxistisch–feministischer Theorie fällt auf, dass sich die Herangehensweise der Theoretikerinnen ähnelt: Sie suchen in den Texten von Marx und Engels die Antwort auf ihre Frage, finden darin keinen ausgearbeiteten Erklärungsansatz, woraufhin sie dem Marxismus eine Lücke hinsichtlich der Frauenfrage attestieren. Diese Lücke gilt es nun für sie zu schließen. Dabei fokussieren sie sich auf konkrete Erscheinungsformen der Unterdrückung der Frau, welche sie mit marxistischen Kategorien zu erklären versuchen.
Auf diese Weise entstehen einige ökonomische Erklärungsansätze für die Frauenunterdrückung. Kritisiert werden diese, weil die ideologische Ebene, die Ursache der konkreten ökonomischen Ausbeutung der Frauen, in diesen Theorieansätzen nicht abgebildet wird. Es kommt zum Bruch zwischen ökonomischen (vermeintlich marxistischen) und übergeordneten politischen Erklärungsansätzen des neuen linken Feminismus. Die Patriarchatstheorie verbreitet sich als angenommene Ursache der Frauenunterdrückung. Ein Umstand, der sich nun auch auf marxistische Kreise ausweitet: Es existieren Einsichten in die konkrete Erscheinung der Frauenunterdrückung, die im ökonomischen Verhältnis verortet werden können. Die theoretische Einsicht, die eine Überwindung der Unterdrückung nach sich ziehen könnte und die die bisherige Ordnung in ihren Grundfesten erschüttern würde, sucht man aber vergeblich. Statt dessen entstehen Mischformen: Einerseits existiere die ökonomische Ausbeutung der Frauen durch den Kapitalismus, andererseits die Unterdrückung der Frauen aufgrund ihres Geschlechts durch das Patriarchat. Die doppelte Ausbeutung durch Kapital und Patriarchat hält sich hartnäckig als Vorstellung in den Köpfen und beweist den Siegeszug der Patriarchatstheorie.
Mit dem Patriarchatsbegriff eng verbunden ist der von den feministischen Organisationen hochgehaltene Anspruch der Intersektionalität. Erst durch die Auffassung, es existiere eine geschlechtsspezifische Unterdrückung durch das Patriarchat, wurde die kapitalistische Ausbeutung als Ursprung aller Unterdrückungsformen abgelöst. Ebenso erhielt die rassistische Unterdrückung einen eigenen Platz, der ebenfalls nicht mehr aus der Produktionsweise abgeleitet wurde. Damit sind die Sozialwissenschaftler für den Rückschritt der linken Theoriebildung verantwortlich.
Auch in der politischen Praxis zieht die Auffassung gleichzeitiger, unbestimmter Unterdrückungsformen etliche Probleme nach sich. Die revolutionäre Notwendigkeit wird bis zur Unkenntlichkeit abgeschwächt. Die Überwindung der kapitalistischen Gesellschaftsordnung muss Diskussionen über Teilhabe an der bestehenden Ordnung und Diversitätskampagnen weichen. Die Suche nach der Wahrheit, der Wahrheitsbegriff überhaupt, wird durch »Perspektiven« und »Betroffenheit« ersetzt. Dieser bürgerlichen Anwandlung wird lediglich der Intersektionalitätsanspruch entgegengesetzt. Er soll vereinen, was vorher fälschlicherweise getrennt wurde. Ähnlich wie das Patriarchat soll nun die Intersektionalität ein einigendes Moment unter den Betroffenen schaffen und die Radikalität der eigenen Position zurückholen. Ein selbst geschaffenes Problem, denn sowohl die rassistische Ausbeutung als auch die Misogynie lassen sich im marxistischen Denksystem nachvollziehen, ihre Überwindung ist im Marxismus angelegt. Es bedarf also keines Anspruchs, diese Unterdrückungserscheinungen zusammenzudenken, denn sie stehen im Zusammenhang mit der zugrundeliegenden Produktionsweise und der herrschenden Ideologie. Die Fehlschlüsse resultieren aus der zeitgenössischen Betrachtungsweise von Phänomenen. Denn was all diese Erklärungsansätze eint, ist, dass sie auf der konkreten Ebene verharren. Die Betroffenheit, die Unterdrückungsform selbst, wird Gegenstand des politischen Denkens. Die davon abgeleitete Praxis reagiert lediglich auf die herrschende Betroffenheit und ringt nach Worten, um diese zu benennen. Auf diese Weise entstehen Wortungetüme wie »Klassismus«, die eine der vielen »Betroffenheiten« der Menschen bezeichnen sollen.
Unterdrückung ohne Ursache
Aber auch weniger ahnungslose marxistisch-feministische Theoretikerinnen hantieren lediglich mit marxistischen Kategorien, als wären diese nur die Farbe, mit der sie ihrer Theorie einen roten Anstrich geben möchten. Bei Lise Vogel, einer Sozialwissenschaftlerin aus den USA, auf die sich marxistische Organisationen positiv beziehen, bleibt die Frage nach der Ursache der Frauenunterdrückung ungeklärt. Statt dessen führt sie die Gebärfähigkeit der Frauen als Grund für ihre Unterdrückung in der kapitalistischen Ordnung an. Aufgrund dieser körperlichen Eigenschaft seien sie aus der Sicht der Kapitalisten dafür verantwortlich, neue Arbeitskräfte zu produzieren. Um dies zu kontrollieren, herrsche ein frauenverachtendes System oder würde zumindest aufrechterhalten werden. Aus dem Widerspruch des Kapitalinteresses, einerseits immer mehr Arbeit in den Produktionsprozess eingliedern und andererseits mit Effizienzsteigerung durch Produktivkraftentwicklung möglichst viel Arbeit einsparen zu wollen, leitet Vogel die besondere Situation der Frauen her, die aufgrund ihrer Gebärfähigkeit einerseits als Quelle neuer Arbeitskräfte fungieren, andererseits durch die Phase der Schwangerschaft und Geburt nur mit Einschränkungen in den Arbeitsprozess eingegliedert werden können. Dieser Widerspruch werde so gelöst, dass die kurze, eingeschränkte Phase der Schwangeren auf eine generelle Form der geschlechtlichen Arbeitsteilung in Form der Familie übertragen werde, in der der Frau der Bereich der Reproduktion und dem Mann die Ernährung der Familie durch Lohnarbeit zugesprochen werde. Diese Trennung der Sphären sei folglich ein Produkt der kapitalistischen Produktionsweise, dass also die Reproduktion innerhalb der Familie zu Lasten der Frauen organisiert wird, läge an der herrschenden Klasse (und der Gebärfähigkeit der Frauen), die aufgrund ihres Interessenkonflikts die allgemeine Unterdrückung der Frau aufrechterhalte. Vogel fokussiert sich in ihrer Analyse auf die konkrete Erscheinung und eine, wenn auch unzureichende, ökonomische Begründung. Sie selbst gibt die Suche nach einer theoretischen Ursache für die Frauenunterdrückung auf und verweist statt dessen auf die historische Dimension der Verachtung von Frauen. Hier taucht sie nun wieder auf: die Frauenunterdrückung in der Geschichte der Menschheit, die nicht begründet ist, aber trotzdem existiert. Dies folgt auch bei Vogel aus dem zugrunde liegenden Problem, dass auch sie den Marxismus nicht als Denksystem verstanden hat.
Aber der Marxismus ist eine Weltanschauung. Die Konstitution des Menschen, der Natur und der Welt und der Zugang des Menschen zur Welt wurden von Marx und Engels expliziert. Es handelt sich folglich nicht einfach nur um eine Kritik am Kapitalismus. Der Marxismus ist vielmehr darauf ausgerichtet, die Freiheit des Menschen zu verwirklichen, also alle Verhältnisse abzuschaffen, in denen »der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen« ist. Ein erniedrigtes, geknechtetes Wesen, das beschreibt die Situation der Frau. Im Marxismus ist die Befreiung des Menschen, folglich auch die Befreiung der Frau, angelegt.
Reicht es dann, Marxistin zu sein? Ja und nein. Der Marxismus als Weltanschauung beinhaltet die Verwirklichung des Humanismus, gleichzeitig aber kursieren sozialwissenschaftliche, antikapitalistische, linksradikale Auslegungen des Marxismus, die den Marxismus als Denksystem nicht in Gänze erfassen. Es reicht also nur dann, Marxistin zu sein, wenn man sich bewusst wird, dass der Marxismus keine politische Theorie ist, die man anwendet oder nicht anwendet, je nach Laune oder Nutzen, sondern eine Weltanschauung, die einen Zugang zur Welt darstellt, der uns den Kampf zur Befreiung des Menschen erst ermöglicht. Diese Weltanschauung ist mit der Patriarchatstheorie und anderen sozialwissenschaftlichen Verrenkungen nicht kompatibel und auch nicht auf sie angewiesen.
Doch was ist dann die Ursache der Frauenunterdrückung, wenn nicht das Patriarchat? Und wie kann das Subjekt des Feminismus geeint werden? Die Frage nach dem Subjekt der Frau erscheint nur dann als dringlich, wenn von konkreten Frauen und ihrer unmittelbaren Lebenssituation ausgegangen wird. Wird von der konkreten Frau abstrahiert, lässt sich die Frau in ihrem Wesen als Kategorie erfassen, als gesellschaftliches Phänomen. Diese Kategorie ist bestimmt, die Bestimmungen der Frau sind negativ im Sinne des Menschenbilds, welches Marx und Engels als frei konstituieren.
Mehr Natur als Mensch
Die Freiheit des Menschen basiert im Marxismus auf der gegenständlichen Tätigkeit. Sie bestimmt den Menschen als Gattungswesen, durch sie vermittelt der Mensch zwischen sich und der Natur. Auf diese Weise lösen Marx und Engels den Widerspruch zwischen Mensch und Natur auf. Einerseits ist der Mensch als Naturwesen Teil der Natur, andererseits ist er durch die Fähigkeit zur Tätigkeit der Natur, der äußeren, als auch seiner eigenen, nicht ausgeliefert. Durch seine Arbeit mit und an der Natur ändert er die Welt und sich selbst. Das unterscheidet den Menschen vom Tier.
Bei den herrschenden Bestimmungen der Frau allerdings löst sich der Widerspruch nicht auf. Weil die Frau insbesondere durch ihre biologische Konstitution bestimmt wird, enthält die Kategorie Frau neben ihrer menschlichen auch ihre natürliche Bestimmung. Die Wesensbestimmung der Frau ist ihre Natur, von der andere Bestimmungen abgeleitet werden. Ihre Gebärfähigkeit, der einzige wesentliche biologische Unterschied zum Körper des Mannes, zieht die Zuschreibung als Mutter und Fürsorgende nach sich und setzt die Frau als Natur fortlaufend als das Andere zum Mann, der als Mensch und damit als das andere zur Natur gedacht wird. Die Minderwertigkeit ihres Menschenstatus ist bereits in der Kategorie angelegt, aber verwirklicht sich dadurch, dass sich die Frau tatsächlich nicht als Subjekt und Mensch in der Welt setzen kann. In der Zuschreibung als Frau ist aufgrund der kategorialen Konzeption immer das entmenschlichende Moment enthalten, weil die Frau als Frau wesentlich mehr Natur ist, als dass sie Mensch ist. Folglich ist die Frau kategorisch unfrei. Um die Frau von ihrer immanenten Natürlichkeit zu befreien, muss die Kategorie Frau in die Kategorie Mensch aufgehoben werden. Auf diese Weise gelangt die Frau zu ihrem Menschenstatus und zu einem freien, tätigen, selbstbestimmten Leben. Ihre Natur wird dann wie bei allen anderen Menschen ihrem Tätigsein untergeordnet und ist nicht mehr wesensbestimmend. Die theoretische Ursache der Frauenunterdrückung liegt in der Bestimmung der Frau als Frau. In der Menschwerdung der Frau liegt ihre Freiheit.
Günseli Yilmaz schrieb an dieser Stelle zuletzt am 24. Januar 2024 über die AfD und den Rassismus der Mehrheitsgesellschaft in Deutschland: »Bleiben und kämpfen«
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Leserbrief von Onlineabonnent/in Joachim S. aus Berlin (20. März 2025 um 08:27 Uhr)Es ist sehr wichtig, dass und wie sich Günseli Yilmas mit den theoretischen Grundlagen des Feminismus auseinandersetzt. Ein Aspekt bleibt allerdings leider unterbelichtet. Dass nämlich die Bourgeoisie genau diese Frage sehr gekonnt dazu nutzt, um die sozialen Auseinandersetzungen zu spalten. Außerordentlich viel Kraft wird darauf konzentriert, einen angeblich erforderlichen Kampf Frau gegen Mann und Mann gegen Frau zu führen. Dass genau diese Kraft dann fehlt, um gleiche Rechte für alle zu erstreiten, ist dem Kapital nur recht. So bleiben die Grundfesten einer auf sozialer Ungleichheit beruhenden Ordnung außen vor. Teile und herrsche – wie wundervoll das doch funktioniert, wenn man vom Grundsätzlichen, Verbindenden ablenkt und es versteht, jeden gegen jeden kämpfen zu lassen. Ohne dass die Kämpfenden verstehen lernen, dass sie für die gewünschten Veränderungen in diese Verhältnisse, das Eigentum an den Produktionsmitteln, eingreifen müssen.
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